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"Das andere Gesicht, das nicht strahlt ..."

Indiens Regierung will nicht von Rezession reden – Unternehmerverbände hingegen schon

Von Hilmar König, Delhi *

Auf dem »Express Highway« der Nationalstraße NH-8 zwischen Gurgaon und Delhi, strömt dichter Feierabendverkehr. Links das riesige Gelände des Internationalen Indira Gandhi Airports, ein Symbol der indischen Wirtschaftskraft. Rechts die übervölkerte Stadtrandsiedlung Mahipalpur, der eine riesige Straßenbrücke der NH-8 vor die Nase gebaut wurde. Kurz hinter der Brücke stockt der Verkehr und kommt zum Stillstand. Die Polizei hat die Fahrbahnen gesperrt. »Das wird ein paar Minuten dauern«, lautet die Auskunft, »ein VIP, ein ausländischer Präsident, wird hier gleich vom Flughafen mit seinem Fahrzeugkonvoi einbiegen.« Motorradfahrer nehmen ihre Helme ab, Autofahrer steigen aus. Sie kennen das »Spielchen«, das nicht ein paar Minuten, sondern etwa eine halbe Stunde dauern wird.

Während sich ein kilometerlanger Stau aufbaut, kommt es zwischen den Fahrzeughaltern zu einem angeregten Meinungsaustausch. An diesem Morgen haben die Zeitungen den jüngsten statistischen Bericht veröffentlicht, laut dem die Inflationsrate auf 8,9 Prozent gesunken ist. »Auf dem Markt merkt man davon nichts«, sagt Sunil Kumar, der in Gurgaon in einem Elektronikladen arbeitet. Die Umstehenden stimmen zu: Die Preise für Gemüse und Obst, für Weizen, Reis, Hirse und Zwiebeln wurden nicht gesenkt, sondern sogar erhöht. Ajay Singh klopft auf den Tank seiner »Hero Honda« und verweist auf die nach wie vor hohen Benzinpreise. Sie waren im Sommer um fünf Rupien gestiegen, als der Preis pro Barrel Erdöl über 120 Dollar lag. Inzwischen sind die Preise um rund die Hälfte gefallen, aber der Kraftstoff ist so teuer wie zuvor. Zweifel werden laut, ob die Regierung, wie sie immer wieder verkündet, die Auswirkungen der globalen Finanzkrise und des wirtschaftlichen Abschwungs auf Indiens »Otto Normalverbraucher« tatsächlich gering halten kann.

25 Minuten sind vorüber, ebenso der Konvoi mit dem ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak. Die Verkehrspolizei signalisiert, dass sie jeden Augenblick wieder freie Fahrt geben wird. Und dann setzt sich die Fahrzeugkolonne Richtung City wieder in Bewegung.

An den folgenden Tagen kommen aus Regierungskreisen, von Wirtschaftskapitänen und der Bevölkerung widersprüchliche Ansichten. Finanzminister Palaniappam Chidambaram, nach der Mumbai-Tragödie zum Chef des Innenministeriums ernannt, nutzte jede Gelegenheit zu optimistischen Prognosen. Die Wachstumsraten würden sich zwar im nächsten Jahr nur noch zwischen sieben und acht Prozent einpegeln, aber das sei immer noch das zweitbeste Ergebnis in der Welt. Es beweise, wie »gesund und robust« Indiens Wirtschaft sei. Von Rezession könne keine Rede sein, so Chidambaram. Premier Manmohan Singh stieß ins gleiche Horn: Indien werde diese Krise nicht nur überleben, sondern stärker aus ihr hervorgehen. Man arbeite gemeinsam mit der Reserve Bank of India an einem »Stimulus-Paket« mit fiskalischen und monetären Maßnahmen sowie staatliche Investitionen.

Unternehmerverbände sehen die Lage allerdings weniger rosig und nennen als Beleg einen Bericht des Finanzministeriums, der die Katze noch nicht ganz aus dem Sack lässt, aber immerhin von »moderaten Auswirkungen« der Krise auf viele indische Wirtschaftsbereiche spricht. Darunter die Fertigungsindustrie, Bau- und Hotelgewerbe, Banken, Versicherungen, Export und Transport, Dienstleistungen und Immobilien. Ihre Repräsentanten lehnten einen Vorschlag von Minister Chidambaram ab, Preissenkungen vorzunehmen, um Nachfrage, Konsum und Wirtschaft anzukurbeln.

Tata Motors, Teil eines der größten indischen Wirtschaftskonglomerate, schloss im November sein Werk in Jamshedpur zweimal für mehrere Tage, angeblich wegen Finanzknappheit und hoher Zinsen. Die Exporter-Föderation, der zahlreiche Kleinst-, Klein- und mittelständische Betriebe angehören, schlug bereits Alarm. Viele Banken seien nicht bereit, Kredite zu gewähren. Deshalb drängt die Föderation auf ein staatliches Hilfsprogramm nach EU-Beispiel. In den Betrieben, die zum »nicht organisierten Sektor« gehören, in dem bestenfalls Minimallöhne gezahlt und Arbeitsgesetze selten respektiert werden, sind 93 Prozent der indischen Arbeitskräfte beschäftigt. Ein Einbruch würde hier Millionen Arbeitsplätzen gefährden.

Darauf verweisen die beiden kommunistischen Parteien. Sie verlangen »radikale Maßnahmen«, um den Binnenmarkt zu erweitern und die Kaufkraft zu erhöhen. Dazu wären vor allem Schritte in den ländlichen Gebieten erforderlich. So müsste etwa das Nationalprogramm, das eine Beschäftigungsgarantie in diesen Gebieten beinhaltet, stärker gefördert werden.

Auch die stärkste Oppositionskraft, die Indische Volkspartei, kritisiert die Optimismusmasche. Parteivorsitzender Lal Krishna Advani erklärte, die Lage sei viel Besorgnis erregender als von der Regierung dargestellt. Hunderttausende hätten bereits ihren Job verloren und noch viel mehr Menschen drohe ein gleiches Schicksal.

Ähnlich die Warnungen von Rajat M. Nag, Generaldirektor der Asiatischen Entwicklungsbank, der auf dem indischen Wirtschaftsgipfel daran erinnerte, dass ein Prozent weniger Wachstum in einem asiatischen Land das Heer der Armen um 25 Millionen anwachsen lassen könnte. Die Gruppe derer, die von nur einem Dollar am Tag leben, so Nag, »könnte unter das niedrigste Existenzminimum rutschen. Vergessen Sie das andere Gesicht Asiens und Indiens nicht, das vorher nicht strahlte und auch jetzt nicht strahlt.«

* Hilmar König ist ND-Korrespondent in Indien.

Aus: Neues Deutschland, 6. Dezember 2008



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