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Mikrokredite: Selbstmorde von Darlehensnehmern in Indien bringen Erfolgsmodell in Verruf, das bislang als Alternative zu dubiosen Geldverleihern galt

Von Thomas Berger *

Nationale und multinationale Banken in Indien wollen den in die Klemme geratenen Mikrokreditfirmen finanziell unter die Arme greifen. Das haben die State Bank of India, Standard Chartered und der US-Finanzkonzern Citi Group in der vergangenen Woche angekündigt. Damit wirft sich ein guter Teil des indischen Bankensystems in die Bresche, nachdem einige der Kreditgeber in den vergangenen Wochen vor allem im südöstlichen Bundesstaat Andhra Pradesh mit massiven Rückzahlungsausfällen zu kämpfen hatten. Nachdem staatliche Stellen und lokale Politiker den Firmen die Schuld an diversen Selbstmorden von Kreditnehmern gegeben hatten, war das sonst als so erfolgreich gepriesene System in die Negativschlagzeilen geraten. Das Geschäftsmodell stand plötzlich zur Disposition.

Als Mikrokredite werden in der Regel kleine und Kleinstdarlehen bezeichnet. Es handelt sich hierbei um Größenordnungen, die für normale Geschäftsbanken eher uninteressant sind. Sie werden vor allem im ländlichen Raum sowie in den Slums der Großstädte und Metropolen überwiegend an Frauen vergeben. Das Modell hat dabei im zurückliegenden Jahrzehnt von Südasien ausgehend einen Triumphzug rund um den Erdball angetreten, galt es doch als tauglich, den Allerärmsten eine eigenständige wirtschaftliche Existenz zu ermöglichen. Was zunächst in Bangladesch und Indien erfolgreich praktiziert wurde, findet sich heute in ähnlicher Weise auch in den Staaten Afrikas und Lateinamerikas. Der Vorteil liegt auf der Hand: Schon mit Darlehen in Höhe von umgerechnet 100 bis 300 Euro haben sich viele Frauen ein kleines Geschäft aufbauen oder sich Anschaffungen wie eine Nähmaschine etc. leisten können. Die Kreditvergabe galt für die Darlehensgeber als sicher hinsichtlich der Rückzahlungen und als ein wichtiges Mittel, Selbstbewußtsein und finanzielle Unabhängigkeit von Frauen zu stärken.

Der Erfolg ist beachtlich. Inzwischen hat sich auf dem indischen Subkontinent eine ganze Industrie in diesem Sektor entwickelt. Allein binnen der zurückliegenden drei Jahre hat sich das Finanzvolumen der Mikrokreditbranche verfünffacht, ist von weniger als 50 Milliarden Rupien 2007 auf aktuell fast 250 Milliarden (4,2 Milliarden Euro) angestiegen. Waren es seinerzeit rund 7,5 Millionen Kreditnehmer, sind es heute mehr als 26 Millionen. Etwa 30 Prozent der Darlehen entfallen allein auf Andhra Pradesh, und in der Regionalhauptstadt Hyderabad sitzen einige der größten Mikrokreditfirmen im internationalen Maßstab, darunter SKS Microfinance, Basix, Share Microfin und Sphoorty Financial. SKS hat kürzlich Aktien im Wert von umgerechnet 350 Millionen US-Dollar an die indische Börse gebracht.

Das enorme Wachstum der Branche hat allerdings auch mit zu den jetzt aufgetretenen Problemen beigetragen. Nicht mehr allein die Hilfe steht im Vordergrund, sondern ein immenser Wettbewerb um die Kreditkunden hat eingesetzt. Übliche Vorsichtsmaßregeln, wie sie bislang gerade bei den Mikrokrediten üblich waren, werden dabei über Bord geworfen, Regularien weiter als sonst ausgelegt. Dies ging soweit, daß in einigen bekannt gewordenen Fällen desselben Person gleich mehrere Darlehen gewährt wurden. Solche Praktiken führen notgedrungen dazu, daß die ansonsten fast makellose Rückzahlungsbilanz schnell getrübt wurde.

Was die 70 Selbstmorde Ende Oktober/Anfang November im Bundesstaat ausgelöst haben, muß erst noch geklärt werden. Bislang werden die Mikrokreditgeber verdächtigt. Sicher ist nur, daß sich die Opfer der Suizidwelle aufgrund extremer Finanzprobleme das Leben nahmen. Manche Hinterbliebenen haben bereits zu Protokoll gegeben, daß es im Falle ihrer Angehörigen nicht um diese geringen Summen ging, sondern um nebenher laufende Verpflichtungen gegenüber privaten Geldverleihern. Diese Kredithaie verlangen nicht selten mehr als 200 Prozent Zinsen, was die Darlehensnehmer schnell in eine Schuldenfalle treibt, aus der es kaum ein Entrinnen gibt. Aber gerade in diesem Zusammenhang galten gerade die Mikrokredite zu besseren Konditionen als Alternative. Inzwischen lassen sich auch einige der großen Firmen das Ausreichen des Geldes mit 25 bis 100 Prozent Verzinsung mehr als gut bezahlen. Das wird unabhängig von allen anderen Vorwürfen derzeit durchaus berechtigt kritisiert.

Ein erster Erfolg des öffentlichen Drucks besteht darin, daß jetzt über eine Kappung der Zinsobergrenze bei 24 Prozent nachgedacht wird. Die Verleiher sind bemüht, weiteren Schaden abzuwenden, und zeigen sich grundsätzlich zu Zugeständnissen und einer Überprüfung bisheriger Geschäftspraktiken bereit. Auch ein Sonderfonds, um in Not geratenen Kreditnehmern mit einer Umschuldung zu helfen, soll gegründet werden. Dabei wollen die bisher rivalisierenden Firmen erstmals zusammenarbeiten. Ob solche Ankündigungen ausreichen, das angekratzte Image wieder herzustellen, muß sich erst zeigen. Manche Frauengruppen werden womöglich auf Kreditgeber von außen verzichten und wieder zur Selbsthilfe zurückkehren, also Minidarlehen nur aus dem Aufkommen der eigenen Mitglieder ausreichen. Es dauert dann zwar länger, bis jede Interessentin ihr Geld erhalten kann, aber alles bleibt übersichtlich und eine pünktliche Rückzahlung in der Regel kein Problem.

* Aus: junge Welt, 12. November 2010

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