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Neuordnung der indischen Föderation

Drei neue Bundesstaaten entstehen

Neuaufteilung in Indien
Bis zum Jahresende sollen drei neue Unionsstaaten entstehen. Konflikte programmiert


Nicht erst der Vorschlag zum Ausbau des Sonderstatus' für Jammu und Kaschmir, vor einigen Wochen von der kaschmirischen Regierungsspitze eingebracht, hat die Debatte um eine Neuordnung des indischen Föderalismus neu in Schwung gebracht. Mit mehreren Gesetzen, die zur Zeit Kabinett und Zentralparlament passieren, wird es in nächster Zukunft mehrere neue Unionsstaaten geben. Nur noch eine Formalie scheint es, daß Ende des Jahres Jharkhand, Uttaranchal (Uttarakhand) und Chhattisgarh neu auf der politischen Landkarte erscheinen. Die indische Zentralpolitik kommt dabei Forderungen nach, die im Falle Jharkhands ein ganzes, in den beiden anderen bis zu einem halben Jahrhundert zurückreichen. Die Bewohner der neuen Unionsstaaten, zu großen Teilen Adivasis (indigene Völker), erhoffen sich von ihrem neuen Status eine größere Förderung, zählen die drei Regionen doch bisher zu den rückständigsten Gebieten Indiens. Vernachlässigt vom Zentrum ebenso wie von ihren bisherigen Staaten, waren sie doch gut genug, um an Rohstoffen ausgeplündert zu werden. Auch dort ist Jharkhand Paradebeispiel - Minen und Steinbrüche, in denen die zahlreich vorhandenen Erze abgebaut werden, haben weitflächig die Natur zerstört, große Fabriken ganze Dorfgemeinschaften vertrieben.

Die Staatenneuordnung war im Land keineswegs unumstritten. Insbesondere die Regierung von Bihar, wozu Jharkhand bisher gehört, stemmte sich mit Händen und Füßen gegen eine Loslösung des Landessüdens. »Nur über meine Leiche«, hatte der Ex-Chefminister und weiterhin starke Mann im Staat, Laloo Prasad Yadav, mehrfach betont. Zähneknirschend mußte er nach der jüngsten Wahl im Frühjahr seinen Widerstand aufgeben. Die Kongreßpartei der Oppositionsführerin im Zentralparlament Sonia Gandhi, wichtigste Stütze der von Laloos Frau geführten Staatenregierung, wollte der auf nationaler Ebene regierenden Bharatiya Janata Partei (BJP) in ihrer Unterstützung für die Adivasi-Autonomieforderung nicht nachstehen. Der Deal sah vor, die vom Zentrum ausgearbeitete Gesetzesvorlage im Staatenparlament von Bihar durchgehen zu lassen, wo ihr Laloos Partei sonst nie zugestimmt hätte. Verliert doch das ebenfalls bitterarme Bihar damit den Teil seines Gebietes, wo sich die Politiker und Wirtschaftsbosse aus Patna bislang selbst als Herren und Ausbeuter aufspielen konnten.

Die Jharkhand Mukti Morcha (JMM), die in Tradition der 1956 gegründeten Jharkhand Partei immer wieder den eigenständigen Staatus für die Millionen Ureinwohner verschiedener Stämme gefordert hatte, hofft nun, den Posten des Chefministers zu erhalten - abgesehen vom Nordosten wäre es einer der seltenen Fälle, daß die Funktion an einen Adivasi fallen würde. Was so sicher noch nicht einmal ist, denn die BJP von Premierminister Atal Behari Vajpayee verfügt im neuen Staat ebenfalls über eine starke Bastion. Anderenfalls hätten sich wohl auch gerade die Hindu-Nationalisten nicht zu einer Neuaufteilung des regionalen Kuchens bereitgefunden. Doch in allen drei Gebieten, die nun zu Unionsstaaten werden, hat die BJP deutlich einen Fuß in der Tür, womit sie sich nach der Stagnation bei den Parlamentswahlen 1999 und bei einigen Staatenwahlen wieder einen Aufschwung erhofft. In Uttaranchal, das aus den westlichen Bergregionen des bislang größten Unionsstaates Uttar Pradesh herausgeschnitten wird, hat sie ebenfalls großen Einfluß, was dem BJP-Chefminister in Uttar Pradeshs Hauptstadt Lucknow, Gupta, das Regieren fortan nicht leichter machen wird. Dennoch ist der Wegfall der 13 Westdistrikte nicht unmittelbar bedrohend. Uttar Pradesh bleibt auch weiter mit nun 80 statt 85 Sitzen in der Lok Sabha (Unterhaus) und 405 statt bisher 425 Mandaten im Staatenparlament unangefochtenes politisches Schwergewicht im Rahmen der Indischen Union. Bihar allerdings verliert seinen zweiten Platz auf diesem Parkett. 14 seiner 54 Lok-Sabha-Sitze büßt es an Jharkhand ein, steht damit nicht länger vor Maharashtra, Westbengalen und Andhra Pradesh (42 Sitze). Über einen eigenen Staat freuen sich auch die Bewohner der Westdistrikte von Madhya Pradesh, die nun als Chhattisgarh ihren Autonomiewunsch erfüllt bekommen. Ihnen ging es bisher ähnlich wie den Jharkhandis - sie steuerten zwischen 25 und 30 Prozent zu den Staatseinnahmen bei, weil bei ihnen ein Großteil der Bodenschätze wie Bauxit, Eisen und Kohle liegt, doch profitierten sie selbst in der Entwicklung sozialer Infrastruktur kaum davon. Die Gewinne, die die Firmen und die Regierung einstrichen, wandern zumeist in andere Landesteile, derweil die Dörfer ringsum weder ordentliche Schulen noch sauberes Trinkwasser haben.

