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Nicht genug Reis für alle,. 05.08.2009

Hungertote und Unterernährung: Besonders Bauern betroffen. Indiens Opposition thematisiert Nahrungsmittelversorgung auf Subkontinent

Von Thomas Berger *

Indien wird von einem alten Problem eingeholt - der Ernährung seiner inzwischen auf mehr als eine Milliarde Menschen angestiegenen Bevölkerung. Nach Oppositionsangaben sind in den zurückliegenden vier Jahren mindestens 4800 Menschen in der aufstrebenden Wirtschaftsmacht verhungert. Die Mitte-Links-Regierung in Delhi, die bei den Wahlen im April eindrucksvoll bestätigt worden war, habe es versäumt, etwas gegen die steigenden Preise für Grundnahrungsmittel zu tun, lautet der dieser Tage erhobene Vorwurf. Die oppositionelle Bharatiya Janata Party (BJP) versucht, aus dem unzweifelhaft vorhandenen Problem jetzt politisches Kapital zu schlagen.

Es war BJP-Vizepräsident Mukhtar Abbas Naqvi, der jetzt diese Zahl in Umlauf brachte und zugleich davon sprach, daß die Dunkelziffer noch deutlich höher liege und wahrscheinlich bei bis zu 20000 Todesfällen durch Hunger in diesem Zeitraum anzusetzen sei. Der Politiker, muslimisches Aushängeschild der hindunationalistischen Gruppierung, unterstellte der Gegenseite Ignoranz gegenüber dem Leiden eines größeren Teils der Bevölkerung. Die vom Indischen Nationalkongreß, der Kongreßpartei (INC), geführte Koalition habe es versäumt, der Preisexplosion Einhalt zu gebieten. Daß Reis und Gemüse schon während der von der BJP und ihren Partnern gestellten Vorgängeradministration drastisch angestiegen waren, blieb dabei wohlweislich unerwähnt.

Fakt ist allerdings, daß sich die Lage seit 2007 abermals verschärft hat. Indien hatte wie andere asiatische Staaten unter der globalen Reiskrise zu leiden, Nahrungsmittelhilfen wurden teilweise nicht in ausreichendem Maße angeschoben. Und die Feststellung Naqvis deckt sich mit dem, was auch von der anderen Seite des politischen Spektrums als Kritik kommt. Eine renommierte Nichtregierungsorganisation hat nämlich in der Vorwoche eine Studie vorgestellt, wonach mehr als 200 Millionen Inder, also ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, von Unterernährung betroffen ist. Indien sei damit, in nackten Zahlen ausgedrückt, noch vor Schwarzafrika im negativen Sinne zur Weltspitze geworden, wird die Sozial- und Umweltaktivistin Vandana Shiva von der britischen BBC zitiert.

Der Navdanya Trust, eine von ihr ins Leben gerufene Organisation, verweist in seiner Studie darauf, daß der Pro-Kopf-Verbrauch an Nahrungsmitteln zwischen 1991 und 2001 von 186 auf 152 Kilogramm abgenommen habe. 57 Millionen Kinder landesweit hätten unter den Folgen von Mangelernährung zu leiden. All dies im Angesicht der Tatsache, daß der Staat alljährlich Milliarden für subventionierten Reis und andere Nahrungsmittelhilfen ausgibt. Diese kommen aber viel zu häufig nicht in ausreichendem Maße bei den Bedürftigen an, so die Kritiker rund um Vandana Shiva.

Die Regierung hat bisher nicht direkt auf die Vorwürfe reagiert. Mehrfach hatten der INC und seine Verbündeten in jüngster Vergangenheit aber auf Erfolge bei der Armutsbekämpfung verwiesen. Doch die Daten, auf denen die jetzt vorgestellte Studie basiert, stammen in erster Linie von staatlichen Stellen, die der Navdanya Trust nur punktuell durch eigene Erhebungen ergänzt hat. Besonders betroffen seien die Bauern. Ausgerechnet diejenigen, die für die Produktion der Grundnahrungsmittel zuständig sind, können sich oft keine vollwertigen Mahlzeiten leisten.

Auch eine aktuelle Aufstellung der UNO kommt zum gleichen Ergebnis. Experten der Weltorganisation hatten vor wenigen Tagen bekanntgegeben, daß Südasien die meisten Hungernden aufweise. 100 Millionen Kinder mehr als 2007 hätten in der Region nicht ausreichend zu essen. Die indische Regierung hat bereits ein neues Programm zur Nahrungssicherheit auf den Weg gebracht, das demnächst im Parlament beraten werden soll. Doch ob davon tatsächlich alle Bedürftigen profitieren, ist nach den bisherigen Erfahrungen fraglich.

* Aus: junge Welt, 4. August 2009


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