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Indien: Hindu-Nationalisten kommen aus den besseren Kreisen

Gewalt kommt nicht nur aus den Slums - Interessante Hintergrundinformationen

Wenn in den gängigen Zeitungen von religiösen oder ethnischen Unruhen in Indien gesprochen wird, heißt es meist, Slumbewohner, Arme oder der "Mob" sei daran beteiligt und die unerträglichen Verhältnisse in den Elendsquartieren der indischen Großstädte bzw. auf dem unterentwickleten Land seien die Ursache für die Exzesse. Und das sind sogar noch die intelligenteren und gründlicheren Artikel, die man über das Phänomen zunehmender Desintegration in der indischen Gesellschaft finden kann. Viele Zeitungen machen es sich ganz einfach, indem sie alles auf einen Religionskrieg zwischen Hindus und Moslems zurückführen. Der folgende Beitrag - wir haben ihn in der Schweizer Wochenzeitung WoZ gefunden - blickt unter die Oberfläche und entdeckt ganz andere Akteure: Besser situierte Kreise gehören zu den Einpeitschern der Unruhen. Die Hindu-Meute entstammt dem Mittelstand.

Indien: Die HinduistInnen kommen nicht aus den Slums

Per SMS zum Plündern geholt

Joseph Keve, Bombay


... Hiral Trivedi ist eine hübsche Studentin und entstammt einer Familie, die der oberen Mittelschicht in Ahmedabad angehört. Auch Geeta Dantani und Chiniben Choudhary sind wohlhabende junge Frauen, deren Väter in Ahmedabad, der grössten Stadt des indischen Bundesstaates Gujarat, ein Geschäft betreiben.

Was haben diese drei Frauen gemeinsam? Sie sind gebildet, wurden in begüterten Familien erzogen, leben in besseren Vierteln – und wurden nach den Unruhen vom 27. Februar bis 3. März festgenommen. Die Polizei verhaftete die drei Frauen mit 76 weiteren Wohlbetuchten, weil sie mehrere Kaufhäuser geplündert hatten. Die Frauen waren in Autos von einem Laden zum nächsten gefahren, hatten Einkaufstaschen und Kofferräume voll gepackt und ihre FreundInnen per SMS informiert, so dass nach kurzer Zeit eine Autokolonne eintraf, um das Diebesgut zu übernehmen: Klimaanlagen, Fernsehgeräte, Autozubehör. Nicht einmal die Schaufensterdekorationen waren sicher.

Während der Unruhen, die nach dem muslimischen Überfall auf einen mit Hinduisten besetzten Zug in Godhra aufgeflammt waren, hatten die Polizei, die Stadtbehörden und die lokalen PolitikerInnen stets behauptet, Arme und Arbeitslose aus den Slums der Stadt seien für die Plünderungen verantwortlich gewesen. Die Wahrheit kam erst ans Licht, als die Polizei die Bänder der in den Kaufhäusern installierten Überwachungskameras sichtete. Danach fiel es den Ermittlungsbehörden nicht schwer, die MissetäterInnen aufzugreifen: «In den meisten Fällen hatten wir sie schnell identizifiert», berichtete ein Polizeiinspektor, «sie kommen alle aus guten Familien» – Familien also, in denen auch Polizeiinspektoren verkehren. Den Jugendlichen aus der Mittel- und Oberschicht wird auch Brandstiftung vorgeworfen, da sie nach der Plünderung einige Läden angezündet hatten. Gänzlich unbeteiligt waren freilich auch nicht alle Polizisten; manche halfen den Brandstiftern, andere vermöbelten gleich ihre muslimischen Kollegen.

