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Indien: Außenpolitisches Geschick - Innenpolitische Probleme

Premierminister Manmohan Singh ein Jahr im Amt - Sonia Gandhi zur Präsidentin der regierenden Kongresspartei wiedergewählt

Am 22. Mai 2004 trat Manmohan Singh sein Amt als indischer Premierminister an. Ein Jahr darauf konnte Bilanz seiner bisherigen Amtszeit gezogen werden. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass auch über die "Königsmacherin" Sonia Gandhi, die Witwe des früheren Premiers Rajiv Gandhi, gesprochen wird - zumal sie ebenfalls im Mai, vor wenigen Tagen also, zur Präsidentin der regierenden Kongresspartei (Indischer Nationalkongress) gewählt wurde.
Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel von Hilmar König aus Delhi sowie ergänzende Auszüge aus weiteren Artikeln, die sich mit der Jahresbilanz von Singh befassen.



Keine Stimme gegen Sonia Gandhi

Zum dritten Mal wurde die gebürtige Italienerin zur Chefin der Kongresspartei gewählt

Von Hilmar König, Delhi*


Zum dritten Mal seit März 1998 wurde Sonia Gandhi zur Präsidentin der ältesten politischen Formation Indiens, der Kongresspartei (Indischer Nationalkongress), gewählt – diesmal ohne eine einzige Gegenstimme.

Am Wochenende war in Sonia Gandhis Residenz im Herzen Neu Delhis der Teufel los: Knaller, Luftballons, Gesänge, Tänze, ausgelassene Stimmung, kalte Getränke und Süßigkeiten. Der Strom der Besucher riss nicht ab, die der alten neuen Präsidentin des Indischen Nationalkongresses zu ihrer Wiederwahl als Parteichefin gratulieren wollten. Zuvor hatte Kongress-Sprecher Oscar Fernandes bekannt gegeben, dass Sonia Gandhi von 100 ranghohen Parteimitgliedern für weitere vier Jahre nominiert worden war.

Der 57-Jährigen war der Trubel offensichtlich aber zu viel. Nach ein paar mahnenden Worten an die Gäste, sich nicht in Selbstzufriedenheit zu wiegen, sondern härter als je zuvor für die Partei zu arbeiten, entschwand sie in die kühlen Räume ihres Hauses. Bei Temperaturen von über 40 Grad gingen die Feiern im Freien jedoch weiter.

Sonia Gandhis Wahl war keine Überraschung – vor allem, weil es in der Partei derzeit keine Alternative zu der aus Italien stammenden Witwe des 1991 ermordeten Premiers Rajiv Gandhi gibt. Als sie im März 1998 das Ruder in die Hand nahm, um die Partei vor dem Untergang zu retten, galt sie zwar als ambitioniert, aber politisch unerfahren und profillos. Hinzu kam die vernichtende Niederlage des Kongresses bei den Parlamentswahlen 1999. »Aus und vorbei«, titelten die Medien damals einhellig.

Doch Sonia Gandhi gab nicht auf. Mit unerwarteter Energie machte sie sich ans Werk, die Strukturen der überalterten Partei zu reformieren und jungen Leuten eine Chance zu geben. Sie polierte das traditionelle Kongress-Image als »Partei der kleinen Leute« auf und suchte nach Partnern in anderen Parteien, um ein Gegengewicht zur damals regierenden hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) zu schaffen.

Bei dieser Umgestaltung gewann sie an Format. Sie strafte die Kritiker Lügen und half der Kongresspartei aus der Talsohle. Bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr schlug sich das in 145 Sitzen nieder, sieben mehr als die BJP. Zu einer »Ikone« – so die Tageszeitung »The Hindu« – wurde sie aber erst durch die Bildung der regierungsfähigen Vereinten Progressiven Allianz und ihrer sensationellen Entscheidung, auf das Amt der Premierministerin zu verzichten. Seitdem fällt es selbst der stets giftigen Opposition schwer, substanzielle Kritik an Frau Gandhi zu üben.

Die Präsidentin weiß, dass noch eine Menge zu tun bleibt, vor allem dass ihre Partei noch lernen muss, eine Koalition nicht selbstherrlich zu dominieren, sondern feinfühlig und tolerant zu führen. Eine Art Arbeitsteilung scheint ihr bereits gelungen: Der 72-jährige Premier Manmohan Singh erledigt die Regierungsarbeit ohne sichtliche Einmischung der Parteichefin. Die kümmert sich stattdessen um innerparteiliche Angelegenheiten und Personalfragen.

