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"Nicht genug Essen für alle"

Jedes dritte unterernährte Kind der Welt lebt in Indien

Von Stefan Mentschel, Delhi *

Wachsender Wohlstand auf der einen Seite, Hunger auf der anderen - trotz guter Wirtschaftsdaten sind mehr als 40 Prozent der indischen Kinder unterernährt. Dabei gäbe es im Land eigentlich genug zu essen für alle.

Die Kleine schreit so laut sie kann. Ein paar Monate ist sie erst alt. Doch sie weiß bereits, dass Hunger weh tut. Zusammen mit den Eltern und ihren fünf Geschwistern ist sie in einem der Elendsviertel von Delhi zu Hause. Vor ein paar Jahren kam die Familie aus ihrem Dorf in die indische Hauptstadt - auf der Suche nach einem besseren Leben. Ausgezahlt hat sich das nicht. Mutter Rani hat keine Arbeit. Vater Papu verdingt sich als Handlanger, hilft auf Baustellen oder beim Be- und Entladen von Lastwagen. Mal verdiene er umgerechnet einen Euro am Tag, mal zwei, selten drei, erzählt er. Von dem Geld kaufe die Familie Mehl, Linsen und Reis, ab und an reiche es auch für ein wenig Gemüse. »Aber eigentlich reicht das Essen nie, damit alle satt werden«, sagt Papu mit einem Achselzucken.

Indien hat sich in den vergangenen Jahren dank beeindruckender Wachstumszahlen zu einer Wirtschaftsmacht entwickelt. Der Wohlstand der Mittelschicht wächst. Doch an vielen Menschen geht der Aufschwung vorbei. Nach Schätzungen der UNO leben noch immer mehr als 400 Millionen Inder unterhalb der Armutsgrenze. Etwa die Hälfte davon hat auch nicht genug zu essen. Besonders hart trifft es die Jüngsten.

Vor ein paar Monaten veröffentlichte die regierungsunabhängige Naandi-Stiftung erstmals eine repräsentative Studie zur Ernährungssituation indischer Kinder. Forscher untersuchten dafür landesweit fast 110 000 Kinder im Alter von unter fünf Jahren. Das schockierende Ergebnis: 42 Prozent davon waren unterernährt, weitere 17 Prozent waren aufgrund von Mangelernährung in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Damit lebt jedes dritte unterernährte Kind der Welt in Indien.

Ein Indikator für den Ernst der Lage sind internationale Nothilfe-Grenzwerte. »Wenn etwa in einer Gegend in Afrika mehr als 15 Prozent der Kinder für ihr Alter und ihre Größe zu wenig wiegen, dann wird sofort eine Nothilfesituation ausgerufen«, weiß Joachim Schwarz, Regionalleiter der Welthungerhilfe. »In Indien ist das nicht so, obwohl dieser Wert etwa in vielen ländlichen Regionen Zentralindiens weit höher liegt. Aber hier in Indien wird das als völlig normal hingenommen. Und das ist schon hart.«

Auch der indische Publizist und Nahrungsexperte Devinder Sharma beklagt die Apathie der Regierung. Premierminister Manmohan Singh nenne die große Zahl der hungernden Kinder zwar seit Veröffentlichung der Studie immer wieder eine »nationale Schande«. Dagegen getan hätten er und seine Regierung bislang jedoch nichts. Dabei gäbe es im Land eigentlich genug zu essen für alle, weiß Sharma. »Wir haben Reis- und Weizenvorräte von 82,4 Millionen Tonnen. Es gibt also keine Veranlassung, die Nahrungsmittelproduktion zu steigern oder diese Lebensmittel zu importieren.« Zudem würden jährlich rund zehn Milliarden Euro in staatliche Programme wie das Public Distribution System gepumpt, um Grundnahrungsmittel an die Millionen Bedürftigen zu verteilen. Korruption und Ineffizienz verhinderten jedoch eine gerechte Verteilung, weshalb viele arme Familien leer ausgingen.

Aber selbst für diejenigen, die staatliche Hilfe erreicht, bleibt die Nahrungssituation oft kritisch. Letztlich gehe es ja nicht nur um die Versorgung mit Kohlehydraten, schließlich seien für eine ausgewogene Ernährung auch Proteine und Vitamine notwendig, sagt Joachim Schwarz. Daran mangele es jedoch häufig, denn bei vielen armen Menschen »kommt tatsächlich nur der Reis aufs Tablett«. So ist es auch bei Papu und seiner Familie im Slum von Delhi.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 04. Dezember 2012


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