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"Die Naxaliten schaden unserer Sache"

KPI-Generalsekretär Ardhendu Bhushan Bardhan über Wurzeln, Methoden und Ziele der indischen Maoisten *


Ardhendu Bhushan Bardhan ist Generalsekretär der KP Indiens. In seinem Büro in Delhi befragte ihn Hilmar König für das "Neue Deutschland" (ND) zu Herkunft, Zielen und Einfluss der maoistischen Rebellen, die auch unter dem Namen Naxaliten firmieren. Nahezu täglich sorgen sie in Indien mit Überfällen auf Polizeiposten, staatliche Einrichtungen und politische Gegner für Schlagzeilen.

ND: Wo haben die Naxaliten ihre Wurzeln?

Ardhendu Bhushan Bardhan: Sie sind das Produkt verschiedener Abspaltungen von der kommunistischen Bewegung. 1964 trennte sich die KPI (Marxistisch) von der 1920 gegründeten KPI. 1967, bei einem Bauernaufstand in der westbengalischen Ortschaft Naxalbari, zeigte eine Gruppierung innerhalb dieser KPI (Marxistisch) Flagge, die den bewaffneten Kampf favorisierte. Sie gründete 1970 eine eigene Partei, die KPI (Marxis- tisch-Leninistisch). Davon splitterten sich in den 70er und 80er Jahren wiederum etliche Gruppierungen ab. So entstanden die KPI (ML) »Befreiung« und die KPI (ML) »Neue Demokratie«. Beide wandten sich vom bewaffneten Kampf ab und akzeptierten das parlamentarische System. Andere, so die Gruppe »Volkskrieg« und das Maoistische Kommunistische Zentrum, hielten am militanten Kurs fest und bildeten 2004 die KPI (Maoistisch). Deren Guerillakommandos werden heute auch als Naxaliten bezeichnet.

Worin besteht deren Ziel?

Im Programm der KPI (Maoistisch) ist die Rede von Revolution, die nur mit bewaffneten Mitteln möglich sei. Die Partei ist der politische, die Volksbefreiungsarmee der militärische Arm. Außerdem haben die Maoisten in gewissen Gebieten Milizen zur Unterstützung ihrer Guerilla aufgebaut. Ihrer Auffassung nach ist Indien nicht unabhängig, sondern eine Halbkolonie mit halbfeudalistischen Strukturen, als ob sich das Land in den 60 Jahren seiner staatlichen Unabhängigkeit nicht entwickelt hätte. Das Parlament wird abgelehnt, Wahlen werden boykottiert und alle anderen kommunistischen Kräfte werden von den Maoisten als Revisionisten diffamiert.

Wie schätzen Sie selbst die in Indien praktizierte bürgerlich-parlamentarische Ordnung ein?

Im kapitalistischen System, wo Geld die Oberherrschaft hat, werden bei Wahlen Stimmen vielerorts buchstäblich gekauft. Geld spielt eine so große Rolle, dass der einfache Mann oder gar arme Leute keine Chance haben, gewählt zu werden. Kein Wunder, dass von den 545 Abgeordneten im gegenwärtigen Parlament über 350 Millionäre sind. Die kann man schwerlich als Volksvertreter ansehen. Wir kennen die Grenzen des parlamentarischen Systems. Das heißt aber nicht, dass wir das Parlament ablehnen. Es hat seine Bedeutung in einer demokratischen Ordnung.

Stimmt es, dass die Maoisten in 160 Distrikten Indiens aktiv sind und im sogenannten roten Gürtel schalten und walten?

Premierminister Manmohan Singh sieht in ihnen die größte Bedrohung der inneren Sicherheit, weil sie eben in Gebieten Orissas, Westbengalens, Chhattisgarhs, Jharkhands, Bihars, Madhya Pradeshs und Maharashtras präsent sind. Ganapathi, der Generalsekretär der KPI (Maoistisch), behauptete, ihr Einfluss gehe sogar noch über 160 Distrikte hinaus. Im Bastar-Distrikt von Chhattisgarh glauben sie eine besonders starke Bastion zu haben. Es handelt sich um ein von Stammesangehörigen dicht besiedeltes Waldgebiet ohne jede Infrastruktur. Meine Partei hat dort auch starken Einfluss. Wir stehen mit ihnen in Konkurrenz. Es gibt keinen bewaffneten Konflikt zwischen uns, aber sie engen uns ein, behindern unsere Arbeit.