Sonia Gandhi selbst präsentiert sich als links von der Mitte agierende Politikerin, die sich unter Vertretern der Bürgergemeinschaft, von Nichtregierungsorganisationen und unter Umwelt- und Sozialaktivisten wohl zu fühlen scheint und mehr Akzeptanz unter den Benachteiligten und Minderheiten findet als unter der Elite. Der unbestechliche und trotz seines Alters dynamisch arbeitende Premier dagegen verfügt über beträchtlichen Spielraum für marktwirtschaftliche Reformen, jedoch stets unter den Maßgabe, dass diese auch »Aam Admi« – dem kleinen Mann – von Nutzen sind. Laut Umfrage der »Times of India« glauben 59 Prozent der Inder, die Kooperation zwischen beiden Politikern habe sich günstig auf Indiens Entwicklung ausgewirkt. Immerhin schätzten 60 Prozent die Leistung der Regierung nach einem Jahr als gut oder sogar ausgezeichnet ein.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2005


Zur Jahresbilanz des indischen Premiers Manmohan Singh (72 J.) brachte die "Neue Zürcher Zeitung" eine Würdigung unter dem Titel: "Gandhi und Singh - ein erfolgreiches Team". Darin heißt es u.a.:

Die Bilanz von Premierminister Singh ein Jahr nach seiner Machtübernahme in Indien kann sich sehen lassen. Selbstverständlich ist dies keineswegs. Ebenso wie niemand den Sieg der Kongresspartei bei den Parlamentswahlen im letzten Mai erwartet hatte, konnte sich nach dem Machtwechsel kaum jemand vorstellen, dass sich unter Manmohan Singh viel bewegen würde. Die Kongresspartei war schlecht auf die Regierungsübernahme vorbereitet und wirkte nach dem Verzicht Sonia Gandhis auf das Premierministeramt desorientiert. (...)
Der neue Regierungschef hatte vor allem ein Autoritätsproblem. Jeder wusste, dass er sein Amt allein Sonia Gandhi zu verdanken hatte, und man erwartete, dass diese als Chefin der Kongresspartei und der Koalition im Hintergrund die Fäden ziehen würde. (...)
(...)
Doch Singh hat alle Auguren Lügen gestraft. Nach einem Jahr sitzt er fester im Sattel denn je. Dies ist zum einen seinem Fleiss und seinem Beharrungsvermögen zu verdanken, zum anderen Sonia Gandhi. Singh und Gandhi haben sich als unerwartet gutes Team erwiesen, mit einer klaren Arbeitsteilung. Er führt die Regierung und konzentriert sich auf die grossen Linien der Politik; sie kümmert sich um die Partei, die Koalitionspartner und die Basis. Gandhi bevormundet Singh nicht, sie hält ihm vielmehr den Rücken frei und mischt sich nur dann in die Regierungsgeschäfte ein, wenn «soziale» Korrekturen am «liberalen» Kurs Singhs nötig sind, um die Verbündeten bei der Stange zu halten. (...)
Gemeinsam haben die beiden bereits einiges erreicht - insbesondere in der Aussenpolitik. (...) Vor allem im Umgang mit Pakistan zeigte er Fingerspitzengefühl. Die Beziehungen zwischen Delhi und Islamabad haben sich im vergangenen Jahr markant verbessert. Parallel zu vertrauensbildenden Massnahmen haben die beiden Nachbarn erstmals ernsthafte Verhandlungen über Kaschmir aufgenommen. Dadurch ist Bewegung in die verhärteten Fronten gekommen. Mitte April fand in Delhi schliesslich sogar ein Gipfeltreffen zwischen dem indischen Premierminister und dem pakistanischen Präsidenten Musharraf statt.
(...)
Während die aussenpolitischen Erfolge der Regierung unumstritten sind, ist die wirtschaftspolitische Bilanz durchzogen. Der überzeugte Reformer Singh hat zwar versucht, die Liberalisierung und Öffnung der indischen Wirtschaft fortzusetzen. Das Reformtempo hat sich aber deutlich verlangsamt. Vor allem die Kommunisten haben Singh immer wieder gebremst. Freilich lag ein «sanfteres Vorgehen» auch im Interesse der Kongresspartei und ihrer Präsidentin. Denn das hohe Wirtschaftswachstum unter der Vorgängerregierung hatte der Mehrheit der Bevölkerung wenig gebracht, und Sonia Gandhi hatte die Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, die Armen am Aufschwung zu beteiligen. Entsprechend hat sie Singh im vergangenen Jahr angehalten, die negativen Folgen der Reformpolitik für die ländliche Bevölkerung durch weitere Subventionen für die Bauern und ein neues staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm abzuschwächen. (...)

