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Manipurs "Eiserne Lady"

Indische Aktivistin Irom Sharmila verweigert seit zehn Jahren die Nahrungsaufnahme

Von Ron Augustin *

Seit zehn Jahren zwangsernährt: Die heute 38jährige Irom Sharmila begann am 4. November 2000 einen Hungerstreik, um die Aufhebung des Notstands in Manipur und anderen Staaten im Norden Indiens zu erzwingen. Zwei Tage später wurde sie verhaftet und wegen »versuchten Selbstmords« zur Höchststrafe von einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach Ablauf dieser ersten zwölf Monate wurde sie freigelassen, noch am selben Tag jedoch wieder verhaftet, weil sie sich weigerte, ihren Hungerstreik aufzugeben. Vor wenigen Tagen wurde dieses Ritual zum zehnten Mal wiederholt: Irom Sharmila befindet sich wieder in Totalisolation in einem vom Militär abgesonderten Teil eines Krankenhauses, in dem sie seit nunmehr zehn Jahren über eine Magensonde durch die Nase am Leben gehalten wird.

»Natürlich möchte ich mit meinen eigenen Händen essen und trinken«, sagt sie, »aber bis jetzt habe ich überlebt durch diesen Schlauch in der Nase. Wenn du leben willst, macht es nichts aus, ob du mit deinen eigenen Händen ißt oder zwangsernährt wirst. Daß ich nicht essen oder trinken und nicht sehen kann, was ich sehen möchte, macht alles nichts aus, solange ich weiß, daß ich das richtige tue.«

Entschlossen zu diesem Hungerstreik hatte sie sich nach der Erschießung von zehn Menschen durch eine paramilitärische Einheit am 1. November 2000 in Malom, einer Stadt im indischen Bundesstaat Manipur. Die Verantwortlichen des »Massakers von Malom« wurden nie zur Rechenschaft gezogen, weil in dem Staat wie auch in anderen Teilen Indiens Notstandsgesetze herrschen. Durch den »Armed Forces Special Powers Act« wird den »Sicherheitskräften« seit Ausrufung des Notstands vor 30 Jahren in Manipur freie Hand gelassen, mehr als 10000 Zivilisten wurden seither getötet. Als Journalistin und Aktivistin gehörte Irom Sharmila zu denen, die die Praktiken des Militärs recherchieren, dokumentieren und denunzieren.

Manipur hat eine Bevölkerung von nur 2,5 Millionen Menschen auf einer Fläche von der Größe Hessens. Sie grenzt direkt an das »Goldene Dreieck« Myanmars, eine Region, die reich an Rohstoffen wie Uran, Erdgas und Öl ist. Der Nordosten grenzt außerdem an China, und es gibt Pläne für eine Autobahnstrecke, die eine der wichtigsten Handelsverbindungen zwischen den beiden Wirtschaftsriesen werden würde. Seit Manipur im Oktober 1949 Indien angeschlossen wurde, hat es jedoch Widerstand gegen den Zentralstaat gegeben. Neben gewaltlosen Widerstands- und Menschenrechtsgruppen, operieren allein in Manipur drei größere und etliche kleinere Guerillabewegungen. Die indische Zentralregierung ist deshalb entschlossen, den Notstand aufrechtzuerhalten, um den Widerstand zu brechen. Irom Sharmila, die »Eiserne Lady von Manipur«, scheint genauso entschlossen zu sein, ihren Hungerstreik dagegen fortzusetzen. In ganz Indien ist sie dadurch zu einem Symbol geworden.

* Aus: junge Welt, 6. Dezember 2010


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