An anderen Orten, zum Beispiel in Westbengalen, werden Mitglieder der KPI und der KPI (Marxistisch) von Maoisten umgebracht.

Leider ist es so. Sie werden umgebracht, ihre Häuser angezündet, unsere Parteibüros verwüstet. Einzig und allein, um die dort seit über drei Jahrzehnten regierende Linksfront zu destabilisieren und vor den Wahlen in diesem Frühjahr Chaos und Anarchie zu schaffen. Die Maoisten spielen damit direkt der bürgerlichen Opposition in die Hände. Sie wissen das und wir erklären ihnen immer wieder: Eure Aktionen sind kontraproduktiv und schaden euch und uns, allen Linken. Doch sie halten an ihrem Kurs fest.

Es fällt auf, dass die Maoisten in Gebieten Fuß gefasst haben, die besonders rückständig sind. Welchen Zusammenhang gibt es?

Der Eindruck ist richtig. Es gibt eine sozialökonomische Dimension des maoistischen Problems. Für ihre Aktivitäten finden sie den fruchtbarsten Boden in den am meisten rückständigen, vernachlässigten Regionen, wo brutale Ausbeutung und Zerstörung der Existenzgrundlagen an der Tagesordnung sind. Von diesen Basen aus erweitern die Maoisten ihren Einfluss. Die staatlichen Behörden tragen die Hauptschuld am Zustand der dortigen Lebensbedingungen. Aber auch wir haben versagt, weil wir dieses Feld lange den Maoisten überlassen haben.

Die Regierung hat dieses Manko erkannt und will mit Sonderprogrammen die Entwicklung fördern.

Zumindest äußert sie die Absicht. Zugleich behauptet sie, die Projekte wegen der Gewalt in diesen Gebieten nicht mit voller Kraft in Angriff nehmen zu können. Auf der anderen Seite glaubt sie, das Problem ließe sich mit militärischen Mitteln lösen. Doch das hat nur zur Ausbreitung der Gewalt geführt. Die Regierung wollte sogar die Armee, die Luftwaffe gegen die Rebellen einsetzen. Das wäre einem Bürgerkrieg gleich gekommen, in dem unschuldige Zivilisten die größten Opfer gebracht hätten. Meine Partei und andere Linke haben energisch gegen diese Absicht protestiert. Schließlich lehnte das auch die Armeeführung ab. Aber die Streitkräfte bleiben indirekt verstrickt. Das Militär bildet Polizeispezialkommandos aus, transportiert Waffennachschub und unternimmt Erkundungsmissionen.

Unterstützen die Stammesangehörigen die militanten Maoisten?

Die Ureinwohner stehen zwischen Baum und Borke, sie leiden unter der Gewalt beider Seiten. Aber viele sehen in den Maoisten, anders als in den staatlichen Behörden, ihre Interessenvertreter. Ihre Argumentation klingt verlockend, zumindest macht sie Hoffnung: ›Kämpft mit uns. Am Ende werdet ihr oder werden eure Kinder ein besseres Leben haben.‹ Tatsächlich aber haben die Maoisten bislang kaum etwas zur Entwicklung der rückständigen Regionen tun können. Große Vertragsfirmen, die die natürlichen Reichtümer ausplündern, zahlen regelmäßig sogenannte Schutzgelder an die Maoisten und werden in Ruhe gelassen. Nur wer nicht zahlt, wird attackiert. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass die Maoisten mit ihren Handlungen nicht die Masse der Bevölkerung in Indien für sich gewinnen können. Sie schaden der Sache, für die wir Kommunisten angetreten sind.

* Aus: Neues Deutschland, 24. Januar 2011


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