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"Indien ist nach rechts gerückt"

Koalition unter Führung der Kongreß-Partei oder unter der rechtsgerichteten Hindu-Partei BJP – wirtschaftspolitisch ist es egal, wer bei den Wahlen gewinnt. Ein Gespräch mit Achin Vanaik *

Von Gerhard Klas, Neu-Delhi

In diesem Monat hat der Prozeß gegen den überlebenden Attentäter der Anschläge in Mumbai begonnen. Bei der Terrorattacke am 26. November waren 166 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt worden. In Indien wird der Angriff oft in einem Atemzug mit dem 11. September 2001 genannt. Warum?

Die Täter hatten verschiedene Motive: Zum einen den Kaschmirkonflikt, zum anderen die Ausgrenzungspolitik der nationalistischen Hindu-Bewegung. Die gezielten Angriffe auf ein jüdisches Haus und die ausländischen Gäste in den Hotels sind ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Täter auch auf die internationale Politik abzielten, nämlich die strategische Allianz Indiens mit den USA und Israel. Klar ist heute, daß die Täter auch Verbindungen zu Teilen des pakistanischen Establishments hatten. Auf politischer Ebene haben die Täter von Mumbai den reaktionären Kräften in Indien in die Hand gespielt, so wie Al-Qaida am 11. September 2001 der US-Regierung einen Gefallen getan hat. In Indien sind diejenigen gestärkt worden, die Muslime und den Islam dämonisieren und die strategische Verbindung zu den USA im Namen des »Kampfes gegen den Terror« vertiefen wollen. Die Täter haben denen einen Dienst erwiesen, die gegen die Entspannung zwischen Indien und Pakistan arbeiten und die Verantwortung der indischen Politik für die Situation in Kaschmir verschleiern wollen. Diese Attacken sind politisch kontraproduktiv und unmoralisch. Unsere Arbeit, die der progressiven Kräfte, wird damit erschwert.

Kommen die Architekten der inneren Sicherheit in Indien nun aus den USA?

FBI-Agenten und die des Mossad, des israelischen Geheimdienstes, kommen jetzt noch öfter nach Indien. Es geht darum, die indischen Geheimdienste und die Armee in ihre Strategie einzubinden und die Kooperation auf politischer Ebene zu vertiefen. Das schlägt sich auch in der Gesetzgebung nieder, denn dieser »Kampf gegen den Terrorismus« bietet die Grundlage für repressive Gesetze. Sie sind gegen den nichtstaatlichen Terror gerichtet und lenken davon ab, daß trotz all der schrecklichen Terroranschläge der schlimmste Terror vom Staat ausgeht. Z.B. in Kaschmir: Dort sind 500000 Soldaten, Paramilitärs und Polizisten stationiert. Auf zwölf Einwohner kommt ein Soldat, das ist mehr als in Palästina oder in anderen vergleichbaren Regionen.

Warum wurde der Attacke von Mumbai in Indien mehr Bedeutung beigemessen als vorangegangenen Bombenattentaten?

Bei früheren Anschlägen hat es sogar mehr als 200 Tote gegeben, dennoch war die Empörung diesmal viel größer. Bei Angriffen auf Fünf-Sterne-Hotels, die auch noch live im Fernsehen übertragen werden, fühlt sich die Elite bedroht. Das ist etwas anderes als ein Bombenattentat auf irgendeinem Basar oder einem Bahnhof, bei dem gewöhnliche Inderinnen und Inder ums Leben kommen. Die Medien spielten eine wichtige Rolle. Sie richten sich besonders an die Mittelschicht. Anders als in Deutschland sind das aber nur 25 Prozent der Gesellschaft. Der Rest ist arm und lebt von weniger als zwei Dollar am Tag.

Welche Bedeutung haben die bis Mitte Mai andauernden Wahlen zum Unterhaus?

Wirtschaftspolitisch ist es ziemlich egal, wer bei den Wahlen gewinnt: Eine Koalition unter der Führung der Kongreß-Partei oder eine unter der Führung der rechtsgerichteten Hindu-Partei BJP. Natürlich gibt es im Bereich des »Kommunalismus« Unterschiede, also bei dem Versuch, über Identitätspolitik die Interessen der gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander auszuspielen. Aber in der Wirtschafts- und Außenpolitik sind sich beide Parteien ähnlich, nämlich pro USA und neoliberal. Auch die derzeitige Wirtschaftskrise wird das nicht grundlegend ändern. Man rechnet immer noch mit einem Wachstum von sechs bis sieben Prozent. Indien ist relativ geschützt, da es noch keine freie Konvertierung der Währung gibt. Dafür war, trotz der gegenteiligen Bekenntnisse des derzeitigen Premierministers Manmohan Singh, nicht er, sondern die Linke verantwortlich, die CPI und CPM. Regierung und Hindunationalisten sprechen zwar von etwas mehr Regulierung, sind aber der Ansicht, daß die derzeitige Richtung der Wirtschaftspolitik im wesentlichen stimmt.

Der BJP-Politiker Narendra Modi, der Chefminister von Gujarat, ist nach Ansicht vieler Menschenrechtsorganisationen mitverantwortlich für das Pogrom von 2002 in seinem Bundesstaat, bei dem mehr als 1000 Muslime ermordet wurden. Warum ist er es, der mittlerweile von vielen großen Konzernen in Indien unterstützt wird?

