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Waffen vom Staat

Sonderbare Friedensmission: Indiens Ureinwohner in Selbstschutzgruppen organisiert und umgesiedelt

Vn Hilmar König, Neu-Delhi *

Seit Monaten befinden sich Adivasis-Ureinwohner im zentralen Bundesstaat Chattisgarh zwischen Baum und Borke. Auf der einen Seite rekrutiert die maoistische Guerilla, die auch unter dem Begriff Naxaliten agiert, Adivasis für ihren bewaffneten Kampf gegen korrupte Beamte, Geldverleiher, Großgrundbesitzer. Auf der anderen Seite bemüht sich der Staat, der Naxaliten-Bewegung einen Riegel vorzuschieben, indem er den eigenen Sicherheitsapparat entlastet und Adivasi-»Selbstschutzgruppen« aufbaut. Die Regierung von Chattisgarh hob vor Jahresfrist mit Salwa Judum eine Gegenbewegung aus der Taufe. Die Übersetzung des Wortes aus dem lokalen Gondi-Dialekt bedeutet »Friedensmission«. Der maoistischen Gewalt sollte mit Gegengewalt begegnet werden. Stammesangehörige erhielten Waffen. Sie mußten in Lager umsiedeln, wo sie von Experten eine militärische Grundausbildung erhielten.

»Innere Bedrohung«

Keineswegs überraschend zeigt sich nun immer deutlicher die Untauglichkeit dieses Konzepts. Es negiert die Gründe für den Naxalismus und behandelt ihn als blanken Terrorismus. Die Lager, in denen etwa 50000 Adivasis notgedrungen campieren, sind inzwischen zu Angriffszielen der Guerilla geworden. Das jüngste Beispiel stammt aus der vergangenen Woche. Hunderte Maoisten attackierten das Lager Errabore im Distrikt Dantewada und gleichzeitig die Polizeistation und das Camp der Zentralen Polizeireserve, die eigentlich zum zusätzlichen Schutz der Salwa-Judum-Aktivisten stationiert worden waren. 28 Lagerinsassen, darunter Frauen und Kinder, wurden getötet.

Ajay Sahni vom Institut für Konfliktmanagement konstatierte: »Die Attacke war eine rohe Demonstra­tion maoistischer Macht. Die Botschaft lautete unmißverständlich: Fordert uns nicht heraus.« Seit Jahresbeginn kamen allein in Chattisgarh mindestens 460 Menschen bei solchen Überfällen ums Leben. Doch das Einzugsgebiet der Guerilla ist viel größer und erstreckt sich über 13 Bundesstaaten. Deshalb sprach Premier Manmohan Singh im Frühjahr von den Maoisten auch als der »größten inneren Bedrohung« für das Land.

Ein gut durchdachter und überzeugender Kurs, diese »Bedrohung« aus der Welt zu schaffen, ist bislang nicht erkennbar. Im südlichen Bundesstaat Andhra Pradesh versuchte die Regierung, eine Partnerschaft mit den Naxaliten aufzubauen. Zunächst wurden deren Organisationen legalisiert. Die ersten Massenkundgebungen offenbarten, daß die Maoisten einen enormen Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung genießen. Es gab ein paar Gesprächsrunden. Die Initiative wurde jedoch nach einigen Monaten wieder abgeblasen, weil die Regierung ihre Versprechen, grundlegende soziale Veränderungen vorzunehmen, nicht einhalten wollte oder gegen den Widerstand mächtiger Interessengruppen nicht durchsetzen konnte.

Fehlendes Konzept

Solche Veränderungen müßten sich auf eine konsequente Bodenreform, Land- und Waldrechte, Respektierung der kulturellen Werte der Adivasi und ihrer Lebensweise, großzügige Unterstützung für Bildung und Gesundheitsbetreuung in den rückständigen ländlichen Gebieten beziehen. Eben diese Fragen sind es, die den Maoisten seit Jahrzehnten Zulauf sichern. Salwa-Judum-Milizen, Sammellager, die Spaltung der Adivasi-Gemeinschaften in Pro- und Kontra-Naxaliten und das Gegengewaltkonzept erweisen sich als untauglich. Sie können kein Ersatz sein für einen ehrlichen politischen Prozeß, der darauf zielt, den Rechtlosen ein menschenwürdiges Dasein zu sichern.

* Aus: junge Welt, 25. Juli 2006


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