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"Es ist ein schleichender Prozess"

Der Historiker Sumit Sarkar warnt vor der anhaltenden Gefahr des Hindunationalismus in Indien

Von Stefan Mentschel*

Die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) wurde vor über einem Jahr aus der Regierungsverantwortung gewählt. Seitdem scheint sie an politischer Bedeutung zu verlieren. Doch die Hindunationalisten verfügen nach wie vor über beträchtlichen Einfluss, wie der Historiker Sumit Sarkar dieser Tage in Berlin verdeutlichte.

Die Gefahren des Hindunationalismus sind nicht gebannt. Dabei hatten zahlreiche Beobachter der Indischen Volkspartei (BJP) nach den Parlamentswahlen im Frühjahr 2004 das politische Ende prognostiziert. Nach sechs Jahren an der Spitze einer fragilen Mehr-Parteien- Koalition war die BJP überraschend zurück auf die Oppositionsbänke verwiesen worden. Sich auf dem Höhepunkt der politischen Macht wähnend, war sie mit dem Slogan »India Shining« (Indien glänzt) unter dem populären Premier Atal Behari Vajpayee in den Wahlkampf gezogen – früher als geplant. Denn gestützt auf Umfrageergebnisse hatten die Parteistrategen die Abstimmung siegesgewiss um sechs Monate vorziehen lassen.

Nach der Niederlage wurde es still um Vajpayee und Co. Doch Sumit Sarkar warnt entschieden vor einer Verharmlosung: »Wir müssen die BJP weiterhin sehr ernst nehmen, denn wie jeder andere große politische Zusammenschluss operieren auch die Hindunationalisten auf verschiedenen Ebenen.«

Sumit Sarkar ist einer der renommiertesten Historiker Indiens. Bis zu seiner Emeritierung hat der Professor fast 30 Jahre lang an der Delhi Universität gelehrt. Seine Vorlesungen hätten eine »außerordentliche Klarheit« vermittelt, erzählte mir eine seiner früheren Studentinnen einmal begeistert. Auch Sarkars akademische Arbeiten sind von hoher Qualität. So gehört sein 1983 erschienenes Buch »Modern India: 1885-1947« zu den Standardwerken der Geschichtsschreibung im postkolonialen Indien.

Doch Sarkar hat sich auch mit der jüngeren Vergangenheit des Subkontinents beschäftigt. So widmete sich der bekennende Marxist in den vergangenen Jahren verstärkt dem politischen Hindunationalismus. Ein Thema, das seit der Schleifung der Babri-Moschee im Dezember 1992 auch international wahrgenommen wird. Damals hatten zehntausende fanatisierte Hindus in der nordindischen Kleinstadt Ayodhya die 500 Jahre alte Moschee niedergerissen, weil sie glaubten, sie sei auf den Grundmauern eines von den Mogul-Herrschern zerstörten hinduistischen Tempels errichtet worden. Das Ereignis löste landesweite Unruhen mit mehr als 2000 Toten aus. Gleichzeitig markiert es den Beginn des rasanten Aufstiegs der BJP, der 1998 in der Übernahme der Regierungsverantwortung mündete.

Gefährlich ist nach Sarkars Einschätzung jedoch nicht unbedingt der Erfolg bei Wahlen. Gefährlich sei vor allem die systematische Arbeit auf lokaler Ebene durch ihre ideologische Mutterorganisation, den Nationalen Freiwilligenbund (RSS). Mit dem Ziel der »Erweckung« Indiens als Hindu-Nation, in der Muslime und Christen allenfalls Bürger zweiter Klasse sind, wurde der RSS bereits 1925 gegründet. Heute ist er mit geschätzten fünf Millionen Mitgliedern eine echte Massenorganisation, die in ihren landesweit 40000 Ortsgruppen für die hindunationale Sache wirbt.

»Trotz der gegenwärtig unbestrittenen Probleme der BJP setzt der RSS seine beharrliche Basisarbeit unvermindert fort«, weiß Sarkar. Dabei sehen die Kader ihre Aufgabe weniger in direkter politischer, sondern vielmehr in kultureller und sozialer Arbeit. Ziel sei dabei die »systematische ideologische Durchdringung « möglichst vieler Bereiche der Gesellschaft. So hat der RSS etwa in den Stammesgebieten Westindiens hunderte Schulen gegründet, in denen er die Kinder der traditionell nicht hinduistischen Ursprungsbevölkerung indoktriniert. »Diese Aktivität hat schon vor Jahrzehnten begonnen«, weiß Sarkar, »vollkommen unabhängig von der Zusammensetzung der Regierung.« Gleichwohl ist die Mischung aus Basisarbeit und Regierungsbeteiligung besonders explosiv, wie die anti-muslimischen Pogrome gezeigt haben, die im Frühjahr 2002 den Unionsstaat Gujarat erschütterten.

Hier sieht Sarkar auch ein deutliches Versagen der säkularen Kräfte des Landes. »Problematisch ist, dass sowohl die Kongresspartei als auch die linken Parteien sich fast ausnahmslos darauf konzentrieren, an Wahlen teilzunehmen.« Basisarbeit werde kaum noch geleistet, erläutert Sarkar. Daher bleibe die Auseinandersetzung mit kommunalen Spannungen im Land vorwiegend Bürgerrechtlern und Intellektuellen überlassen. Der RSS profitiert von diesem Defizit, denn in vielen Regionen kann er ohne jedes säkulare Gegenwicht agieren. »Es ist ein schleichender Prozess, in dem die hindunationalistische Ideologie allmählich zu einem festen Bestandteil des Alltagsdenkens vieler Menschen wird«, sagt der Professor. Selbst moderate Hindus, die den Kongress oder gar linke Parteien wählen, würden allmählich davon erfasst. »Das ist das eigentliche Problem«, betont Sarkar, »und ein gewaltiges Gefahrenpotenzial«.

* Aus: Neues Deutschland, 31. August 2005


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