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INDIEN – Perspektiven einer aufsteigenden Weltmacht aus der Peripherie

Von John P.Neelsen*

1. Ingredienzen einer Großmacht

Die Flutwelle im Gefolge des Erdbebens vom 26. Dezember 2005 vor der Küste Sumatras hat auch an der Ostküste Indiens Zehntausenden das Leben gekostet, Dörfer und Infrastruktur zerstört. Doch Indien lehnte jeden internationalen Beistand ab; im Gegenteil, indische Soldaten wurden zur Nothilfe in andere, von der Katastrophe betroffene Länder geschickt. Neu Delhi setzte ein Signal: Indien ist nicht länger hilfsbedürftiges Land der Dritten Welt, sondern beansprucht eine Rolle als Großmacht. Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit indizieren eine Neukonfigurierung des internationalen Systems mit China und Indien als ökonomisch, demographisch und politisch aufstrebenden Zentren auf Kosten der bisherigen G7, vor allem Europas bzw. der G8. Man würde damit nur wieder anknüpfen an die Zeit bis vor 200 Jahren als Indien zusammen mit China stets mindestens zwei Fünftel der Weltbevölkerung und einen ebenso hohen Beitrag zum Weltsozialprodukt beisteuerten.[1]
  • Mit 3.3. Mio. km² ist Indien das sechst größte Land der Erde.[2] Es zählt 1.064 Mrd. Einwohner, das sind 17 % der Weltbevölkerung. Heute noch von Chinas 1.3 Mrd. übertroffen, wird es in der Zukunft mit geschätzten 1.6 Mrd. das bevölkerungsreichste Land der Erde sein.[3]
  • Mit einem Pro-Kopf-Einkommen (PKE) von 530$ gehört das Land zwar zu den ärmsten Entwicklungsländern. Zusammengenommen aber brachte es die riesige Bevölkerung 2003 auf ein BSP von 568 Mrd. $ und belegte damit den 11. Rang unter den Volkswirtschaften.[4]
  • Indien proklamierte sich 1998 offiziell zur Atommacht, nachdem erste Kernwaffentests bereits 1974 erfolgt waren. Die für den militärischen Einsatz notwendigen Trägerraketen mittlerer und größerer Reichweite sind von der landeseigenen Rüstungsindustrie entwickelt worden. Indien gehört damit zum engen Kreis der erklärten Atommächte; es verweigert zudem prinzipiell die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags. Machtlos mußte der Westen dieser Entwicklung zusehen; selbst spätere Wirtschaftssanktionen wurden nach einiger Zeit aufgehoben. Auch in der Weltraumforschung spielt Indien im Konzert der Großen. Von insgesamt 31 erfolgreich gestarteten Satelliten umkreisen noch 13 die Erde; im Jahr 2007/08 soll ein Satellit zum Mond geschickt werden.[5]
  • Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis Indien, das seit Jahren ein Reform der Vereinten Nationen fordert, zu den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats gehören wird. Darauf laufen beide Vorschläge der von Kofi Annan eingesetzten Kommission hinaus, ganz unabhängig von dem diesbezüglichen Zweckbündnis mit Brasilien, Deutschland und Japan. Indien wird somit zukünftig über Fragen der weltweiten Terrorismusbekämpfung, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Armut und Umweltzerstörung, von Staatszerfall und Völkermord mitentscheiden.[6]
  • Schon jetzt ist Indien regionaler Hegemon in Südasien.[7] Diese Dominanz, die es einem Anteil von 75 % an der Bevölkerung und am BSP sowie zwei Dritteln am Außenhandel des Subkontinents verdankt, hat Neu Delhi auch politisch in die Rolle der regionalen Ordnungsmacht umzusetzen sich bemüht. Dabei standen in den ersten Jahrzehnten politischer Druck und militärischer Einsatz im Vordergrund, wie die militärischen Interventionen in Sri Lanka (1987-90) und den Malediven (1988) oder die aktive Rolle bei der Abspaltung Ostpakistans und der Gründung Bangladeshs (1971) belegen. Seit den 90er Jahren wird im Zuge der Weltmarktöffnung und des Strebens nach Weltmachtstatus eher eine Einflußnahme vermittels Kultur und Ideologie sowie von Verträgen im militärischen Bereich bzw. Vereinbarungen im Rahmen der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) favorisiert. Unterstützt wird sie einerseits von einer Entspannungspolitik in den Grenzkonflikten mit Pakistan [8] und China und andererseits begleitet von die Region überschreitenden Wirtschaftsinitiativen Richtung ASEAN und Iran auf der Suche nach Absatzmärkten und Rohstoffen, vor allem Energie.[9]

    Das Streben nach Großmachtstatus im Verein mit dem durch die Implosion des sozialistischen Lagers verursachten Umbruchs im internationalen System hat zu einer Reorientierung und Neupositionierung der Außenpolitik Indiens geführt, die durch eine Annäherung an den Westen im Verein mit größerer Autonomie in einem multipolaren System charakterisiert ist. So war Indien ein Zentrum im Lager der tendenziell anti-westlich orientierten Blockfreien-Bewegung und kooperierte seit 1971 wirtschaftlich und militärisch eng mit der Sowjetunion.[10] Zwar wurde Anfang der 90er Jahre der Freundschaftsvertrag mit Rußland als dem seinerzeit bedeutendsten Handelspartner (60%) erneuert, zum wichtigsten Lieferanten und Kooperationspartner in der Rüstungsindustrie ist dagegen das nunmehr anerkannte Israel avanciert, obwohl nach wie vor 70 % der indischen Armee mit russischen Waffen ausgerüstet ist.[11] Neue Dimensionen in einer fortdauernden Konvergenz materieller und politischer Interessen werden mit dem Anfang Dezember 2004 in New Delhi unterzeichneten Abkommen mit Moskau angesprochen. Da wird zum einen eine verstärkte Kooperation im Bereich der Raumfahrt, der Energieversorgung und des Bankwesens, zum anderen eine wechselseitige Unterstützung auf internationalem Parkett (als Gegengewicht zu einem neoliberalen Diktat und einer unipolaren Welt) vereinbart.[12]
  • Die traditionelle Distanz zu Washington gehört gleichwohl der Vergangenheit an. Heute ist New Delhi mit den USA in einer ‚strategischen Partnerschaft‘ verbunden. Die Attentate vom 11.September 2001, die in New Delhi mit den Aktionen kaschmirischer Rebellen gleichgesetzt wurden, waren der Auslöser für das geteilte Anliegen gegen den internationalen Terrorismus. Frontstellung gegenüber dem islamischen Fundamentalismus, (Gegen-)Machtinteressen angesichts des Aufstiegs Chinas und die Rolle der USA bei der Ölversorgung aus dem Golf zementierten ein gemeinsames Fundament. Bestens symbolisiert in dem Vorhaben der seinerzeitigen indischen Regierung, Hilfskontingente zur Unterstützung der US-Okkupation in den Irak zu entsenden, werden gleichzeitig die Besetzung Afghanistans, die verstärkte militärische Präsenz der USA in Sri Lanka, Pakistan bzw. in Tadjikistan u.a. als Intervention in den Einflußbereich (Hinterhof) Indiens, wenn nicht als potentielle Bedrohung interpretiert.[13]
  • Anfang November 2004 unterzeichnete Premierminister Singh auch mit der EU ein Abkommen über eine ‚strategische Partnerschaft‘. Die EU und Indien wollen danach einerseits ihre Handelsbeziehungen verstärken, zum anderen als stabilisierende Pole in der zwischen ihnen liegenden, vom Balkan bis zum Irak reichenden, Region der Spannungen und Krisen wirken. Jenseits bloßer Absichtserklärungen zur internationalen Waffenkontrolle und Terrorbekämpfung mögen vor allem der Handel und die Zusammenarbeit beim Weltraumsystem Galileo zwischen den beiden Sekundarmächten intensiviert werden.[14]
Angesichts dessen, dass die EU ‚strategische Partnerschaften‘ sonst nur mit den USA, Canada und Japan sowie Rußland und China unterhält, liegt das Entscheidende woanders: die Konturen des zukünftigen internationalen Systems mit Indien als einem seiner anerkannten Zentren werden deutlich.[15] Welche Handlungsspielräume sich dabei eröffnen, wird dabei entscheidend von der zukünftigen Entwicklung der EU und ihres Verhältnisses zu den USA bestimmt werden.[16]

2. Zentrum globaler Dienstleistungen - Büro und Labor der Welt

Indien hat nach der Unabhängigkeit 1947 jahrzehntelang eine Politik des ‚swadeshi‘, eine am Binnenmarkt orientierte Wirtschaftsstrategie (Importsubstitution) mit sozialistischem Einschlag verfolgt. Charakteristisch war die zentrale Rolle des Staates bei der Wirtschaftssteuerung in Form von Fünfjahresplänen, einer breiten Vielfalt von Staatsunternehmen sowie einer Politik sozial-ökonomischer Intervention und Lenkung vermittels allgegenwärtiger staatlicher Lizenzen.[17] Garantiepreise für Agrarprodukte zusammen mit einem staatlichen Verteilungsnetz von fair price shops und der Aufbau eines sozialen Sicherungssystems kommen hinzu.

Nach einer schweren Zahlungsbilanzkrise mit nahezu erschöpften Devisenreserven und angesichts zunehmender Auslandsschulden (seinerzeit 73 Mrd. $)[18] wurde 1991 im Verein mit dem IWF ein Paradigmenwechsel zu Gunsten einer Liberalisierung von Handel und Kapitalverkehr vorgenommen, die Rolle des Staates zurückgedrängt, die Privatisierung staatlicher Unternehmen vorangetrieben.[19] Die Integration in den Weltmarkt wird forciert, nicht-tariffäre Handelshemmnisse wurden abgebaut, Zölle von durchschnittlich 130 % auf 30 % abgesenkt,[20] 2001 alle Einfuhrquoten abgeschafft. Ausländische Direktinvestitionen (ADI) sind erwünscht, fielen allerdings mit rd. 3 Mrd. $ jährlich eher gering aus. Sie werden zudem meist in Aktien angelegt,[21] obgleich ausländische Beteiligungen - in einigen Branchen, wie der Pharma- und Autoindustrie sowie der Telekommunikation bis zu 100 % - erlaubt sind.[22]

Insgesamt hat sich das wirtschaftliche Wachstum nach der Liberalisierung eher beschleunigt, wobei -unterstützt durch einen guten Monsun- zuletzt Spitzenwerte von 8 % erzielt wurden. Trotz aller Handelsliberalisierung liegt der Anteil des Außenhandels (Exporte und Importe) am BIP mit rund 22 % weit unter dem anderer Länder und erreicht kaum 1 % des internationalen Warenverkehrs. Ist die Handelsbilanz auch negativ, wobei die Importe die Exporte um mehr als ein Viertel übersteigen, ergibt sich wegen umfangreicher Gastarbeiterüberweisungen (8.3 Mrd $ in 2002) und einem Exportüberschuß bei den Dienstleistungen eine positive Leistungsbilanz ( 4.7 Mrd. $ in 2003).[23]

