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Volkskrieger verhandeln

Im indischen Andhra Pradesh begannen Gespräche zwischen Naxaliten und Regierung

Von Hilmar König, Neu Delhi

Nach 20 Jahren Wirken im Untergrund erschienen am Wochenende erstmals Verhandlungsführer der maoistischen Guerillabewegungen der Naxaliten Indiens zu politischen Gesprächen mit der Regierung des Bundeslandes Andhra Pradesh. Das signalisiert einen Kurswechsel der radikalen Linken. Die bislang ausschließlich militanten Naxaliten gehören der KPI (ML)/Volkskrieg, der Organisation Janashakti (Volksmacht) oder dem Maoistischen Kommunistischen Zentrum Indiens (MCCI) an. In einem taktischen Manöver, das ihre Verhandlungsposition beträchtlich stärkt, vereinigten sich am Donnerstag, 24 Stunden vor dem Beginn der Gespräche, die KPI (ML)/Volkskrieg und das MCCI zur KP Indiens (maoistisch).

Die Naxaliten standen in ihrem mehr als 30 Jahre währenden Kampf stets auf der Seite der Schwachen, Armen und Rechtlosen. Sie agieren nicht nur in ländlichen und Stammesgebieten Andhra Pradeshs, sondern auch in Regionen Orissas, Chattisgarhs, Jharkhands, Madhya Pradeshs, Bihars, Westbengalens, Karnatakas und Tamil Nadus. Indiens Sicherheitsberater M. K. Narayanan glaubt, daß die Volkskrieger bereits eine "kompakte revolutionäre Zone" geschaffen haben, die 125 Distrikte erfaßt und von Andhra Pradesh bis Nepal reicht. In dieser Zone üben sie ihre eigene Justiz gegen korrupte Polizisten und Forstbeamte, raffgierige Grundbesitzer und Geldverleiher aus.

Andhra Pradeshs Innenminister Jana Reddy umriß zum Auftakt der Gespräche den Spielraum seiner Regierung: Der konstitutionelle Rahmen sei nicht verhandelbar. Die Naxaliten sollten der Gewalt abschwören und auch zu den Treffs unbewaffnet erscheinen. Man werde Lösungen für die von den Volkskriegern angesprochenen sozialen Probleme unterbreiten. Der Elf-Punkte-Katalog der Naxaliten enthält unter anderem das Problem der Bodenverteilung gemäß der Maxime "Das Land dem, der es bestellt", Basisdemokratie, ein Ende des Weltbank-Diktats in der Wirtschaftspolitik und ein totales Alkoholverbot für das Bundesland. Zur Gewaltfrage werden sich die radikalen Linken voraussichtlich vorerst nicht festlegen. Einer ihrer Führer erklärte vor Verhandlungsbeginn: "Unser Ziel ist Machtergreifung durch bewaffnete Revolution." Trotzdem ist seit Juli eine Waffenruhe in Andhra Pradesh in Kraft, die die Naxaliten in einem Abkommen festschreiben möchten.

Die Regierung Andhra Pradeshs unter Chefminister Rajasekhara Rao hat sich bei Kontakten mit den Naxaliten am weitesten vorgewagt und deren Verbot im Juli de facto aufgehoben. Die anderen betroffenen Bundesländer verfolgen diesen Kurs mit gemischten Gefühlen. Einige verlangen von Neu-Delhi klare Richtlinien für den Umgang mit den Volkskriegern. Indiens Innenminister Shivraj Patil schlug unlängst auf einer Konferenz in Hyderabad ein koordiniertes Vorgehen vor und versprach zugleich Hilfe bei der Modernisierung der Polizei und für die Entwicklung rückständiger Gebiete. Unter der Koalitionsregierung der Vereinten Progressiven Allianz in Neu-Delhi gewinnt die Erkenntnis an Boden, daß das Naxaliten-Phänomen im wesentlichen ein sozial-ökonomisches Problem ist, das sich nur durch mehr soziale Gerechtigkeit und besondere Fördermaßnahmen für die benachteiligten Bevölkerungsschichten lösen läßt.

Aus: junge Welt, 18. Oktober 2004


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