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Kampf um preisgünstige Medikamente

Indische Behörden befinden sich wegen Zwangslizenzen im Dauerstreit mit den großen Pharmaherstellern

Von Harald Neuber *

Zum ersten Mal haben die Behörden in Indien die Abgabe eines geltenden Pharmapatents erzwungen. Der Bayer- Konzern klagt jetzt dagegen.

In Indien spitzt sich ein seit Jahren schwelender Patentstreit zwischen transnationalen Pharmakonzernen und den Behörden zu. Nachdem das indische Patentamt den deutschen Pharmariesen Bayer im März zwang, sein Erfinderschutzrecht für das Leber- und Nierenkrebsmedikament Nexavar an den nationalen Hersteller Natco abzugeben, ist die Pharmabranche in Aufruhr. Die Erteilung einer sogenannten Zwangslizenz zugunsten des indischen Generikaherstellers war der bislang aufsehenerregendste Schritt in einer Reihe entsprechender Auseinandersetzungen mit Pharmakonzernen. Das Urteil der Behörde für geistiges Eigentum, die Bayer diese Woche angerufen hat, wird deswegen mit Spannung erwartet.

Das Patentamt hatte die Zwangslizenz für die Herstellung des Nexavar-Wirkstoffs Sorafenib Tosylate mit dem Argument erlassen, dass Bayer die Bedürfnisse des indischen Binnenmarktes nicht hinreichend befriedigt habe. Auch der hohe Preis soll eine Rolle gespielt haben, heißt es. Für Aufsehen sorgte der Fall in erster Linie, weil zum ersten Mal eine Zwangslizenz für ein Pharmazeutikum mit noch gültiger Lizenz vergeben wurde. Vor diesem Hintergrund verpflichtete das Patentamt Natko dazu, sechs Prozent des Verkaufserlöses an Bayer abzuführen.

Eine Ursache für den nun laufenden Prozess ist die grundlegende Neuausrichtung der indischen Pharmabranche. Nach einer weitgehend markliberalen Politik hatten die Behörden zuletzt immer mehr Restriktionen erlassen. Statt der bisher 74 Medikamente wurden für 348 Präparate Höchstpreise festgelegt, berichtete unlängst das »Wall Street Journal«. Auch mit dem US-Hersteller Gilead Science sowie den Schweizer Firmen Roche und Novartis befindet sich Indien noch im Patentstreit.

Für beide Seiten geht es um viel: Das asiatische Schwellenland beherbergt die weltweit größte Generikaindustrie, der Wert des Marktes soll nach Schätzungen von elf Milliarden US-Dollar 2011 auf 74 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020 steigen. Tatsache ist aber auch, dass ohne die preisgünstigen Nachahmerpräparate aus Indien die Gesundheitssysteme der meisten Entwicklungs- und Schwellenländer zusammenbrechen würden. Deutlich zeigt sich das am Beispiel des Nexavar-Patents: Natco bringt das Krebsmedikament nach Expertenangaben für nur drei Prozent des ursprünglichen Preises auf den Markt.

Nichtregierungsorganisationen stehen in der Auseinandersetzung daher auf Seiten Indiens. »Bayers Umgang mit dem Medikament Nexavar ist kein Einzelfall«, sagte Pharmaexperte Philipp Frisch von »Ärzte ohne Grenzen« gegenüber »nd«. Gerade neuere und in Indien patentierte lebensnotwendige Medikamente, so zur Behandlung von HIV/Aids, seien für viele Menschen in armen Ländern unerschwinglich. Zwangslizenzen seien ein von der Staatengemeinschaft anerkanntes Mittel, mit dem der Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten gesichert werden solle, so Frisch. Indien habe in Übereinstimmung mit geltendem Handelsrecht und indischem Recht entschieden: »Bayer sollte diese Entscheidung im Interesse der Patienten anerkennen und den Widerspruch fallen lassen.«

* Aus: neues deutschland, Freitag, 07. September 2012


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