Als bevorzugtes Zielland im Bereich der I & K Technologien, sei es für den Export oder auch für die wachsende Binnennachfrage, macht Indien bei der Diskussion um Standortkonkurrenz und Delokalisierung wirtschaftspolitische Schlagzeilen. In der Tat wird hier ein neues Kapitel in den Außenwirtschaftsbeziehungen zwischen Erster und Dritter Welt geschrieben. Der klassischen ‚komplementären‘ (der Form industrielle Fertigwaren gegen Rohstoffe) folgte die ‚substitutive‘ Arbeitsteilung mit dem Tausch arbeitsintensiver industrieller (Halb-)Fertigwaren gegen forschungsintensivere, höher qualifizierte Produkte. Heute geht es dagegen um die Verlagerung von Dienstleistungen. Beschränkte sich dies zunächst auf das ‚subcontracting‘ von technischen Routinetätigkeiten, wie Buchungsarbeiten für Fluggesellschaften, Arztabrechnungen, Kreditkartenführung, etc. sowie call centers, so folgte schon bald die Vergabe höher qualifizierter Aufgaben wie software Entwicklung.[24] Als nächste Stufe wird der Transfer von Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Bioinformatik, der Marktforschung, der Finanzanalyse anvisiert.[25] Heute haben die weltweit führenden Unternehmen der Informations- und Kommunikationsbranche Niederlassungen, einschließlich seltener Forschungslaboratorien, in Hyderabad, Bangalore, etc. installiert, planen alle angefangen von IBM bis Microsoft deren drastischen Ausbau in allernächster Zukunft. Mehr noch sind nicht zuletzt durch das ‚business process outsourcing‘ indische Unternehmen (WIPRO, Infosys, Tata Consulting) von Weltruf mit globalen Aktionsräumen entstanden. Anders, die gängige Job-Hierarchie, bei der die qualifizierten, gut bezahlten und mehr Wert zusetzenden Tätigkeiten den Beschäftigten der Metropolen vorbehalten waren, gehört der Vergangenheit an.[26] Die ICT selbst (zusammen mit dem dramatischen Verfall der Transportpreise und Kommunikationskosten) haben die Arbeitsmärkte globalisiert. Ohne dass auch nur ein einziger Informatiker seine Heimat verläßt, werden die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen weltweit miteinander vergleichbar und in Konkurrenz zueinander gesetzt! Mag ein indischer software Ingenieur bei gleicher Qualifikation und trotz größerer Flexibilität und Arbeitsintensität bestenfalls ein Viertel seines Kollegen in der Triade verdienen, er gehört mit seinen durchschnittlich 6000 € im Jahr zu den 5 % höchsten Einkommensbeziehern seines Landes.[27]

Was für die ICT Branche gesagt wurde, gilt cum grano salis für die Pharmaindustrie, deren kleineren Bruder. Indien besetzt eine Spitzenstellung bei der Arzneimittelforschung und Herstellung, nicht zuletzt bei Generika. Mit 60 Pharmaunternehmen weist es das größte Netz außerhalb der USA auf. Dabei orientiert man sich weniger an den medizinischen Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung, sondern an der Nachfrage auf dem umsatzstärksten Markt, das aber sind die Metropolen. Anders als bei der breiten Bevölkerung trifft deshalb die Verschärfung der Patentgesetzgebung bei Medikamenten im Rahmen der WTO auch keineswegs auf den Widerstand der indischen Pharmakonzerne, im Gegenteil.

Neben der Forschung und Entwicklung werden auch die klinischen Tests neuer Medikamente in wachsendem Maße von den internationalen Pharmakonzernen an Subunternehmer auf dem Subkontinent vergeben. Im Gegensatz zu den Industrieländern treffen sie hier auf eine nicht nur zahlreiche, sondern auch solchen Versuchsreihen gegenüber weniger skeptische Bevölkerung. Ein Kostenargument kommt hinzu, da die Konzerne hier bis zu 60 % einsparen können, eine nicht unerheblicher Posten angesichts der Tatsache, dass die klinische Erprobung eines neuen Medikaments langwierig ist und einen Anteil von rd. 2/3 an den gesamten, bis zu einer Milliarde Dollar kostenden Investitionen verschlingt. Für die Einen ein Eldorado, das bis 2010 einen Wert von 2 Mrd. $ jährlich einbringen soll, ist dies outsourcing der Testphase für Andere ein Akt der Ausbeutung von Armut und Unwissenheit.[28]

Ein letztes Feld von outsourcing auf medizinischem Gebiet betrifft neben Blutuntersuchungen, Röntgen- und Computerdiagnostik (Computertomographie) die direkte stationäre Behandlung (westlicher) Ausländer in privaten, garantiert nach westlichen Standards arbeitenden (und entsprechenden zertifizierten), an der Börse gehandelten Krankenhausketten zu einem Bruchteil der in ihren Heimatländern zu erwartenden Kosten. Die anstehende forcierte Privatisierung der Gesundheitsvorsorge im Rahmen der WTO (GATS) läßt die Erwartung eines Einkommensschubs zu Gunsten des indischen Gesundheitswesens von jährlich 2.3 Mrd. $ in den nächsten Jahren nicht unrealistisch erscheinen.[29] Dass die Masse der indischen Bevölkerung sich nicht nur mit steigenden Kosten konfrontiert sieht, die selbst Mittelschichtangehörige nur schwer aufbringen können, ja mitansehen müssen, wie ärztliches Personal und Infrastruktur eher auf die Bedürfnisse zahlungskräftiger Ausländer als auf die der Einheimischen ausgerichtet ist, ist die Kehrseite der Medaille.

Die fortschreitende Liberalisierung der Märkte aber bedeutet nicht nur Konkurrenz für Beschäftigung und Arbeitsverhältnisse in den Metropolen, sie verschärft sich auch unter den Ländern der Dritten Welt. Hatten im Rahmen des bis zum 1. Januar 2005 geltenden internationalen Textilabkommens viele gerade der ärmsten Länder über Quotenregelungen Marktanteile als gesichert betrachten und damit erste Schritte zur industriellen Entwicklung nehmen können, werden nun die Anteile auf dem 350 Mrd. Dollar großen Markt für Textil und Bekleidung neu verteilt. Dabei stehen nicht nur die verbliebenen 2.7 Millionen jobs in der EU oder die 600.000 in den USA, sondern auch die in Bangladesh, Madagaskar, Botswana und Lesotho, in Ägypten, Tunesien, Marokko oder Mexiko auf dem Spiel. Den 35 Millionen Arbeitskräften in Indien, mehr aber noch den 180 Millionen Chinesen in diesem Sektor stehen sie nicht einmal notwendig wegen geringerer Lohnkosten, sondern mehr noch wegen genereller infrastruktureller Mängel beim Transport, der Kommunikation und der Logistik kaum eine Chance.[30]

3. Global Cities oder strukturelle Heterogenität im peripheren Kapitalismus

Nach der Weltmarktöffnung im Zuge der neoliberalen Wende in der Wirtschaftspolitik 1991 stiegen die Wachstumsraten von durchschnittlich 3.5 % auf 6-8 % p.a. China mit seinen lang anhaltenden ökonomischen Zuwächsen vor Augen stellt man sich nicht nur in Indien eine analoge, wenn auch um 25 Jahre verzögerte Entwicklung vor, und rechnet bereits, wann man die einzelnen Staaten der G7 ein- bzw. überholen wird.[31]

Doch solche optimistischen Prognosen dauerhaften Wachstums werden schon durch die völlig unzureichende Infrastruktur im Bereich des Straßennetzes, der Kommunikation und Energieversorgung stark in Frage gestellt.[32] Mehr noch verbergen sie eine komplexere gesellschaftliche Wirklichkeit.

Wie immer erfolgreich die genannten Vorzeigebranchen gemessen an Zuwachsraten und Exportanteil (software Güter machten 2002/03 18 % aus, von denen 2/3tel in die USA gehen) es sind a priori am äußeren Markt orientierte Branchen,[33] die in wenigen Metropolen konzentriert nur wenig mit der Binnenökonomie verflochten sind. In krassem Gegensatz zur sonstigen völlig defizitären öffentlichen Infrastruktur bei Transport, Kommunikation, Energieversorgung weisen diese outsourcing Zentren eine meist mit öffentlichen Geldern finanzierte parallele, qualitativ hochwertige Infrastruktur für den nicht zuletzt ausländischen Privatsektor auf.

Mehr noch, im Gegensatz zum Elitecharakter seiner Träger und der strategischen Position dieser Branchen für die Wirtschaft, stärkste Stützen für die Fortsetzung der neoliberalen Öffnungspolitik, selbst bei dynamischem Zuwachs der IT Dienstleistungsexporte, bleibt es ein kleiner Sektor, der nur wenig zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung beiträgt und auch in Zukunft keinen maßgeblichen Anteil am BIP gewinnen wird.[34]

Selbst eine Ausbreitung von IT Zentren in Provinzmetropolen unterstellt, wo sie als Katalysatoren für Produktivität und Arbeitsverhältnisse wirken und einen überregionalen Beschäftigungssog auslösen könnten, dürften sie eher die gesellschaftliche Differenzierung in moderne, wohlhabende, in den Weltmarkt integrierte Sektoren und Gruppen gegenüber der Masse der wenig qualifizierten, marginalen, von umfassender Unsicherheit betroffener Bevölkerung vor allem auf dem Lande und den slums der großen Städte. Konkret, Ende 2004 waren rund 1 Million unmittelbar im IT Bereich beschäftigt, fragten jährlich weitere rund 200.000 Absolventen von Informatik Studiengängen nach neuen Stellen. Sollten sich auch die optimistischen Prognosen eines Anstiegs der Beschäftigtenzahl auf 5 Millionen in den nächsten 10-12 Jahren bewahrheiten, der IT Sektor zum größten Arbeitgeber werden, würde dies auch unter Berücksichtigung der darüber hinaus entstehenden 3-6 Arbeitsplätze im Transport, Wartung, etc. nur einen winzigen Beitrag zur Lösung des generellen Beschäftigungsproblems leisten.

Waren die Theoretiker der Modernisierung, einschließlich solche marxistischer Prägung, noch von dem Modellcharakter der marktwirtschaftlichen Metropolen ausgegangen und hatten eine analoge zeitlich verschobene sozial-ökonomische Entwicklung prognostiziert,[35] hat sich stattdessen eine eigener peripherer Gesellschaftstypus im Süden herausgebildet. Der Weltmarkt entwickelt sich nämlich aus seinem Zentrum, der Triade als den höchst entwickelten Volkswirtschaften, heraus, und universalisiert die dort bestehenden Produktionstechnologien und –verfahren, mögen in den Ländern des Südens auch Massenarbeitslosigkeit, geringe Qualifikation und Einkommen im Verein mit Kapitalmangel vorherrschen. Als Konsequenz stehen hochproduktiven Unternehmen, Branchen und Sektoren gepaart mit zunehmend kosmopolitischen kaufkräftigen Sozialschichten in sicherer, gesetzlich einklagbarer Beschäftigung die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in permanent prekärer Lebenslage gekennzeichnet von irregulären, unregelmäßigen und unterbezahlten Arbeitsverhältnissen gegenüber.