Einfach wird es weder für die drei Neuen im Staatenverbund noch für die Zentrale. Denn auch die Neukreationen bergen, wie jedes politisches Gebilde in Indien, allerlei Zündstoff. Orissa fordert noch immer die »Rückgabe« einiger Teile Jharkhands, die vor langer Zeit einmal Bihar zugeschlagen worden waren. Demgegenüber ist Jharkhand eigentlich größer als das jetzt veranschlagte Gebiet. Auch in einigen Distrikten Orissas, Madhya Pradeshs und Westbengalens leben Adivasi-Stämme, die sich als Jharkhandis begreifen.

Auch mit Uttaranchal hat sich Delhi einen Konfliktherd geschaffen, wie schon die jetzigen Debatten zeigen. Mit Vehemenz wehrt sich die Staatenregierung des benachbarten Punjab gegen den Einschluß des Terai-Tieflandgebietes Udhamsingh Nagar in den neuen Staat, der ansonsten aus Bergregionen besteht. Hintergrund ist, daß in Udhamsinghnagar zahlreiche Sikhs leben, die sich eher mit dem mehrheitlich von Sikhs bewohnten Punjab zusammenschließen würden. Für die in Punjab regierende Akali Dal, Partner in Vajpayees Nationaldemokratischer Allianz, wird der Fall zum Spagat. Der von ihr gestellte Sportminister müßte zurücktreten, stimmt er gegen die Vorlage - doch die Akalis wollen unbedingt weiter mit am Regierungstisch in Delhi sitzen. Zudem wird Uttaranchal zum großen Teil von höherkastigen Hindus bewohnt, die zu den mächtigen nordindischen Großbauern gehören. Politische Schwergewichte insbesondere aus der oppositionellen Kongreßpartei haben dort ihre Heimstatt, und das Rennen um den Chefministerposten hat bereits begonnen. Mindestens ein halbes Dutzend Kandidaten, darunter als Prominentester Ajit Jogi, einflußreich auch im Führungszirkel um Parteichefin Sonia Gandhi, haben sich in der Partei zu Wort gemeldet und betreiben nun Lobbyarbeit. In der neuen Staatenversammlung wären BJP und Kongreß fast gleich stark, und die Hindunationalisten hoffen natürlich, vom Wahlvolk beim nächsten Urnengang ein deutliches Dankeschön für den jetzigen Schritt zu bekommen. Wie Vajpayee und andere Politiker befürchtet hatten, hat die Neuordnung aber auch weiterreichende Folgen. Mindestens zehn weitere Anwärter auf Staatenstatus haben sich einmal mehr zu Wort gemeldet, und auch Experten raten, bei den dreien nicht stehenzubleiben, sondern das föderale System noch weiter zu erneuern. Einflußreichste Bewegungen unter den jetzt noch Wartenden sind die Gorkhas, eingewanderte nepalesichstämmige Teeplantagen-Arbeiter im Norden von Westbengalen, sowie die Bewohner von Telengana, die die Loslösung vom südostindischen Andhra Pradesh betreiben. Während Vajpayee gern der linken Regierung von Westbengalen mit einem Gorkhaland-Gesetz einen Schuß vor den Bug verpassen würde, ginge das im zweiten Fall nicht. Andhra Pradeshs Chefminister Chandrababu Naidu hat im Zentralparlament 29 Abgeordnete und ist damit zweitgrößte Stütze der Regierungskoalition. Die geringste Bewegung in Richtung eines unabhängigen Telengana würde ihn zur Aufkündigung des Bündnisses treiben.

So sehr sich die Adivasis, eigentliche Ureinwohner Indiens, über die Erfüllung ihrer jahrzehntelangen Forderungen freuen, ist vieles allerdings leere Euphorie. Eine wirkliche politische Machtbeteiligung ist erst nach und nach zu erreichen, und am wirtschaftlichen Abfluß der Naturreichtümer läßt sich nicht immer etwas ändern. Viele Betriebe gehören Firmen aus gänzlich anderen Landesteilen oder sogar internationalen Konzernen - und die sind nur schwer zu kontrollieren.
Thomas Berger
Aus: junge welt, 14.08.00

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