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Echo aus Wien im fernen Indien

Tiefe soziale Klüfte in der Sikh-Gemeinde

Von Hilmar König, Delhi *

Indiens Premier Manmohan Singh, selbst ein Sikh, erinnerte die Mitglieder dieser religiösen Minderheit angesichts der Gewalttätigkeiten der letzten Tage daran, dass Sikhismus Toleranz und Harmonie lehrt und die »Väter« des Glaubens, die zehn Gurus, immer wieder Gleichheit und Brüderlichkeit predigten.

Der Appell war notwendig geworden, nachdem am Sonntag und Montag blutige Unruhen in weiten Teilen des nordindischen Unionsstaates Punjab zwei Menschenleben gefordert hatten. Mehrere Dutzend Bürger wurden verletzt, die materiellen Schäden sind enorm. Die Behörden wurden der Situation nur durch den Einsatz des Militärs halbwegs Herr. Zuvor waren Polizeistationen, ein Eisenbahnzug, das Lager einer Zuckerfabrik, Dutzende Fahrzeuge und öffentliche Gebäude sowie ein Automobilsalon demoliert worden. Eisenbahnstrecken und Autobahnen wurden blockiert. Polizei versuchte die Menge mit Tränengas und Schlagstöcken zu bändigen. über vier große Städte wurde eine Ausgangssperre verhängt.

Der Gewaltausbruch war die Reaktion von Anhängern einer Sikh-Sekte auf den bewaffneten Überfall auf einen Sikh-Tempel am Sonntag in Wien. Dabei war der Sektenführer schwer verletzt und sein Stellvertreter getötet worden. Dass dieser Vorfall 5800 Kilometer entfernt im Punjab zu derartigen Ausschreitungen führte, überraschte selbst die dortige Bevölkerung. Von den in mehrere Sekten gespaltenen rund 19 Millionen Sikhs in Indien - weniger als zwei Prozent der Bevölkerung - leben 76 Prozent im Punjab.

Was sich in Wien ereignete, ist laut »Hindustan Times« Ausdruck eines »Kastenkrieges«. In Wien existiert seit längerem ein Sikh-Tempel, der angeblich von einer radikalen Gruppe beherrscht wird. Sie fordert seit den 80er Jahren, im Nordwesten Indiens einen eigenen Sikh-Staat »Khalistan« zu errichten. Jahrelang sorgten die »Khalistanis« mit Terroranschlägen für blutige Gewalt im Punjab. Indira Gandhi fiel ihnen zum Opfer, nachdem sie das Heiligtum der Sikhs, den Goldenen Tempel von Amritsar, in dem sich die Führung der Separatisten verschanzte, 1984 stürmen lassen hatte. Die Wiener Gruppe erhielt Konkurrenz durch die Sekte Dera Sachh Akhand, die in der Nähe ihren eigenen Tempel baute. Das bedeutete für die »Khalistanis« Verlust an Gläubigen und Spenden. Ihre Antwort war laut »Hindustan Times« der Überfall.

Die Sikhs haben relativ starke Gemeinden im Ausland. In Großbritannien leben etwa 750 000, in Kanada 280 000, in den USA 100 000, in Deutschland 15 000 und in Österreich etwa 2800.

Die Sekte Dera Sachh Akhand folgt den Lehren von Ravidass, dem 4. Guru. Er lebte im 16. Jahrhundert und stammte aus einer armen Familie. Die Sekte hat besonders viele Anhänger unter den Dalits (Unberührbaren). Ursprünglich lehnt der Sikhismus Kasten ab. Doch praktisch existieren sie, den beträchtlichen sozialen Unterschieden in der Bevölkerung Rechnung tragend. So gibt es auch unter dieser Minderheit rechtlose, sozial diskriminierte Dalits. Für sie ist die Sekte Dera Sachh Akhand eine Art Sammelbecken, eine religiöse Bestätigung ihrer sozialen Identität.

29 Prozent der rund 30 Millionen Bewohner Punjabs sind Dalits. Kein anderer Unionsstaat weist eine solche Dalit-Dichte auf. Der Gewaltausbruch reflektiert demnach nicht nur starke Spannungen unter den Sikhs, sondern auch eine tief wurzelnde sozialökonomische Ungleichheit. Immerhin gehört Punjab zu den am meisten entwickelten Gebieten Indiens.

Punjabs Chefminister Prakash Singh Badal hat die Gefahr der Lage erkannt und am Dienstag ein Treffen mit Führern aller politischen Parteien einberufen. Unter nochmals verstärkten Sicherheitsmaßnahmen wurde am selben Tag der Sarg mit dem in Wien erschossenen Sant Ramanand im Punjab erwartet

Die Sikh-Religion ist monotheistisch. Ihre Anhänger glauben an einen allmächtigen Schöpfergott. Sie verehren Guru Granth Sahib, die heilige Schrift, die die Lehren der zehn Gurus enthält. Religionsgründer war der 1469 geborene Guru Nanak, der den Armen und Unterdrückten Hoffnung auf ein Leben in Gleichberechtigung gab.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Mai 2009


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