Für diesen typischen generellen Sachverhalt struktureller Heterogenität in der Dritten Welt mit den Folgen einer ausgeprägten informellen Ökonomie gepaart mit der Marginalisierung breiter Bevölkerungskreise liefert gerade Indien exemplarisches Material.
  • Indien ist vorwiegend Agrarland. Über 700 Millionen Menschen leben auf dem Lande. Knapp zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten in der Landwirtschaft (63 %), nur 14 % in der Industrie und die restlichen 23 % im Tertiärsektor. Tragen der Sekundär (rd.25%) – und der Dienstleistungssektors (50 %) im Verhältnis zu ihrem Anteil an den Erwerbstätigen jeweils rund doppelt soviel zum Bruttosozialprodukt bei, entfällt auf den Primärsektor lediglich ein gutes Viertel (27 %).[36] Die meisten Bauern wirtschaften nur für den Eigenbedarf. Abhängig vom Monsun leben 40 % auch mit staatlichen Subventionen bei Dünger, Wasser und Energie unterhalb der absoluten Armutsgrenze (max. 1 $ pro Tag). Zwar produziert Indien absolut genügend Nahrungsmittel, um seine Bevölkerung zu versorgen, doch die relative Verelendung schreitet voran. Diese Daten indizieren nicht nur mangelnde Produktivität und eine relative Überbevölkerung, sie belegen auch eine strukturelle Unterentwicklung, wenn Entwicklung zunächst mit relativem, dann mit absolutem Rückgang der landwirtschaftlichen Erwerbspersonen gleichzusetzen ist. Die klassische historische Sequenz von einer dominanten Agrar – über die Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft findet offenbar (so) nicht statt. Im Gegenteil, unter dem Aspekt der Wertschöpfung wie der Beschäftigung handelt es sich eher um eine ‚verfrühte Bürokratisierung‘ gekennzeichnet durch den direkten Übergang von der Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft.
  • Nur wenig mehr als ein Viertel (28 %) der Bevölkerung lebt in Städten. Im Übrigen fällt dabei ein Prozeß der ‚Metropolisierung‘ im Sinne des überproportionalen Wachstums einiger weniger Millionenstädte auf.[37]
  • Die Erwerbstätigenquote ist mit 44% auch unabhängig davon, dass ein Drittel der Bevölkerung unter 15 Jahre alt ist, vergleichsweise niedrig; dabei ist die Partizipationsrate der Frauen mit 31 % besonders gering und liegt weit unter der Ost- und Zentralasiens, Europas oder auch Schwarzafrikas.
  • Die für die bürgerliche Gesellschaft prognostizierte zunehmende Dichotomisierung in Lohnabhängige und (Kapital-)Eigentümer findet nicht statt; lediglich jeder siebte Erwerbstätige ist abhängig beschäftigt; davon 28 % in der Industrie und über 60 % im Dienstleistungsbereich. Der Anteil der im ‚organisierten Sektor‘ Beschäftigten, d.h. in Betrieben mit mehr als sechs Erwerbstätigen, auf die Arbeitsgesetze mit Bestimmungen über Mindestlöhne, Arbeitszeiten, etc. Anwendung finden, ist noch geringer; von den 30 Millionen im formellen Sektor Beschäftigten stehen zudem 2/3tel auf den Gehaltslisten von Staat und öffentlicher Verwaltung![38]
  • 44 % der Bevölkerung, das sind 450 Millionen Menschen, leben in absoluter Armut, ohne festes Dach über dem Kopf, unzureichend ernährt und medizinisch versorgt, ohne gesicherten Zugang zu Schule.[39]
  • Die unzureichende gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung im Verbund mit dem riesigen informellen Sektor spiegelt sich auch in den Staatseinnahmen. Diese machen weniger als 10 % des Bruttoinlandsprodukts aus,[40] wovon 40 % aus leicht zu erhebenden Zöllen stammen. 70 % der Bevölkerung unterliegen überhaupt keiner direkten Besteuerung, wohingegen Bombay allein mehr als 50 % des privaten Einkommensteueraufkommens aufbringt.[41]
4. Zwischen Kasten- und Klassengesellschaft

Der peripher-kapitalistischen Entwicklung als einem auf Dauer gestellten Transitorium mit perennierendem Nebeneinander verschiedener Produktionsweisen korrespondiert der Übergangscharakter der sozial-politischen Konfiguration. Statt der Ausbildung moderner bürgerlicher Klassen mit kapitalistischen Pächtern, Lohnarbeitern, Kleinbürgertum und verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie, die die gesamte Gesellschaft bei gleichzeitiger Zersetzung überkommener gesellschaftlicher Verhältnisse neu strukturiert, bleiben feudale Formen der Vergesellschaftung erhalten. In ihrer Funktion transformiert, werden sie den gewandelten sozio-politischen Bedingungen angepaßt, als (neue) kollektive Identitäten beständig und meist verstärkt reproduziert. Als Interessengruppen eigener Art treten sie neben andere, unter denen dann auch reine Klassenorganisationen anzutreffen sind.[42] In der Realität treten jene analytisch separaten Kategorien jedoch meist als eine Gemengelage von ethnisch-regionalen, kastenspezifischen und sozialen (Klassen-) Interessen auf.

Das Kastenwesen stellt ein umfassendes religiöses, soziales, politisches und ökonomisches Ordnungssystem dar. In den Hinduismus mit seinem Glauben auf selbstverantwortete Wiedergeburt eingebunden, aus der Erlösung nur skrupellose Beachtung der jeder Kaste eigenen zugeschriebenen Berufstätigkeit, Bräuche und Rituale verspricht, werden dadurch zugleich die Interaktionen mit Mitgliedern anderer Kasten determiniert. Kaste legt auch die Berufsrolle fest. Im Rahmen des Jajmani Systems werden dabei die einzelnen Kasten nicht nur formal in die typisch dörfliche Arbeitsteilung integriert, sondern es werden auch die wechselseitigen Verpflichtungen zwischen den verschiedenen Kastengruppen bzw. den einzelnen Familienkollektiven einer Gemeinschaft auf Dauer fest geschrieben. Mehr noch, das Kastenwesen definiert systemisch eine soziale Hierarchie, die sich einerseits in ungleichen Leistungs-/Entschädigungsrelationen für geleistete Dienste manifestiert. Zum anderen gibt es einen scharfen alltäglichen Wettbewerb um den kollektiven sozialen Status einer Gruppe. Der groben religiös fundierten hierarchischen Einteilung nach folgt der Gruppe der ‚Zweimalgeborenen‘ aus Brahmanen (Priester und Lehrer), Kshatriyas (Krieger/Staatsmänner) und Vaishyas (Händler), die Kategorie der Shudras oder Handwerker. Die unterste Schicht wird aus den Unberührbaren gebildet, die nicht nur unreine Tätigkeiten ausüben (Wäscher, Toilettenreiniger, Leichenverbrenner, etc.), sondern deren physischer Kontakt, einschließlich Wasserschöpfung aus demselben Brunnen oder sogar deren bloßer Schatten für Höherkastige rituelle Verunreinigung bedeutet. Die unauflösliche Verquickung der unterschiedlichen Dimensionen manifestiert sich darin, dass Unberührbare neben den genannten Berufsrollen die landlosen Arbeiter stellen, während den beiden obersten Gruppen der Besitz von Land vorbehalten blieb, den sie selbst aus religiösen Gründen oft nicht bebauen durften.

Im Ergebnis wird sozialer Status weniger individuell qua besonderer Leistung erworben, sondern ist a priori kollektiv qua Kastenzugehörigkeit zugeschrieben. Funktional in die Reproduktion der lokalen Gemeinschaft eingebunden, ist jede einzelne Kaste auf strikte Beachtung der sozial-rituellen Räume und die Erhaltung der spezifischen durch Endogamie und soziale Abschließung garantierten Kastenidentität (und Reinheit) bedacht. Diese gesellschaftliche Gliederung ist so dominant, dass auch die Minderheiten, einschließlich der religiösen, wie Sikhs, Christen und Muslime, (weiterhin) auch in ihren eigenen Reihen Kastenunterschiede machen bzw. in das Gesamtsystem entsprechend bestimmter Lebensstile integriert werden. Einerseits streng hierarchisch ist zugleich der individuelle Status einer Kaste im Kontext des lokalen Interaktionsgefüges offen; er manifestiert sich in Interaktionen des Alltags in Kooperation und Konkurrenz, in Leistungsverweigerung ebenso wie Form, Art und Umfang wechselseitiger Leistungsvergütung. Diese durch rituelle und soziale Ungleichheit wie ungleichen Tausch gekennzeichnete soziale Interaktionsgefüge findet seinen Widerhall natürlich auch in der Politik. Traditionell hatten nur die Zweimalgeborenen und hier vor allem die Brahmanen und Kshatriya überhaupt Macht und Legitimation.