Aus: Neue Zürcher Zeitung (online), 14. Mai 2005

Auch Sophie Mühlmann hebt in ihrem Artikel in der "Welt" auf die erfolgreiche Außenpolitik des neuen Premiers ab. In ihrem Beitrag ("Indiens Premierminister Singh hat alle überrascht") heißt es hierzu u.a.:

Auf die Frage, wie er persönlich das erste Jahr seiner Amtszeit bewerten würde, zog Indiens Premierminister jüngst eine recht zufriedene Bilanz: Sechs von zehn Punkten verlieh sich Manmohan Singh selbst in der vergangenen Woche bei einem Parteitreffen. Er ist nicht der einzige, der seiner Regierung für die ersten 365 Tage gute Noten erteilt. In einer Umfrage vom vergangenen Sonntag bescheinigen ihm 61 Prozent der Befragten, er habe Indien vorangebracht. Auch die Medien loben seine Errungenschaften, alles in allem, heißt es wohlwollend, hätten sich Singh und die Vereinigte Progressive Allianz (UPA) in ihrem ersten Jahr gut gehalten.
(...)
(...) Obwohl er innenpolitisch alle Hände voll zu tun hatte, mußte Singh sich auch außenpolitisch behaupten - und tat dies überraschend gewandt und erfolgreich: Die Beziehungen zu Pakistan waren seit Jahrzehnten nicht mehr so gut wie heute. Der Friedensprozeß, der vor 15 Monaten begann, wurde unter Singh mit neuem Elan fortgeführt. Inzwischen verhandelt man sogar über das ultimative Streitthema Kaschmir, und seit April verkehren Busse zwischen dem pakistanischen und dem indischen Teil der Himalajaregion, um die die beiden Länder bereits zwei blutige Kriege geführt haben. Als Manmohan Singh und sein pakistanischer Gegenspieler, Präsident Musharraf, sich im vergangenen Monat zu einem ersten Gipfel trafen, nannten beide die Annäherung "irreversibel". Außerdem verbesserte Singh das Verhältnis zu China und wertete Indien gleichzeitig als strategischen Partner für Amerika auf. Das Land steht heute geopolitisch besser da denn je.

Aus: Die Welt, 21. Mai 2005

Die Südasien-Korrespondentin der Frankfurter Rundschau, Christine Möllhoff, betrachtet die sozialpolitische Bilanz des Premiers und kommt hier zu keinem besonders positiven Urteil. In ihrem Artikel "Die Regierung Singh tut sich mit Wirtschaftsreformen schwer" heißt es u.a.:

(...) Das blendende Außenbild kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bilanz nach innen weniger überzeugt. Auch ein Jahr nach ihrem Amtsantritt hat die neue Mitte-links-Koalition in vielen Feldern noch keinen klaren Kurs gefunden (...).
Die Wirtschaft wächst noch kräftig, aber Ökonomen bemängeln, dass die Regierung bisher kaum eines der drängenden Probleme angepackt habe und viele Reformen stocken. Dies gilt etwa für den Ausbau von Straßen- und Stromnetz, die Reform der widersinnigen Arbeitsgesetze und die Privatisierung der ineffizienten Staatsbetriebe. Die Regierung hat zwar ihr Versprechen wahrgemacht und neue soziale Programme für die Armen aufgelegt. Doch die Früchte lassen auf sich warten. Erfahrungsgemäß versickert mehr Geld in der korrupten Staatsmaschinerie als die Bedürftigen erreicht. Bisher wächst vor allem das Finanzdefizit.
Der gelernte Ökonom Singh räumte ein, er würde der Regierungsarbeit bisher nur sechs von zehn möglichen Punkten geben. "Es gab Themen, die ich und meine Kollegen durchsetzen wollten, aber nicht konnten. Politik ist die Kunst des Möglichen", gestand er Journalisten. (...)
Zwar hat die Kongresspartei von Gandhi bei den Wahlen vor einem Jahr unerwartet die regierende Hindu-Partei BJP auf den zweiten Platz verwiesen, doch von einer Mehrheit ist sie weit entfernt. Singh muss sich mit mehr als einem Dutzend Regional- und Kastenparteien herumschlagen. Zudem ist er auf die Stimmen der Kommunisten angewiesen. Selbst in der eigenen Partei fehlt Singh die Macht. Er ist ein Regierungschef von Sonia Gandhis Gnaden. Nicht Singhs Residenz, sondern Gandhis Sitz im Herzen Delhis gilt als das eigentliche Machtzentrum.

Aus: Frankfurter Rundschau, 23. Mai 2005



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