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Das Kastensystem ist der Kern des Problems

Hindufundamentalistische Gruppen verfolgen weiterhin gewaltsam die christliche Minderheit

Von Patrick Widera *

Im ostindischen Bundesstaat Orissa hält die Welle der Gewalt gegen die christliche Minderheit an. Um den internationalen Druck auf die indische Regierung zu erhöhen, war Bischof Sarat Chandra Nayak in Deutschland, um politische Entscheidungsträger über die Lage zu informieren.

Chandra Nayak ist ein vehementer Kritiker des indischen Kastensystems: »Seit der Verabschiedung der Verfassung des unabhängigen Indien im Jahr 1948 gilt das Kastensystem offiziell für das politisch-soziale Leben als abgeschafft. Trotzdem besteht es als Gesellschaftsform weiter, da die Idee einer streng hierarchischen und exklusiven Teilung der Gesellschaft tief mit der Tradition des Hinduismus verbunden ist«, erklärte der Bischof der Diözese Berhampur (Unionsstaat Orissa) das Problem.

Für viele Dalits, die »unberührbaren« Nachfahren der indischen ureinwohner, ist mit der Entwicklung Indiens in den letzten zwei Jahrzehnten der soziale und ökonomische Aufstieg zur greifbaren Realität geworden. »Einen wichtigen Beitrag dazu haben die christlichen Organisationen im Lande geleistet, indem sie in jahrzehntelanger Kleinarbeit eine Vielzahl lokaler Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen aufgebaut haben«, erzählte Bischof Nayak bei einem Hintergrundgespräch vergangene Woche in Berlin.

Da den Dalits traditionell der soziale Aufstieg im Rahmen des Kastensystems verweigert wird, ist ein Übertritt zum christlichen Glauben für sie oftmals die einzige Möglichkeit, an Bildung und medizinischer Versorgung gleichberechtigt teilzuhaben. So konnte auch Bischof Nayak als gebürtiger Dalit erst durch die Konvertierung zum Christentum die Schranken des Kastensystems durchbrechen.

Der Aufstieg der Dalits, die fast ein Viertel der indischen Bevölkerung ausmachen, setzt das traditionelle Gefüge zunehmend unter Druck. In verschiedenen Bereichen der Gesellschaft begehren die Dalits auf und fordern ihre verfassungsmäßigen Rechte. »Es war das Monopol der Kastenangehörigen, kleine Geschäfte zu eröffnen. Dieses Monopol wird jetzt durch die Dalits durchbrochen, was leider die hinduistischen Geschäftsleute sehr verärgert.«

Um die Rechte der Dalits auch durchzusetzen, hat die Bahujan Samaj Party (BSP), eine traditionell den Dalits nahe stehende Partei, sich politisch neu aufgestellt und setzt auf eine landesweite Formierung der Dalits, die sich nicht an der Religionszugehörigkeit, sondern am gleichen sozialen Status orientiert. »In den Regionen, wie etwa in Maharashtra und Karnataka, wo die Dalits eine Mehrheit in der Bevölkerung stellen, konnte sich die BSP bei den Wahlen durchsetzen.« Mit weitreichenden Folgen, wie der Bischof ausführte. Durch die Erfolge der BSP alarmiert, versuchen die etablierten Parteien, die Dalit-Bewegung anhand der religiösen Differenzierung wieder zu entzweien. So werden den Dalits mit hinduistischem Glauben staatliche Unterstützungsleistungen gewährt, während denen mit christlicher Konfession die Teilhabe daran verweigert wird.

Zusätzlich konnte die hindufundamentalistische Bewegung um die Bharatiya Janata Party (BJP) in den letzten Jahren verstärkt Zuspruch unter den Angehörigen der mittleren und unteren Kasten gewinnen, indem sie die christlichen Dalits und die katholische Kirche beschuldigt, gewaltsam Hindus zum Christentum zu bekehren. Dabei berufen sich die Hindufundamentalisten auf eine quasi-faschistische Ideologie, die sich in dem Wahlspruch »Ein Land, eine Religion, eine Kultur« manifestiert. Walter Hahn von der »Dalit-Solidarität in Deutschland« meinte dazu: »Die Hindufundamentalisten kreieren eine Identität, die auf der Ebene des Hinduismus ansetzt, aber sie haben keine eigentlich religiösen Inhalte in ihre Parteipolitik eingebaut.« Ziel der Bewegung sei die Nivellierung der sozialen Spaltungen und Widersprüche der modernen indischen Gesellschaft, indem eine allgemeine Gleichheit aller Hindus propagiert wird, die die wahren Einwohner Indiens seien. Dabei haben sie ein Netz aus Organisationen über die gesamte Gesellschaft gespannt, die den Einfluss der christlichen Organisationen im Land zurückdrängen sollen.

Dass sie sich dabei auch der Gewalt bemächtigen, um ihren Traum eines rein hinduistischen Indiens durchzusetzen, zeigen die verheerenden Ausschreitungen der vergangenen Wochen. Der Versuch der katholischen Kirche, einen Dialog mit den hindufundamentalistischen Gruppen aufzunehmen, um sie zu einem sofortigen Gewaltverzicht zu bewegen, scheiterte kürzlich. Die Gruppen um die BJP verweigerten die Unterschrift unter das fertig ausgearbeitete Einigungsprotokoll.

Um dieser Bedrohung der säkularen Gesellschaftsordnung entgegenzuwirken, geht die BSP zunehmend Bündnisse mit der Kongress-Partei ein. Ob es dem Bündnis gelingen wird, ein Verhältnis- statt des üblichen Mehrheitswahlrechts durchzusetzen, um die Macht der BJP zu begrenzen, bleibt derweil offen. Auch Bischof Nayak hat Zweifel, ob sich dieser mutige Schritt verwirklichen lässt. Seine Aufgabe für die kommende Zeit wird eine andere sein. »Viel schwerer als die Zerstörung von Gegenständen wirkt der Verlust von Vertrauen zwischen den Menschen. Dieses wieder aufzubauen, ist das oberste Gebot der Stunde. Es wird aber unter den gegebenen Bedingungen eine langwierige und sehr schwierige Aufgabe sein.«

* Aus: Neues Deutschland, 7. Oktober 2008


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