Beginnend mit dem Kolonialismus haben Geld- und Marktwirtschaft als zentrale gesellschaftliche Steuerungsmechanismen zusammen mit dem zunehmenden Einbruch der modernen Industriegesellschaft sowie die Vorgaben der Politik des unabhängigen Indien die traditionellen Grundlagen der Vergesellschaftung, von Produktion und Verteilung, von Statuserwerb und Sozialbeziehungen in Frage gestellt. Sie unterliegen jedoch keinem linearen Prozeß, an dessen Ende sie (allmählich) völlig verschwinden. Im Gegenteil, sie werden teils unterhöhlt, teils in ihrer Bedeutung und Reichweite transformiert; teilweise erhalten sie ganz neue Funktionen, teilweise erfahren einzelne Statusdimensionen eine völlige Umwertung, werden aus Benachteiligungen Vorteile. Im Ergebnis scheint das Kastenwesen nicht nur zu überdauern, sondern hat seine Rolle im gesellschaftlichen Prozeß neuerdings sogar noch verstärkt können. Doch hinter dem formalen Überleben (Unausrottbarkeit) verbirgt sich eine Revolution in Wesen und Substanz, in der sich eben der periphere Charakter der Gesellschaftsformation spiegelt.
  • Zunächst ist festzuhalten, dass das Kasten-cum-Jajmani System durch Geldwirtschaft, neue Ausbildungs-, Berufs- und individuelle Mobilitätschancen in seiner Substanz unterhöhlt ist. Formal mögen die alten sozial-ökonomischen Verhältnisse und Beziehungsmuster fortbestehen, sie haben ihren umfassenden Charakter und vor allem ihre Legitimität eingebüßt. Kastenzugehörigkeit determiniert nicht länger Berufsrollen, Landbesitz garantiert nicht länger hohes Einkommen, Status und Arbeitskräfte; wie umgekehrt der Landarbeiter nicht länger auf Arbeit und Einkommen bei seinem traditionellen Jajman rechnen kann.
  • Die ‚Biradari‘ als traditionelle reale Aktionseinheit der einzelnen Kaste auf Dorfebene spielt allenfalls noch eine marginale Rolle. Selbst die bis zu 1500 zählenden endogamen Subkasten oder ‚Jatis‘ haben ihre umfassende, Identität stiftende und Verhalten prägende Bedeutung verloren; von determinierendem Einfluß sind sie typisch nur mehr bei der Partnerwahl. Hierbei werden nicht nur die traditionellen, oft sehr weit gespannten überregionalen Netzwerke aktiviert; diese haben als quasi natürliche Selbsthilfegruppen im (neuen) urbanen Milieu eine neue Funktion gefunden. Fraglich ist schließlich selbst die generelle Rolle der zuletzt im Zensus von 1901 einzeln aufgeführten 2378 Hauptkasten geworden.
  • Neben dem Wandel in wirtschaftlichen und sozialen, einschließlich rechtlichen Rahmenbedingungen kommt den gesellschaftlichen Auswirkungen der Politik eine besondere Rolle zu. Die Verfassung von 1949 hat das Kastensystem für abgeschafft erklärt, die Kastentribunale verboten. Gleichwohl haben alle Parteien bei der Aufstellung von Kandidaten immer die dominante Kastenzugehörigkeit jedes Wahlkreises berücksichtigt. Hierin zeigt sich eine doppelte Funktion von Kaste: zum einen als Moment der Wählermobilisierung; zum anderen kommt es notwendigerweise auf die Größe einer lokalen Kastengruppe bzw. die Kapazität für Allianzen mit benachbarten Kasten. Dies sind nicht nur völlig neue, sondern teilweise mit dem überkommenen System direkt inkompatible Aspekte.
  • Als langfristig entscheidend hat sich die Politik der ‚positiven Diskriminierung‘ oder Reservierung (Quotierung) von Plätzen im öffentlichen Dienst, in Ausbildungsinstitutionen, in Parlament und Politik, etc. herausgestellt. Diese zeitlich begrenzt gedachten Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit traditionell unterprivilegierter Gruppen setzte zunächst –notwendig- eine Auflistung der begünstigten Gruppen, vornehmlich Unberührbare und Stammesangehörige, voraus. In Anhängen zur Verfassung aufgenommen, werden diese Gruppen heute nur noch kollektiv als ‚scheduled castes‘ bzw. ‚scheduled tribes‘ bezeichnet. Ihnen sind insgesamt 23.5 % (15,5 % für SC bzw. 8 % für ST)[43] der Plätze in Staat, Verwaltung und Erziehung sowie jeder siebte Parlamentssitz vorbehalten. Damit wurde nicht nur das Kastenbewußtsein per se gestärkt, es wurde als politische Ressource und Basis einer modernen politischen Interessengruppe entdeckt. Kasten entstanden als ‚vested interests‘, die sich zudem in völligem Widerspruch zur traditionellen Ordnung zu neuen Großkollektiven (vgl. die DALITS) zwecks Steigerung ihres potentiellen politischen Einflußpotentials verbündeten. Gleichwohl wurde der soziale Status der begünstigten Gruppen nicht kollektiv angehoben. Vielmehr wurden sie intern in ‚Gewinner‘ und Gefolgsleute gespalten, wobei sich einzelne ‚Gewinner‘ zu ‚politischen Unternehmern‘ zwecks Mobilisierung ‚ihrer‘ Kastenangehörigen als political pressure group und (sichere) vote bank mauserten. Es ist dies gemeinsame Interesse an der Perpetuierung, wenn nicht am Ausbau ihrer Vorzugsbehandlung, das die Gruppe nach außen eint, Kastenzugehörigkeit zur zentralen Dimension des politischen Systems Indiens macht, dem sich spiegelbildlich die anderen Kasten aus machtpolitischem Kalkül nicht entziehen können.
  • Nicht nur haben ‚scheduled castes‘ eigene Parteien gebildet; meist von scheduled tribes bewohnte Territorien mit Erfolg größere territoriale Autonomie, wenn nicht erfolgreich Forderungen nach eigener Staatlichkeit im Rahmen der indischen Föderation durchgesetzt. (Jharkand). Eine besondere Verschärfung der traditionellen Konfliktkonfiguration wurde Anfang der 90er Jahre durch die Umsetzung der Empfehlungen der Mandal Kommission ausgelöst. Damit wurde einer weiteren Gruppierung von insgesamt 3743 ‚other backward classes‘ Vergünstigungen in den staatlicher Kontrolle unterliegenden Institutionen eingeräumt. Eine zunächst rein statistische Kategorie wurde zur sozialen Gruppe ‚OBC‘ mit eigenen Parteien transformiert. Faktisch wurde nicht nur der Staatssektor damit zur mehr als Hälfte dem allgemeinen Zugang qua Leistungsprinzip entzogen.[44] Die formalen Größenverhältnisse veränderten das politische Gleichgewicht grundlegend, insofern die traditionell an der Spitze der Sozialhierarchie stehenden Gruppen aus „zweimalgeborenen“ Priester-, Krieger- und Händlerkasten nur ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen, wohingegen die Unberührbaren ein knappes Drittel, die übrigen „reinen“, aber oft sozial-ökonomisch rückständigen Kasten von Handwerkern und Dienstleistungsgruppen ungefähr die Hälfte der Bevölkerung stellen. In dem Augenblick nun, wo traditionell Unterprivilegierten nicht nur reservierte Quoten eingeräumt werden, sondern sie sich in politischen Interessengruppen und Parteien organisieren, die kraft ihrer großen Zahl in einem auf formaler Gleichheit der Staatsbürger beruhenden politischen System, Wahlen gewinnen und politische Herrschaft monopolisieren können, formieren sich die Gegenkräfte, dies durch Allianzen bzw. durch Spaltung der Front aus SC, ST und OBC zu verhindern. Eben das wurde längere Zeit mit Erfolg betrieben.
Zweifellos hat die Modalität des politischen Systems zu einem ‚empowerment‘ der nach Kastenzugehörigkeit und wirtschaftlich-politischen Status Unterprivilegierten geführt. Sie hat zugleich nicht nur das traditionelle Kastensystem, sondern vor allem dessen Basis von Macht, Privileg und Status und damit das überkommene Kräftegleichgewicht gewandelt. Kein Wunder, dass damit formal Kastenidentitäten erneuert, in ihrer Substanz aber völlig transformiert wurden. Daraus resultierten drastisch verschärfte gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Konflikte um die Verteilung von Macht und Ressourcen. Zahllos sind die Beispiele von Plünderungen und kollektiven Mordtaten (Verbrennungen) an scheduled castes (und scheduled tribes) seitens Höherkastiger, die sich mit deren ‚aufmüpfigen‘ Verhalten nicht abfinden wollen. Dass Polizei und Gerichte nicht selten ausgesprochen wenig Interesse an einer schnellen Ermittlung und Ahndung solcher Verbrechen an den Tag legen, reflektiert auf deren Kastenzugehörigkeit, ihre Herrschaft über den staatlichen Apparat und die Weite des zurückzulegenden Wegs. So besetzen die Brahmanen –3.5 % der Bevölkerung- die Hälfte der Parlamentssitze und 78% der Posten im Justizwesen.[45]

5. Interne Konfliktkonstellationen: Ureinwohner, Kommunisten, Kommunalisten

Nach der traumatischen Teilung von British India in Pakistan und Indien mit Massakern und Vertreibungen auf beiden Seiten und dem bis heute umkämpften Status von Kaschmir, wurden in den ersten Jahren der Unabhängigkeit zunächst teilweise blutige Auseinandersetzungen um Fragen der staatlichen Neugliederung der Föderation sowie der Bedeutung von Hindi als Nationalsprache geführt. Im Laufe der Zeit wurden pragmatische Lösungen durch die Abspaltung von sprachlich homogeneren Territorien zu eigenen Bundesstaaten und die Rücknahme der obligatorischen Nutzung von Hindi in der Föderation erreicht. Dabei hat sich das geographische Zentrum der Konflikte zunehmend in die nördliche Hälfte der Union verlagert, den Punjab, Kashmir und das frühere (ungeteilte) Assam sowie einen von Andhra Pradesh bis nach Nepal reichenden Streifen. Typologisch handelt es sich, sieht man von den internationalen Grenz- und Territorialkonflikten mit Pakistan und China ab, bei diesen internen Auseinandersetzungen, um Konflikte um Selbstbestimmung, inkl. Sezession und um anti-kapitalistische Bewegungen. In der jüngsten Vergangenheit ist als neue entscheidende Bruchlinie der Kommunalismus in Form eines exklusiven ‚kulturellen Nationalismus‘ der hinduistischen Mehrheit dazu getreten.

Welche Konfliktkonfigurationen und Formen des Widerstands haben sich herausgebildet?
  • Da sind zunächst die Unabhängigkeitsbewegungen im Nordwesten, einschließlich der ehedem viel bedeutenderen Bewegungen in Kashmir, bei denen es erst in zweiter Linie um das Besatzungs- und Unterdrückungsregime gegen die Bestrebungen nach Selbstbestimmung der muslimischen Minderheit geht, die allerdings wegen der internationalen Dimensionen des Konflikts zweier Nuklearmächte kaum Chancen haben, gehört zu werden. Die jüngsten Bemühungen der beiden Regierungen eine Entspannungspolitik im Verein mit einem Regime zum Konfliktmanagement zu finden, dürfte sich positiv für die Lebenslage der Kaschmiris auswirken, auch wenn nach wie vor hunderttausende indische Soldaten in ihrem Land stationiert sind und vermittels des Ausnahmerechts herrschen. Auch um die Frage der Selbstbestimmung der Sikhs, der in den 80er Jahren in einen bewaffneten Aufstand zur Unterstützung der Forderung nach einem eigenen Staat einmündete, hat seine Brisanz nach der blutigen Niederschlagung durch die Armee im Gefolge der Erstürmung und teilweisen Zerstörung des Goldenen Tempels in Amritsar, ihrem bedeutendsten Heiligtum, verloren.[46] Gleichwohl dürften eine Reihe der den bewaffneten Kampf auslösenden Faktoren für die Prognose der zukünftigen Entwicklung nicht außer Acht gelassen werden: eine bis in die 1920er zurückreichende Forderung dieser religiös-kulturellen Gemeinschaft nach einem eigenen Staat; da sind zweitens ungelöste Wirtschaftsprobleme und Ungleichgewichte mit einer sehr erfolgreichen Landwirtschaft, die in modernen kapitalintensiven privaten Großbetrieben 50 % der Ernteerträge Indiens erwirtschaftet, bei gleichzeitigem Mangel an Industrieunternehmen (wegen der Nähe der Front zu Pakistan) und einer hohen Arbeitslosigkeit gerade unter gut qualifizierten Jugendlichen, die typischer Weise unter den Unabhängigkeitskämpfern besonders zahlreich zu finden waren.
  • Anders ist die Lage im Nordwesten, einem Mosaik von über 300 Stämmen und Völkern, wie Kukis, Nagas, Santhals, Khasis, Bodos, Mizos, Assamese, etc. neben Einwanderern aus Bengalen, Bihar usw. In dieser Durchgangsregion mit Grenzen zu Nepal, Sikkim, Bhutan, China, Myanmar und Bangladesh mischen sich vom restlichen Hindustan nach Geschichte und Kultur durchaus unterschiedliche kulturell-sprachliche (tibetanisch, nepalesisch, birmanisch) und religiöse (christliche, hinduistische, islamische, buddhistische und animistische) Einflüsse. Seine insgesamt 40 Millionen Einwohner (4 % der Gesamtbevölkerung) verteilen sich auf sieben Bundesstaaten (ein Viertel der Bundesländer Indiens, davon mit Ausnahme Assams nur Ministaaten), obgleich sie kaum 1 % des indischen Territoriums abdecken. Diese weitgehend eigenständigen indigenen Gesellschaften bieten bei aller internen Heterogenität und Vielfalt einen fruchtbaren Boden für Autonomie Bestrebungen. Diese werden noch durch die geographische Randlage, das ganze Gebiet ist nur durch einen schmalen, 30 km breiten Landkorridor mit dem übrigen Indien verbunden, verschärft. Schließlich spielt die wirtschaftliche Unterentwicklung und Marginalisierung (Vernachläßigung) seitens der Zentralregierung gepaart mit massiver, seit über 100 Jahren andauernden Zuwanderung (illegaler) Migranten sowie der teilweise widerrechtlichen Aneignung und Ausbeutung landeseigener Ressourcen durch Geschäftsleute aus anderen Bundesstaaten eine erhebliche Rolle.

