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Indien führt Schulpflicht ein

Verfassungsänderung schließt die Abschaffung der Kinderarbeit ein

Von Henri Rudolph, Delhi *

Elementarbildung ist in Indien seit dem 1. April gesetzlich für alle Kinder zwischen dem 6. und dem 14. Lebensjahr verbrieftes Recht. Die entsprechende Verfassungsänderung, die das Recht auf kostenlose und allgemeine Schulpflicht fixiert, trat an diesem Tag in Kraft.

Von einem »historischen Gesetz« sprach Kapil Sibal, Minister für Entwicklung menschlicher Ressourcen, dem auch das Bildungsressort untersteht. Bei aller Begeisterung über diese bemerkenswerte Errungenschaft, von der rund zehn Millionen Kinder profitieren sollen, warnte der Minister vor der Illusion, dass umgehend alle Kinder die Schule besuchen könnten. Es bedürfe der Anstrengungen der gesamten Nation, diese riesige Aufgabe zu bewältigen.

Als größte Herausforderungen nannte Sibal den Mangel an Infrastruktur und an Lehrern sowie die Erfassung der bislang benachteiligten sozialen Schichten. Auch Premier Manmohan Singh betonte in einer Botschaft an die Nation, dass besondere Aufmerksamkeit den Mädchen, den Dalits (Kastenlose, Unberührbare), den indigenen Adivasi und den Minderheiten zu gelten habe. Bildung, Gesundheit und schöpferische Fähigkeiten der Kinder und jungen Menschen bestimmten Wohlfahrt und Stärke des Volkes. »Bildung ist der Schlüssel zum Fortschritt«, sagte der Regierungschef.

Karin Hülshof, Vertreterin der UNICEF, des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, und Armoogum Parsuramen, UNESCO-Bürodirektor in Delhi, lobten das Gesetz als wesentlichen Schritt zur Verbesserung des Zugangs jedes Kindes zur Schulbildung. Andre Bogui von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO hob hervor, dass das neue Gesetz die Abschaffung von Kinderarbeit einschließt.

Die verschiedenen Kapitel der Verfassungsänderung behandeln nahezu alle mit der Schulbildung verknüpften Aspekte – bis hin zum Verbot der Prügelstrafe. Private Bildungseinrichtungen werden verpflichtet, 25 Prozent ihrer Sitze Kindern aus sozial schwachen Schichten einzuräumen. Gewissenhaft sind die Gründe zu analysieren, warum fast zehn Millionen Kinder bislang noch nie eine Schule besuchten oder sie oft schon nach wenigen Monaten verließen.

Minister Sibal listete in einem Pressebeitrag eine Reihe von betroffenen Gruppen auf: in Zwangsarbeit gehaltene Kinder, minderjährige Viehhirten, in Werkstätten und als Haushaltshilfen arbeitende Jungen, Mädchen, die auf Feldern oder in Haushalten beschäftigt werden oder sich um jüngere Geschwister kümmern müssen, Straßenkinder, Kinder von Wanderarbeitern und im Kindesalter verheiratete Mädchen. Die ins Rotlichtmilieu gezwungenen Minderjährigen erwähnte der Minister nicht. Alle Hindernisse für einen Schulbesuch, schrieb Sibal, müssten identifiziert und Schritt für Schritt abgebaut werden.

Das Gesetz fordert ausdrücklich qualitativ hochwertige Bildung. Das umfasst eine Reform des gesamten Schulbildungssystems, der Lehrpläne, der Qualifikation und Einstellung der Lehrer. An Geldmangel, so versicherte der Premierminister, soll die Verwirklichung des Gesetzes nicht scheitern. Der Staat sichere die Finanzierung.

* Aus: Neues Deutschland, 6. April 2010


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