Die Unterstützung Modis gab es schon vor der Krise. Diese Kapitalisten sind weniger um den Schutz der Muslime, als vielmehr um den Schutz ihres Profits besorgt. Modi verkauft sich als jemand, der Stabilität herstellen kann. Ich gebe euch Vergünstigungen, ihr braucht euch um Streiks nicht zu sorgen, das hier ist der Ort, wo man investieren sollte – das ist seine Botschaft. Die Mittelklasse hat dieselben Wünsche wie das Kapital, auch sie nimmt es nicht so schwer, wenn es hie und da mal Ausschreitungen gibt oder Muslime getötet werden, aber sie will nicht, daß diese Spannungen explodieren. Immerhin zählt die muslimische Minderheit 140 Millionen Menschen, in Indien ist also die zweitgrößte muslimische Gemeinschaft der Welt beheimatet. Für die BJP haben diese Unruhen eine bestimmte Funktion, wenn sie kontrolliert sind, damit polarisieren sie die Bevölkerung.

Müssen die Hindu-Nationalisten mit Sanktionen rechnen, wenn sie gegen Minderheiten vorgehen?

Die Aggressionen der Hindu-Nationalisten bleiben juristisch fast immer ungesühnt: Ob es sich um die Angriffe auf die Christen im Bundesstaat Orissa handelt oder auf Muslime in Gujarat. Narendra Modi wollen die indischen Industriellen sogar zum künftigen Premierminister machen. Selbst diejenigen preisen ihn, die eigentlich als Vertreter einer säkularen, liberalen Bourgeoisie gelten. Der Industriemagnat Ratan Tata zum Beispiel. Von ihm gibt es Bilder, auf denen er Modi herzlich umarmt. Tata sagt, Modi habe in Gujarat gezeigt, wie man dem Großkapital den roten Teppich ausrollt. All das stärkt Narendra Modi. Ich wäre nicht überrascht, wenn er künftig der Parteichef der BJP und ihr Kandidat für das Amt des Premierministers würde. Er ist ungeschoren davongekommen mit dem, was er 2002 getan hat: Das Pogrom gegen Muslime in Gujarat. Das polarisiert die Gesellschaft.

Die BJP versucht verstärkt auch die Dalits, die sogenannten Unberührbaren, anzusprechen. Kann sie allein mit der Mittelklasse keine Wahlen gewinnen?

Auf der Wählerebene scheint die BJP schon ihr Maximum erreicht zu haben. Wir haben nun einen Punkt erreicht, wo man nur mehr in Koalitionen regieren kann. Die regionalen Parteien erlangen dadurch neue Bedeutung. Dennoch sollte man die BJP und die Bewegung der Hindu-Nationalisten nicht unterschätzen: Früher hieß es, daß die BJP angesichts der großen Vielfalt der indischen Gesellschaft nie zur Massenpartei werden kann. Entgegen dieser Vorhersagen schaffte sie es mit einer perfiden Kampagne, das politische Zentrum in Indien nach rechts zu rücken. Dalits und die Stammesbevölkerung, die Adivasis, spricht die BJP mit den Organisationen an, die mit ihr zusammen im Sangh Parivar organisiert sind, einer Art Dachverband der rechten Hindu-Organisationen. Die RSS z.B. betreut heute viele Bereiche, die früher die Linke übernahm: Bildung, Wohltätigkeitsorganisationen und vieles mehr.

Welche Kräfte können dem Rechtsruck entgegenwirken?

In Indien gibt es rund 450 Millionen Erwerbstätige. Sieben bis acht Prozent von ihnen gehören zum formellen Sektor, d.h. sie haben Urlaub und eine geregelte Arbeitswoche, entweder im öffentlichen Dienst oder im Privatsektor. Nur drei Prozent sind gewerkschaftlich organisiert. Und die Bedingungen haben sich verschlechtert: Ein Resultat der Wirtschaftsreformen von 1991 war, daß die Zahl der öffentlich Bediensteten abgenommen hat. Das bedeutet, daß der Kampf gegen Unterdrückung in Indien nicht von den Arbeitern ausgeht, sondern von ganz unterschiedlichen sozialen Bewegungen und Gruppen: Landarbeiter, Frauenbewegung, die Stammesbevölkerung, Dalits. Das sind jedoch Bewegungen, die für ihre spezifischen Anliegen kämpfen. Das große Dilemma ist nun, wie man all diese bemerkenswerten Bewegungen und Initiativen miteinander verschmelzen kann. Die indische Bourgeoisie und die regierenden Klassen schafften es bisher in jedem Konflikt, ihre herrschende Rolle aufrecht zu erhalten.

Achin Vanaik ist Dekan der politischen Fakultät der Universität Delhi, der mit 300000 Studierenden größten Universität Indiens. Er ist Autor zahlreicher Bücher, der internationalen Londoner Zeitschrift New Left Review und des Socialist Register. Außerdem engagiert er sich in der indischen Coalition for Nuclear Disarmarment and Peace (Koalition für Nukleare Abrüstung und Frieden, ein Dachverband zahlreicher Antikriegsinitiativen in Indien). Von Mitte April bis Mitte Mai wird in Indien ein neues Parlament gewählt. Am 16.Mai gibt die Wahlkommission die Ergebnisse bekannt.

* Aus: junge Welt, 29. April 2009


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