    Waren es eingangs die Briten, die im letzten Jahrhundert 100.000 von Arbeitskräften aus Bihar, Bengalen und Nepal für die Teeplantagen (60 % des indischen Tees werden hier produziert) importierten, sind es neuerdings die bis auf 10 Millionen geschätzten, vor allem aus dem heutigen Bangladesh stammenden, häufig illegalen Flüchtlinge und Migranten, die der Furcht vor Überfremdung im eigenen Land angesichts der wachsenden ‚Bengalisierung des Nordostens‘ Nahrung geben. Der Druck auf das Land und seine Ressourcen wird weiter durch die von Landhunger und mangelnden Beschäftigungsmöglichkeiten aus benachbarten Bundesstaaten einströmenden Armen verstärkt. Neben der verschärften Konkurrenz um Arbeit und Einkommen befürchten die indigenen Völker angesichts der vermehrten Vernutzung der lokalen Ressourcen (Ausbeutung der Bodenschätze -30 % der Jute, 50 % der indischen Gas und Ölvorkommen; großräumige Abholzung der Wälder- den Verlust der ökologischen Grundlagen ihres traditionellen Lebensstils überhaupt. Hinzu kommt umgekehrt der Assimilations- und Akkulturationsdruck durch clevere, besser ausgebildete bengali oder hindi sprechende Muslime oder Hindus.

    Furcht vor dem Verlust ihres sozio-ökologischen Raumes und der damit unauflöslich verbundenen kollektiven Identität mündeten schließlich in ein gutes Dutzend aufständischer Bewegungen. Einig in der zentralen Forderung nach Eindämmung, wenn nicht Rückführung der bengalischen Zuwanderer und dem Ende der Kolonisation unterscheiden sie sich in der Radikalität ihrer Anliegen, die von externer Selbstbestimmung bis zu verstärkter Autonomie innerhalb der bestehenden politischen Struktur reichen.[47] Rund ein halbes Dutzend dieser Bewegungen hat zum Mittel des bewaffneten Aufstandes gegriffen. Obgleich mehr oder weniger autonom und separat, weisen sie gemeinsame Charakteristika auf: (a) es handelt sich um ‚Kämpfe niedriger Intensität‘, die (b) in für Guerilla günstigem, weil grenznahem, waldigen bzw. bergigen und dünn besiedelten Gelände Unterschlupf und Basis finden; und (c) sich aus anfänglich marxistischen (maoistischen) Ansätzen zunehmend in ethnisch (nationalistische/ kommunalistische) Bewegungen (Mizo National Front) verwandelten; wobei (d) es gerade Studentenbewegungen waren, aus denen der Schlachtruf der Autonomie und Selbstbestimmung erhoben, und aus denen die militanten Anführer rekrutiert wurden.[48]
  • In den Hintergründen ähnlich sind die ‚kommunitaristischen‘ Bewegungen von indigenen Völkern zu bewerten. Diese rund 85 Millionen Menschen (8 % der indischen Bevölkerung) sind in rd. 400 Stämme mit je eigener Sprache, Kultur und Lebensstil untergliedert. Formal Teil der bürgerlichen Gesellschaft sehen sie sich doch eher als Opfer der Marktwirtschaft und der staatlich-politischen Institutionen. Ohnmächtig gegenüber den Strukturen und Funktionsmechanismen der herrschenden Gesellschaftsordnung erleben sie, wie ihre Ressourcen von Fremden angeeignet, ihre Lebensweise unterminiert, ihre Kultur und ihre Identität bedroht wird. Diesem ‚internen Kolonialismus‘ besser zu steuern, wurden Forderungen nach eigener Staatlichkeit oder interner Selbstbestimmung laut, die bei kompakten Siedlungsgebieten erfolgreich waren. So wurden im Jahre 2000 unter einer rechten Regierung die drei neuen Staaten Chhattisgarh, Jharkhand und Uttaranchal mit einer vorherrschend aus Ureinwohnern (Stammesangehörigen) bestehenden Bevölkerung aus bestehenden Ländern (Uttar Pradesh, Bihar, Madhya Pradesh) herausgeschnitten.
  • Eine Bewegung ganz anderer Art stellen die ‚Naxaliten‘ dar, die einen grundsätzlichen Systemwechsel auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ihre Wurzeln gehen u.a. auf eine maoistisch inspirierte Bewegung zurück, die im Frühjahr 1967 ausgehend von dem Ort Naxalbari im wenig zugänglichen und vor allem von Stämmen (Santhals) bewohnten Norden Westbengalens an der Grenze zu Nepal, zum bewaffneten Kampf (gepaart mit ‚rotem Terror‘) aufrief und zunächst ein halbes Dutzend Hindi sprechender Bundesländer erfaßte. Unter Führung der Bauern sollten befreite Zonen errichtet, Land umverteilt und langfristig eine soziale Revolution eingeleitet werden.[49] Die Bewegung reflektiert auch die historischen Kontroversen und mehrfachen Abspaltungen in der kommunistischen Bewegung des Landes, deren jüngster, der Communist Party Marxist-Leninist, sie ideologisch nahesteht.[50] Auch wenn die Letztere dem bewaffneten Kampf offiziell eine Absage erteilt hat, gehen die militärischen Aktionen gegen Ordnungskräfte und große Grundeigentümer in einem Krieg ‚niedriger Intensität‘ mit jährlich einigen Hundert Toten weiter. Aufgeteilt in zahllose, relativ autonom operierende Gruppen, wie das Marxist Coordination Committee, das Maoist Communist Centre (MCCI) oder die -aktuell aktivste- People’s War Group (PWG), erstreckt sich die Bewegung, die sich auf ein Netzwerk von Unberührbaren, Stammesangehörigen und Landarbeitern stützt, auf einen Gürtel von Maharashtra bis West Bengalen über das südöstliche Madhya Pradesh, den Süden von Andhra Pradesh, Orissa, Jharkhand, Chhattisgarh und Bihar bis nach Nepal. Die Verschmelzung von indischer MCCI und PWG im September 2004 einerseits, die Berichte einer engen Verbindung, einschließlich des Austausches von Personen und Kriegsgerät, mit der KP (Maoist) Nepals, die weite Teile des Landes am Himalaya kontrolliert, hat die Regierung aufgeschreckt. Zudem steigt nicht nur die Zahl der von den Naxaliten verübten Gewaltakte an (2001 gab es 1208, 2003 1592 und bis September 2004 1215 registrierte Fälle), sie haben ihr Operationsgebiet auf elf Bundesländer und ein Viertel aller Distrikte (157 von 593) Indiens ausgeweitet. Schließlich ist die Regierung angesichts der verbreiteten Korruption, durch Geiselnahmen, unsichere Rechts- und Sicherheitsverhältnisse in vielen betroffenen Staaten (Bihar) in der Defensive, werden eher militärische Lösungen in Form von Strafexpeditionen und Trainingszentren für den Dschungelkrieg anvisiert.[51] Am Beispiel des besonders betroffenen Bundesstaates Chhattisgarh wird die Dynamik der internen Konflikte deutlich: den Forderungen der etablierten Führungseliten der scheduled tribes nach interner Autonomie zwecks größerer Steuerungskompetenz von Ressourcen und Investitionen innerhalb der bestehenden Verhältnisse wurde gerade erst im Jahre 2000 nachgegeben; demgegenüber erhoffen die Naxaliten mit ihren lokalen Unterstützern offenkundig nur von einem prinzipiellen Systemwechsel eine grundlegende Besserung der Lebenschancen der sozial und wirtschaftlich besonders Benachteiligten.

    Bei aller spektakulären Militanz der Naxaliten, der Legitimität ihres Kampfes gegen Unberührbarkeit und Unterdrückung, nicht zuletzt der Stammesangehörigen, gegen Eigentumsungleichheit und feudale Strukturen auf dem Lande, bleibt fragwürdig, inwieweit sie langfristig über Guerilla-Aktionen in relativ isolierten Gegenden die nächste Etappe des Volkskrieges und schließlich den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung erreichen können. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, jenseits der marginalisierten, sozial diskriminierten und ökonomisch ausgebeuteten Gruppen weitere Teile der indischen Gesellschaft in ihre Bewegung zu integrieren. Die Heterogenität Indiens im Verein mit den ungleichen Kräfteverhältnissen macht dies zumindest in der vorhersehbaren Zukunft eher unwahrscheinlich.
  • Die Hautgefahr, der sich die indische Union aktuell gegenüber sieht, stammt eher aus dem Kern ihrer eigenen Mehrheit. Sie bedroht nicht nur die traditionellen Grundfesten des politischen Systems, insofern sie Demokratie, Säkularismus und Pluralismus im Verein mit einer Politik der Chancengleichheit in Form ‚positiver Diskriminierung‘ und eines aktiven Minderheitenschutzes, in Frage stellt. Sie forciert auch die internen sozialen Spannungen und unterhöhlt die innere Kohäsion der Gesellschaft, ja das ganze Projekt des ‚nation-building‘. Im Kern handelt es sich um eine völlige Abkehr, ja Denunzierung der Normen und Werte der Gründerväter, Gandhi und Nehru, mögen diesen auch weiterhin die Lippenbekenntnisse der Politiker bei der Versuch sich Legitimation zu beschaffen gelten. Es geht um die Ideologie des „Hindutums“ (Hindutva) als einem exkludierenden ‚kulturellen Nationalismus‘ der Mehrheit. Von kleinen Anfängen in Maharashtra hat er sich im Laufe der letzten 15 Jahre neben dem Kongreß zu einem zweiten, zunehmend in allen Teilen und Regionen der Union Widerhall findenden Pol im politischen System entwickelt.
Seine im gegenwärtigen Kontext wichtigsten Charakteristika sind:
  • Statt eines integrativen Prozesses des ‚nation-building‘, was angesichts der extremen Vielzahl an Sprachen, Religionen und Kulturen in Indien [52] einer besonders angezeigt erscheint, wird –völlig unhistorisch- auf die Gemeinschaft aller Hindus, unter formalem Einschluß der Unberührbaren, aber Ausschließung der alls un-indisch betrachteten Minderheiten gesetzt. Eine der zentralen Errungenschaften der Gründerväter der Union, der aktive Säkularismus, der das Familien- und Erbrecht der Kompetenz der Minderheiten vorbehält, wird als politischer Favoritismus und Unterminierung der Mehrheit interpretiert.
  • Er setzt direkt und bewußt auf physische Gewalt gegen Minderheiten als Mittel der Parteienkonkurrenz um Wähler zu gewinnen und die politische Macht zu erobern;[53]
  • Sie fußt auf einer umfassenden, alle gesellschaftlichen Gruppen ergreifenden Organisationsstruktur in der die Indische Volkspartei BJP (Bharatiya Janata Party) nur das politische Forum manifestiert;[54] gemeinsam ist ihnen allen die zugrundeliegende Ideologie von der Volksgemeinschaft, die nur in HORIZONTALE Berufsgruppen zerfällt, aber keine Klassen- oder Schichtunterschiede kennt.
  • Sie wendet sich mit besonderem Erfolg an die urbanen Mittelschichten und Oberkasten. Dabei stützt sie sich einerseits bei aller neoliberalen Politik auf einen ausgeprägten NATIONALISMUS als zentralen Kitt in einer ansonsten immer stärker fragmentierten und ‚provinzialisierten‘ Parteienlandschaft. Zum anderen appelliert sie an die Statusunsicherheiten der neuen Mittelschichten, die eben aufgestiegen sich verschärfter Konkurrenz über den Weltmarkt generell, einer zunehmend erfolgreichen muslimischen Minderheit aus Geschäftsleuten und Gastarbeitereinkommen aus dem Nahen Osten gegenüber sieht. Rationalisiert in der militärischen, einschließlich terroristischen, Bedrohung durch Pakistan mit der muslimischen Minderheit im eignen Land als potentieller fünfter Kolonne, hat die Hindutva Bewegung sich in kürzester Zeit zur zweiten politischen Kraft in Indien entwickelt.
  • Staatliche Institutionen, wie universitärer Austausch wurden nicht nur unter staatliche Kontrolle gestellt, Justizwesen und staatliche Verwaltung im Sinne der Hindu-Fundamentalisten instrumentalisiert.
Die Regierung der National-Demokratischen Allianz mit der BJP als Kern mag in den Wahlen des letzten Jahres besiegt worden, angesichts der Zersplitterung und Regionalisierung der Parteienlandschaft auch zukünftig auf Koalitionen angewiesen sein, was strukturell starke Parlamentsmehrheiten und Regierungen mit extremen Programmen eher verhindert. Die Tatsache, dass auch der Congress sich einer ‚sanften‘ Variante von Hindutva bedient, jenseits des politischen Systems, staatliche Institutionen, inkl. Verwaltung, Gerichte und Polizei, sich als nicht immun gegenüber parteipolitischen, inkl. fundamentalistischen Pressionen erwiesen haben, mag zu denken geben.