Mittlerweile haben die offiziellen Untersuchungen der Unruhen weitere Tatsachen zutage gefördert. Noch heute behauptet Narendra Modi, Gujarats Chefminister und führendes Mitglied der hinduistisch-nationalistischen Volkspartei BJP, die Übergriffe seien spontan erfolgt und ausschliesslich das Werk der ungebildeten Masse gewesen. Inzwischen steht aber fest, dass der Mob bewaffnet war und Listen dabei hatte, auf denen die muslimischen Häuser, Restaurants und Geschäfte eingetragen waren. «Die Art und Weise, wie sie ihre Ziele identifizierten, zeigt, dass die Aufrührer genau wussten, wer wo lebt und was besitzt», sagt einer der Ermittler. «Es gibt keinerlei Zweifel daran, dass diese Leute am Abend des 27. Februar (dem Tag des Godhra-Massakers, die Redaktion) zusammensassen, Listen erstellten und sich auf den nächsten Tag vorbereiteten.» Ein hoher Polizeibeamter ist sogar der Überzeugung, dass schon vor Monaten ein entsprechender Plan ausgearbeitet wurde und dass Godhra nur einen Anlass für die Unruhen bot, in deren Verlauf rund 700 Menschen getötet wurden. «Je weiter die Ermittlungen reichen, desto klarer wird, dass alles von langer Hand vorbereitet war.» Sicher ist jedenfalls, dass noch nie in der 55-jährigen Geschichte des unabhängigen Indiens die Armen das Privileg hatten, eine EinwohnerInnen-Liste in Händen zu halten. Ihnen standen noch nie Planungsmittel zur Verfügung – für eine eigene Zukunft nicht und für Attacken auf andere schon gar nicht.

Ein Blick auf die Abfolge der politischen Ereignisse stützt die These von der langen Vorbereitung. Im Oktober letzten Jahres hatten sich BJP-Führer in Lucknow, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Uttar Pradesh (UP), und Neu-Delhi getroffen und Pläne für die bevorstehende Parlamentswahl in UP ausgeheckt. Dort standen die Zeichen nicht gut für die Hinduisten. Während Ministerpräsident Atal Behari Vajpayee zur Besonnenheit mahnte, beschlossen die hinduistischen Militanten, Ayodhya zum obersten Wahlkampfthema zu machen. In Ayodhya hatten 1992 fanatische Hindus eine Moschee abgerissen; seither fordern sie dort den Bau eines Tempels, den allerdings Gerichte bisher untersagt haben. Srish Chandra Dixit, ehemaliger Anführer des Welt-Hindu-Rats VHP, stürmte die Barrikaden von Ayodhya und zelebrierte dort unter Missachtung aller Gerichtsbeschlüsse einen dreistündigen Gottesdienst (Puja), ohne dass die anwesenden OrdnungshüterInnen eingegriffen hätten. Seither haben VHP, die chauvinistische Shiv-Sena-Partei von Maharashtra, die hinduistische Kaderorganisation RSS und andere auf zahllosen lokalen und regionalen Kundgebungen das Tempelthema hochgekocht.

Und so arbeiten jetzt hunderte von Handwerkern rund um die Uhr, meisseln Steine und Pfeiler und halten die wichtigsten Bauteile parat für den Tag X, den eine VHP-«Versammlung der Heiligen» im Dezember auf den 15. März festgelegt hatte. Seither reisen tausende von Ram-bhakts, von Freiwilligen, wochenweise nach Ayodhya, um dort bei den Vorbereitungen zu helfen. Während die Fundamentalisten und ihr Safran-Netz die Entwicklung diktierten, schaute die BJP-geführte Koalition in Neu-Delhi weg. In Gujarat hingegen mobilisierte die BJP nach Kräften. «Wo immer nötig, helfen wir dem VHP bei seinem Bemühen, Freiwillige nach Ayodhya zu bringen», sagte Gujarats BJP-Chef Rajendrasinh Rana Mitte Februar. Eine Woche später brannte in Godhra der Zug, in dem heimkehrende Freiwillige sassen.

Ayodhya gleicht mittlerweile einer Festung; die Regierung hat dort 6000 Polizisten und Soldaten zusammengezogen. Diese Truppe dürfte aber kaum genügen, wenn am Freitag – wie erwartet – zigtausende zum Puja strömen und dann mit dem Bau beginnen. Noch verhandelt Regierungschef Vajpayee mit seinen Militanten, da der Tempelbau die Regierungskoalition sprengen könnte. Vielleicht kann noch ein Kompromiss gefunden werden, aber er dürfte kaum von Dauer sein.

Aus: WoZ, 14. März 2002


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