6. Ausblick: Politische Perspektiven

Indien ist ein Land mit einer ungeheuren Vielfalt von Völkern und Minderheiten, von Sprachen, Religionen und Kulturen.[55] Diese reflektiert sich auch in der Geschichte des Subkontinents, der Einheit eher in Form geteilter Kultur und Werte, einschließlich des Kastensystems als strukturierendes Gesellschaftsprinzip, als in Form einheitlicher politischer Herrschaft erlebt hat. Der unabhängige Staat hatte sich die sozial-politische Integration und zugleich sozial-ökonomische Transformation zu einer modernen Marktwirtschaft, die Chancengleichheit, nachgeholte Entwicklung und internationale Konkurrenzfähigkeit garantiert, zur Aufgabe gemacht. Im Vergleich zur nachgeholten Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert aber hatten sich Mitte des 20. Jahrhunderts die Ungleichheitsrelationen ebenso wie die internationale Arbeitsteilung, Austausch- und Kräfteverhältnisse drastisch verschoben. Der peripheren Sozial- und Wirtschaftsstruktur ist der Übergang auf Dauer mit einer stabilisierten Ungleichheit und Ungleichzeitigkeit immanent. Die neoliberale Öffnung hat diese Entwicklung noch verschärft, die internationale Integration zu Lasten der nationalen Desintegration eher gefördert und zugleich die gesellschaftliche Spaltung vertieft. Gleichwohl resultierten sie nicht in einer Verschärfung der manifesten Konflikte; vielmehr wirkten sich die Vielfalt der Widersprüche und Antagonismen der peripheren Formation als intervenierende Faktoren aus. Fragmentierung ist eher angesagt als die ganze Gesellschaft in zwei Fronten spaltender Bürgerkrieg. Unübersehbar ist zugleich die Konzentration von Macht, Kompetenzen und materiellen Ressourcen im Verein mit der Formierung einer kosmopolitischen Schicht mit an westlichen Vorbildern ausgerichteten Lebenschancen, deren Legitimität angesichts der sich allseits weitenden sozialen Kluft jedoch eher schwindet.

Indien wird als größte Demokratie gefeiert; Mehrparteiensystem, regelmäßige Wahlen und Regierungswechsel sind an der Tagesordnung. Die letzten Wahlen haben den politischen Willen der Wählermehrheit nach besseren Lebenschancen und größerem Anteil an gesellschaftlichem Reichtum zum Ausdruck gebracht. Dass die neue Multiparteienallianz unterstützt von den Kommunistischen Parteien und dem Congress als Kern, die entsprechenden Erwartungen erfüllen, das Versprechen von gesicherter Mindestbeschäftigung zu garantiertem Einkommen für alle Haushalte realisieren kann, ist auszuschließen. Der eben vom Congress ursprünglich initiierte neoliberale Kurs wird prinzipiell weitergeführt. Welche Perspektiven lassen sich daraus ableiten?
  • Die gesellschaftliche Ungleichheit dürfte zumindest relativ, wenn nicht absolut zunehmen. Dafür sorgt nicht allein schon die bestehende weitgehende Armut und Unterbeschäftigung. Diese wird angesichts der Jugendlichkeit der Bevölkerung, ein Drittel ist unter 15 Jahren, und einem Bevölkerungswachstums von 1.7 % p.a. in einem weiteren Anschwellen des Arbeitskräftepotentials in der Größenordnung von 330 Millionen zusätzlichen Erwerbsfähigen bis 2030 niederschlagen.

    In der Folge kann Konflikthaftigkeit, inkl. Kriminalität, und Legitimitätsverlust der Politik nur wachsen. Prozesse der internen politischen Fragmentierung und Forderungen nach mehr Autonomie bzw. Sezession einerseits, des Kommunalismus, sei es in der ‚nationalen‘ Form der Hindutva Bewegung oder der regionalen Variante der ‚sons of the soil‘, die sich gegen die Konkurrenz von Migranten aus anderen Bundesstaaten schon heute vielerorts gewalttätig äußern, andererseits dürfte zunehmen. Gleichwohl ist mit einem Zerfall der indischen Union kaum zu rechnen. Dafür sorgen nicht nur wie im Einzelfall des Nordostens dessen relative geographische Isolation oder die numerische und ökonomische Marginalität der einzelnen Befreiungsbewegungen, einschließlich der Naxaliten, dafür sorgt vor allem das föderale System Indiens selbst. Dies erlaubt relativ leicht die politischen Eliten von Autonomiebewegungen durch formale Machtteilung in das politische System zu kooptieren; mehr noch verbirgt sich hinter der Fassade von Selbstbestimmung, Partizipation und Demokratie ein im Grunde autoritär zentralistisches Gesamtsystem.
  • So schrieb die Verfassung von 1950 praktisch die lediglich um einen Grundrechtekanon erweiterte Kolonialverfassung von 1935 auch für das unabhängige Indien fort. Diese aber war nicht konzipiert worden, um demokratische Freiheiten und Partizipation zu erweitern, sondern um sie einzugrenzen bzw. faktisch zu unterlaufen. So steht hinter dem Präsidenten der Vizekönig, ausgerüstet mit dem Recht, einen nationalen Notstand auszurufen und in jedem einzelnen der heute 28 Bundesstaaten, ‚president’s rule‘ zu erklären, d.h. die jeweils frei gewählte Regierung nach zu Hause zu schicken, das Parlament aufzulösen und den Bundesstaat von der Zentrale in New Delhi aus regieren zu lassen. Dies geschieht auf Anraten des vom Zentrum in den Bundeshauptstädten eingesetzten Gouverneurs, der nicht nur den Ministerpräsidenten und die Minister ernennt, durch sein Veto die Verabschiedung von Landesgesetzen blockieren, sondern eben auch beschließen kann, der Bundesstaat sei ‚unregierbar‘ geworden. In der Vergangenheit ist dies viele Male geschehen. Formell die Prärogative des Präsidenten wurde dies Recht faktisch und konfliktlos von diesem auf Rat und im Einvernehmen mit dem Premierminister ausgeübt. Die Befugnisse des letzteren wurden nach britischem Vorbild bestimmt: er wählt sein Kabinett aus, er formuliert die Richtlinien der Politik, er setzt den Wahltermin fest.
  • Schon die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Zentralregierung und Bundesstaaten zeigt die relative Ohnmacht der letzteren. Entscheiden sie über Fragen der Lokalverwaltung, Gesundheit, Erziehung und Landwirtschaftspolitik, sind alle anderen Bereiche, nämlich Verteidigung; Außenpolitik, Binnenhandel, Transport und Kommunikation, ausschließlich dem Zentrum vorbehalten oder der gemeinsamen Verantwortung unterstellt. Mehr noch, der vom Präsidenten eingesetzte Gouverneur ist nicht nur befugt, die Finanzhoheit ‚seines‘ Bundesstaates an sich zu ziehen; die Bundesstaaten sind auch chronisch verschuldet und auf regelmäßige Finanzzuweisungen von der Zentralregierung angewiesen.
  • Der prinzipiell anti-föderalistische Charakter der parlamentarischen Demokratie britischen Typs bedeutet trotz formal lokaler Selbstverwaltung mit eigenen Ressourcen angesichts der ungleichen Kompetenzverteilung im Verein mit der finanziellen Abhängigkeit keine grundlegende Korrektur von Verhältnissen, die vom Militärfeudalismus des späten Mittelalters über die britisch indische Bürokratie reicht. Das von den Moghuln standardisierte System des als Garnisonschef und Distriktverwalter agierenden ursprünglichen Kavalleriehauptmanns wurde vom britischen Collector abgelöst. Das nach Militärrängen geordnete System wurde durch den Indian Civil Service ersetzt und in eine bürgerliche Bürokratie umgewandelt bzw. umfunktioniert, ohne dass jedoch andere Strukturmerkmale bürgerlicher Herrschaft nach Indien verpflanzt worden wären. Die indische Elite des Freiheitskampfs kam nicht auf den Gedanken, nun auch die Bürokratie abzubauen. Im Gegenteil, Nehru kam dieses System angesichts seiner Vorstellung einer etatistischen Entwicklung von oben entgegen und der mächtige Innenminister Patel meinte, ein ‚ring of services‘, wobei er den in Indian Administrative Service umbenannten ICS im Auge hatte, müsse Indien zusammenhalten. So begann die politische Entwicklung Indiens 1947 mit einem hybriden Erbe.[56]
  • Neben der bundeseinheitlichen Bürokratie (und dem Rechtswesen) ist der zentrale Sicherheitsapparat in den letzten Jahren personell ausgebaut, und zunehmend im Inneren eingesetzt worden. Sicherheit und Ordnung obliegen zwar verfassungsmäßig beiden, den Ländern wie dem Bundesstaat, doch wurden die bundesstaatlichen Polizeikräfte seit 1963 verdreifacht. Daneben kamen konkurrierende Spezialeinheiten, wie die Central Reserve Police und die Border Security Forces mit zusammen rund 350.000 Mann, die National Security Guard oder die Assam- bzw. Rashtriya Rifles vermehrt zum Einsatz. Schließlich –und unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und Sicherung von Bürger- und Freiheitsrechten bedenklich- wurde die 1.3 Millionen Mann umfassende Armee immer wieder intern eingesetzt. Nicht nur zur Bekämpfung von infiltrierten Pakistanis oder zur Niederwerfung von um ihre Selbstbestimmung ringenden Kashmiris oder bei der Erstürmung des Sikh Tempels in Amritsar 1984, sondern seit 1950 über 1000 Mal![57]
  • Schließlich hat sich die Zentralregierung eine ganze Batterie von Gesetzen geschaffen, die es ihr schon heute erlauben, formal legal mit militärischen, gesetzlichen und repressiven Mitteln aller Art, gedeckt durch Notstandsgesetze, Widerstände gleich welcher Art zu brechen. Neben President’s Rule und der eigentlichen Notstandsgesetzgebung ist hier an den ‚Armed Services Special Powers Act (1958), den ‚Disturbed Areas Act‘ (1976), den ‚Public Safety Act‘ (1978), den National Security Act (1998), und die Sequenz von Antiterrorgesetzen, nämlich TADA [‚Terrorist and Disruptive Practices (Prevention) Act‘, POTO oder die ‚Prevention of Terrorism Ordinance‘ bzw. POTA, den ‚Prevention of Terrorism Act‘ beispielhaft zu erinnern.[58]
Mit anderen Worten, schon heute sind die strukturellen, institutionellen und rechtlichen Mechanismen zur erfolgreichen formal legalen Unterdrückung von politisch motivierten Unruhen und sozialem Widerstand gegeben. Dabei dürfte die gesellschaftliche Komplexität Indiens schon im Vorfeld eine Vereinfachung und Verschärfung sozialer Konflikte eher verhindern, wie die Hindutva Ideologie und ihre Verfechter deren Kanalisierung als Mehrheit/Minderheiten Auseinandersetzungen besorgen dürften. Bleibt als positiver Kitt der Nationalismus, der sich nicht zuletzt auf die militärisch-technologische gegründete Mitgliedschaft im exklusiven Kreis der Großen. Auf Indien als Vorreiter im Kampf der Dritten Welt um Entwicklung oder gar einer ‚andern Welt‘ zu setzen, dürfte dagegen eher utopisch sein.

Fußnoten
  1. Angus Maddison, The World Economy: A Millenial Perspective, OECD, Paris zitiert in UBS, Research Focus, China und Indien, Zürich 2004, p 8 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch daran, dass Indien als Heimatland der Gewürze die ‚Entdeckungsreisen‘ des Kolumbus inspirierten oder seine Textilindustrie noch im 19. Jahrhundert weltweit konkurrenzlos war bis sie gewaltsam im Zuge des englischen Kolonialismus vernichtet wurde.
  2. Größer sind Rußland (17, 1 Mio. qkm), Canada (10 Mio) und die USA (9.6 Mio) gefolgt von China (9.6 Mio) und Australien ((7.7 Mio). Das Territorium der BRD umfaßt 357 000 qkm.
  3. UNDP, Human Development Report 2002, p 164. World Bank, World Development Report 1984, p 172f; World Development Report 1990, p 260. UNFPA, Weltbevölkerungsbericht 1998, 70ff. Im 20. Jahrh. vervierfachte sich die Bevölkerung; in den letzten 25 Jahren nahm die Geburtenrate von 5.4 auf 3.3, die Wachstumsrate auf 1.7 % ab. Die Jugendlichkeit der Bevölkerungspyramide sorgt gleichwohl noch für eine absolute Zunahme (aktuell 16 Mio. p.a.). Mit 358 E/km² gehört Indien allerdings schon heute zu den dicht bevölkertsten Staaten (BRD 220 E/km²).
  4. Gemessen am PKE belegt Indien den 160 Rang unter insgesamt 208 Volkswirtschaften; zum Vergleich: ein Chinese verfügt über das Doppelte, ein Deutscher über das 48fache. World Bank, World Development Report 2005, p 256f. World Bank, Word Bank Atlas 2005, pp 54f. Auch nach Maßgabe der Kaufkraftparität bleiben riesige Divergenzen: ein Chinese verfügt über ein um 75 %, ein Deutscher um ein zehnfach höheres Einkommen. World Bank Atlas 2005, p 64f.
  5. Beilage der New York Times in Le Monde vom 2.2.2004.
  6. IHT (International Herald Tribune) 29.November 2004, p 5 (und nicht nur UN Beschlüsse exekutieren, wie z.B. die Ende November 2004 erfolgte Entsendung von mehreren Hundert Blauhelmen in den Kongo).
  7. Die 7 Staaten sind Indien, Pakistan, Bangladesh, Nepal, Sri Lanka, Bhutan und die Maldiven.
  8. Im Februar 2005 vereinbarten Pakistan und Indien Busverkehr im umstrittenen Kaschmir und vermehrte Fahrten zwischen anderen Landesteilen, wodurch Spannungen abgebaut, Ressourcen verfügbar und ein bilateraler wie regionaler kommerzieller Stimulus (SAARC) erwartet werden kann. Times of India zitiert in IHT 22.2.05; vgl. auch Ph.Bowring ‚India starts to look beyond Pakistan‘, in IHT 14.12.04.
  9. Ranjit Devraj, „India courts Asia Tigers‘ poor cousins“ [d.h. Myanmar, Laos, Cambodia, Vietnam], in IPS (International Press Service) 30.Nov. 2004. So hofft Indien den Indo-ASEAN Handel bis 2007 von 13 auf 30 Mrd. $ steigern zu können. Ähnliches gilt für BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi Sectoral Technical and Economic Cooperation), der Thailand, Bangladesh, Bhutan, Burma, India Nepal und Sri Lanka angehören.
  10. So erkannte Indien als erstes nicht-arabisches Land die PLO als Repräsentantin des palästinensischen Volkes an und verweigerte Israel im Gegenzug die diplomatische Anerkennung.
  11. Le Monde 7.Dezember 2004.
  12. Le Monde vom 7.12.2004
  13. Dies gilt nicht allein für die verstärkte Kooperation Sri Lankas mit den USA im Kampf gegen die tamilischen Separatisten der LTTE; schon die Landung von GIs im Gefolge des Tsunami Desasters alarmierte Neu Delhi.
  14. International Herald Tribune 9.November 2004. Der wechselseitige Handelsaustausch belief sich 2002 auf 33 Mrd. $, rd. das Dreifache des Handelsvolumens von 1992. Nach Indien flossen lediglich 0.2% der ausländischen Direktinvestitionen (ADI) der EU.
  15. Vgl. auch National Intelligence Council, Mapping the Global Future: Report of the National Intelligence Council‘s 2020 Project, Washington Dec. 2004, esp. pp 27 ff ‚The Contradictions of Globalization‘.
  16. Vgl. auch die Beiträge auf einer vom Außenminister Indiens eröffneten, von der Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin und der Observer Research Foundation, New Delhi organisierten Konferenz ‚Europe and Asia‘ in New Delhi im Oktober 2004.
  17. Zum sog. ‚licence raj‘ vgl. Rieger, Ch., Die letzten und die nächsten fünfzig Jahre: Wirtschaftliche Entwicklung in Indien und Bharat, pp 136-153, in: Indian Council for Cultural Relations, Indien in der Gegenwart Bd. II, New Delhi 1997. Ders. Indiens Wirtschaft im Umbruch, pp 20-24, in: Indien, Bürger im Staat, Jg.48, 1, 1998, Stuttgart.
  18. Diese stiegen bis 2002 auf 104,4 Mrd. oder 17 % des BSP an. World Development Report 2005, p 262.
  19. Die erzielten Preise erreichen dabei meist nur ein Drittel der Schätzwerte.
  20. Betrugen die Spitzensätze früher 400 %, belaufen sie sich heute auf maximal 35 %.
  21. Cf. World Bank, World Development Report 2005, p.262. United Bank of Switzerland (UBS), Research Focus, China und Indien, August 2004, pp 20ff. Die genannten 3 Mrd. $ (2003) machten nur 0.5 % der gesamten ADI und kaum2 % der in die Dritte Welt fließenden Mittel aus. China zog 15 mal mehr ADI an.
  22. Ch.Jaffelot, L’Inde rétive libéralism total, Le Monde diplomatique, Janvier 2004, p 24f.
  23. World Development Report 2005, pp 256ff. World Bank Atlas 2005, p 47. Der Welthandel erreichte 2003 ein Volumen von 7.5 Bill. $, wozu D mit 748 Mrd. (10%) den Spitzenplatz belegte. Die Exporte Chinas beliefen sich auf 438 Mrd., die Indiens auf lediglich 54 Mrd. $, denen Importe in Höhe von 70 Mrd. $ gegenüberstehen.
  24. So hat Nokia gerade den Bau einer neuen Fabrik zur Handy-Herstellung für den südasiatischen Markt und Microsoft die Einrichtung eines Forschungslabors in Indien (des 3. Außerhalb der USA) angekündigt. International Herald Tribune 2.Dez. 2004. Zu französischen Firmen vgl. Alternatives économiques No.220, Dez.2003, pp 13-15.
  25. Vgl. IHT 19.August 2004, ‚Financial firms outsourcing at high speed‘; inzwischen wurde Indien auch auf breiter Front im medizinisch-pharmakologischen Bereich entdeckt: von strategischer Forschung in der Entwicklung neuer Medikamente, über deren klinische Erprobung bis hin zu chirurgischen Eingriffen. Vgl. IHT vom 15.und 28. Jan. 2005.
  26. Jüngsten Schätzungen zufolge sind allein im us-amerikanischen Banken- und Versicherungsgewerbe 2.3 Millionen jobs von Standortverlagerung nach Indien bedroht. In der Tat mehrt sich die Opposition angesichts dieser unerwarteten Konkurrenz, formieren sich Organisationen, werden Gesetzesinitiativen eingebracht, die den dramatischen Arbeitsverlust gerade unter Informatikern in den Metropolen mit der Delokalisierung ihrer jobs vor allem nach Indien in Verbindung bringen, sowie die Konkurrenz qualifizierter Migranten auf dem einheimischen Arbeitsmarkt eingeschränkt wissen wollen. Intenational Herald Tribune (IHT) vom 3.Oct.2003, 27. Dec. 2003 u.19.Aug.2004.
  27. Einer US-Studie zufolge beträgt das Einkommensgefälle zwischen Indien/USA bei Finanzanalytikern und Informatikern 1:7; bei Beschäftigten in call centres und beim Telemarketing 1: 13. Vgl. IHT 19.August 2004.
  28. Testing drugs is a healthy business in India, IHT 15. Jan.2005, pp 11ff.
  29. Vgl. Low-prices surgery, IHT 28.Jan.2005.
  30. Vgl. IHT 18.und 21.12.2004; siehe auch Le Monde Economie, 14.Dec.2004. Danach wird China seinen Anteil am Weltmarkt von 18 auf 29 %, Indien von 6 auf 9 % steigern. Der größte Posten sind nicht die Löhne (diese machen in China gerade einmal 10% aus), sondern die Kosten des Transports zum Verkauf.
  31. Italien 2014, Frankreich 2020, Deutschland 2023, Japan 2032. Vgl. National Intelligence Council, Mapping the Global Future, Washington 2004, p 32.
  32. Nur 50% der Straßen sind befestigt; Autobahnen gibt es so gut wie nicht; der Bau eines Autobahnnetzes von 13.000 km ist noch in den Anfängen. Nur 4 von 100 verfügen über einen festen Telephonanschluß, nur 1 von 200 hat einen PC. Ein Drittel der Bevölkerung ist nicht an das Stromnetz angeschlossen; selbst wo es Elektrizität gibt, sind Stromausfälle häufig, die Versorgung für jeweils mehrere Stunden am Tag ganz ausgesetzt. Ähnliches gilt für die Fortschreibung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Exportwachstum und Kapitalzuflüsse haben das Land trotz steigender Staatsverschuldung, die im letzten Jahrzehnt von 50 auf 65 % des BIP kletterte, vor einer Zahlungsbilanzkrise bewahrt und zudem niedrige Zinsen ermöglicht. Diese Politik niedriger Zinsen bei gleichzeitiger wachsender Staatsverschuldung und chronischen Haushaltsdefizits wird jedoch langfristig schon wegen der Abhängigkeit vom internationalen Umfeld (und dessen Volatilität) nicht durchgehalten werden können.
  33. Das gilt auch für die hoch kompetitive indische Pharmaindustrie, die sich ganz gegen die bisherige Praxis den obligatorischen Patentregeln der WTO beugt. Man verspricht sich dadurch nicht nur eigenen Schutz, sondern gute Chancen auf dem Weltmarkt. Vor allem erhofft man sich nach Ablauf der Patentfrist den ungehinderten Zugang zum mit 17 Mrd. $ besonders lukrativen, weil größten und profitabelsten Arzneimittelmarkt für Generika der Welt, die USA.
  34. Die Exporte socher delokalisierter Dienstleistungen stiegen von 1.6 Mrd. $ 1997 auf 10 Mrd. $ 2003; die IT Branche macht nun 4 % des BIP aus. UBS, China und Indien, 2004, p 26.
  35. Vgl. z.B. K. Marx, The Future Results of the British Rule in India, New York Daily Tribune Nr. 3840, August 8, 1853, in: K.Marx and F.Engels, On Colonialism, Moscow 1963, pp 83-90.
  36. So hat sich der Anteil des Primärsektors am BSP von 31 % (1990) über 28% (1999) auf die jetzigen 23 % reduziert. Umgekehrt stieg der Tertiärsektor in diesen Jahren von 42 über 46 auf nun 52 %. World Development Report 200/2001, p 294f.
  37. Lediglich 12 von insgesamt über 300 Städten mit über 100.00 Einwohnern zählen mehr als 1.5 Mill. Personen, repäsentieren aber 26% der urbanen Population. So hat Groß-New Delhi 13 Mio., -Bombay 16, -Kalkutta 13 Mio.
  38. Kein Wunder, dass das Sanktionspotential der abhängig Beschäftigten strukturell ausgesprochen gering ist, eine Tendenz, die noch durch einen geringen Organisationsgrad und organisatorische Fragmentierung verstärkt wird. So sind nur 8 % der Unselbständigen in über 30.000 Syndikaten, vor allem im öffentlichen Sektor, gewerkschaftlich aktiv. Die durchschnittlichen Lohnsteigerungen bewegen sich unterhalb des Wachstums des BIP.
  39. Weltbank, Weltentwicklungsbericht 2004, p 234f; vgl. auch Weltbank, Weltbank Atlas 2002, p. 28.
  40. Zum Vergleich: in Deutschland liegt die Quote bei 27 %, in Frankreich erreicht sie 39 %. Weltbank, Weltentwicklungsbericht 2000/01, p 300f.
  41. Cf. Une Obsession nommée Bombay, Le Monde diplomatique, Janvier 2004, p 24f.
  42. Cf. beispielhaft die Darstellung von D.Malik, Zur Neuformierung der Linken in Indien, pp 184-209, in: Bergmann, Th. et al. (eds), Geschichte wird gemacht, Hamburg 2002.
  43. Zur Kumulation von sozialen Handicaps gehört neben dem niedrigen Kastenstatus auch, dass 50 % der SC von weniger als 1 $ p.d. leben, 65 % verschuldet sind, nur jeder 7 alphabetisiert ist. Vgl. Quid 2004, Paris 2003, p 1150. Unberührbare, die zum Christentum konvertieren, fallen aus der Politik der positiven Diskriminierung heraus.
  44. Wegen Kastenunruhen mußte die Zentralregierung ihr Vorhaben zurückziehen; was jedoch nicht für die einzelnen Länder galt, die teilweise sogar noch höhere Quoten durchsetzten; so sind es in Tamil Nadu seit 1994 69%; ähnliches gilt für Uttar Pradesh, wo eine Zweiparteienkoalition aus Parteien niedriger Kasten diese Quotierung durchsetzte. Vgl. Joachim Betz, Indien, p 12, 23, 56 in: Informationen zur Politischen Bildung, 4, 1997.
  45. US, State Dept., India: Country Report on Human Rights‘ Practices 2003, Washington 2004, p 26.
  46. Der Bruch geht durch die Gemeinde der Sikhs selbst hindurch: So wurde Indira Gandhi das Opfer von zwei ihrer Sikh Leibwächter im Gefolge der Amritsar-Ereignisse; andererseits rekrutiert sich ein erheblicher Teil der Armee eben aus Sikhs, inkl. der den Sturm auf den Goldenen Tempel kommandierenden Generäle. Kommt hinzu, dass die Sikhs eine über ganz Indien verteilte erfolgreiche Gruppe von Geschäftsleuten und Unternehmern darstellt.
  47. Die wichtigste ist die für ein unabhängiges Assam (für die Assamesen) kämpfende United Liberation Front of Assam; daneben sind die Bodo Security Force, der National Socialist Council of Nagaland (mit verschiedenen Fraktionen), die Bewegungen der Naga und Kuki Minoritäten in Manipur, die Tripura National Volunteer Force und die aus ihr abgespaltenen Gruppierungen -unzufrieden mit der Vereinbarung von 1988/89- bzgl. einer stärkeren und garantierten Repräsentanz von Einheimischen in dem heute ganz von bengalischen Zuwanderern dominierten Tripura zu nennen. Ähnliches läßt sich für die Mizos und die Hill Tribal Liberation Organisation (Mizoram), die Khasi Students Union (Meghalaya) oder die AlL Arunachal Pradesh Students‘ Union sagen.
  48. Vgl. Mondes rebelles, Paris 1999, pp 699-713. US State Department, Human Rights Report, India, 2001 und 2004.
  49. Historisch läßt sich sogar an den von New Delhi blutig unterdrückten kommunistischen Bauernaufstand in Telengana (1946-1952) anknüpfen, der mit der militärischen Einverleibung des muslimischen Hyderabad in die indische Union (vgl. den analogen Fall Kashmir!) zusammenfällt.
  50. Die Anfang der 20er Jahre gegründete Communist Party of India (CPI) dominierte die Massenorganisationen von Studenten und Gewerkschaften nach der Unabhängigkeit. Allerdings kam es 1964 über der Haltung zur Sowjetunion bzw. China einerseits, der Einstellung und Kooperation zur Congress Partei und zum Nehruvian Staats- und Entwicklungsmodell zur Abspaltung der pro-chinesischen maoistischen CPI – Marxist (CPI-M). Von dieser löste sich 1969 ein weiterer Flügel, die CPI-Marxist-Leninist, mit dem Ziel einer Koordination der lokalen Kämpfe in einen revolutionären Volkskrieg. Schlecht ausgerüstet, ohne Unterstützung von außen, heterogen in ihrer inneren Struktur zwischen (häufig aus städtischen, hohen Kasten stammenden) Kadern und niederkastigen Bauern, blieben sie bei dem Versuch des Aufbaus einer urbanen Guerilla Anfang der 70er Jahre mit dem Ziel einer Kulturrevolution erfolglos.
  51. Erst Ende November 2004 machten die Naxaliten durch ein, mit der Ausbeutung der Ureinwohner begründetes, Attentat im östlichen Uttar Pradesh wieder von sich reden, bei dem 17 bewaffnete Sicherheitskräfte umkamen. Zeitungen sprechen inzwischen von ‚rotem Terror‘ und einem ‚rotem Korridor‘ von Nepal nach Tamil Nadu. Die Regierung des besonders betroffenen neuen Staates Chhatisgarh mit geschätzten 2000 Guerilleros hat für das geplante polizeiliche Trainingszentrum für den Dschungelkrieg 100 Millionen vorgesehen. The Telegraph (India), Nov. 21, 2004, p.1; Sunday Times of India, Nov. 21, 2004, p 5; The Asian Age (New Delhi), Nov. 25, p 16. Vgl. auch Mondes rebelles, Paris 1999, pp 724-727.
  52. So werden allein 1652 Sprachen mit sieben verschiedenen Schriftsystemen, die 4 unterschiedlichen Sprachfamilien zugehören, gezählt (18 gelten als ‚offizielle‘ Sprachen). Dazu gibt es Gemeinschaften aller großen Religionen, etc.
  53. Vgl.spez. die Gujarat Unruhen von April 2002; zur allg. Analyse von Gewalt als strategisches Mittel der Politik vgl. bes. Brass, P., The Production of Hindu-Muslim Violence in Contemporary India, Washington 2003.
  54. Die RSS (das ‚Nationale Freiwilligencorps‘) wurde 1925 als Sammlungsbewegung der Hindus gegen die Muslime gegründet. Um diesen Kern herum gruppiert sich eine Vielzahl von Einzelorganisationen:
    • Als politische Gruppe, die Hindu Mahasabha gefolgt von der Jana Sangh (1951), später der BJP (1980)
    • Als paramilitärische Schlägertruppe die BAJRANG DAL (urbanisiertes Lumpenproletariat aus entwurzelten Landlosen der niederen Kasten)
    • Als religiöse (gar ekklesiastische) Gruppierung, die Vishwa Hindu Parishad (auch in der UN vertreten als World Hindu Council)
    • Als Gewerkschaftsbewegung die Bharat Mazdoor Sangh (heute 2. stärkste Gewerkschaft Indiens mit 2 Mill. Mitgliedern)
    • Die Studentenorganisation Bharatiya Janata Yuva Morcha (BJYM)
    • Ähnlich gibt es Organisationen für Frauen, Unternehmer, Händler, etc.,
  55. Neben der Majorität von Hindus (82 %) bekennen sich 12 % zum Islam, die Indien nach Indonesien zum Land mit der zweitgrößten muslimischen Bevölkerung machen; daneben sind jeweils rund 2 % der Bevölkerung Christen (2.3 %) bzw. Sikhs (1.9%) sowie kleinere Gruppen von Buddhisten, Jains , Parsen und Juden.
  56. Zur historischen Entwicklung und Charakterisierung der Verfassung Indiens vgl. D. Rothermund, Die Macht der Geschichte, pp 15-19, in: Indien, Bürger im Staat, Jg. 48, 1, 1998, Stuttgart.
  57. J.Betz, Indien, in Informationen zur politischen Bildung, 4, 1997, p. 36.
  58. Vgl. State Department, India - Country Report on Human Rights Practices 2000, 2003, Washington 2001, 2004.
* John P. Neelsen, Institut für Soziologie, Universität Tübingen

Eine stark gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien in Heft 11/2005 der "Blätter für deutsche und internationale Politik".


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