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Indien bildet drei neue Unionsstaaten

Was kommt nach dem Lichterfest?

IM BLICKPUNKT Aus drei mach' sechs Neue Unionsstaaten in Indien Von Peter Isenegger (Neu-Delhi) Erstmals seit fast drei Jahrzehnten hat Indien seine internen Grenzen verändert, um für drei neue Unionsstaaten Raum zu schaffen. Mit Volksfesten und Feuerwerken wurde zu Beginn dieses Monats Chhattisgarh, der erste dieser drei Staaten, gegründet. Die anderen beiden, Uttaranchal und Jharkhand, sollen im Lauf der nächsten Monate folgen. Es sei gewesen, als wäre das Lichterfest Diwali eine Woche später noch einmal gefeiert worden, sagte ein müder, aber glücklicher junger Inder nach einer durchgefeierten Nacht in Raipur, der neuen Hauptstadt des ebenfalls neuen 26. indischen Unionsstaates Chhattisgarh. Tatsächlich erhielten die 17,5 Millionen Einwohner des östlichen und südlichsten Teils von Madhya Pradesh am 1. November ihr größtes Diwali-Geschenk aller Zeiten: die Unabhängigkeit von Madhya Pradesh. Die territoriale Abtrennung lässt Madhya Pradesh - einer der drei größten Gliedstaaten - um 135 000 Quadratkilometer (oder die Größe Griechenlands) schrumpfen. Genau das war eines der Hauptziele der Neuordnung. Es ist kein Zufall, dass die drei neuen Unionsstaaten ausgerechnet von den drei größten und bevölkerungsstärksten Unionsstaaten Uttar Pradesh, Madhya Pradesh und Bihar abgetrennt werden. Und allen drei neuen Gliedstaaten, deren Autonomiegelüste zum Teil bis auf die Zeit der Unabhängigkeit 1947 zurückreichen, war eines gemeinsam: Sie fühlten sich in ihren bisherigen Unionsstaaten als vernachlässigte und zum Teil sogar ausgebeutete Randgebiete. Jharkhand zum Beispiel, das aus den südlich des Ganges gelegenen Gebieten von Bihar gebildet wurde, steuerte dank seiner Kohlegruben und seiner Stahlindustrie rund 70 Prozent zum Haushalt Bihars bei. Trotzdem liegt in diesem Gebiet der Entwicklungsstand der Bevölkerung deutlich unter dem Durchschnitt. Ähnlich ist die Situation im benachbarten, mit Mineralvorkommen und Forsten reich gesegneten Chhattisgarh. Und auch in Uttaranchal, dem im Himalaja gelegenen neuen Unionsstaat, hat man das Gefühl, man habe zu viele Einnahmen aus dem blühenden Fremdenverkehr und der Wasserkraft auf Nimmerwiedersehen an die Unionshauptstadt Lucknow abliefern müssen. Verständlich, dass sich die drei großen Staaten lange gegen diese Amputationen wehrten. Nachdem sich aber sowohl die von der BJP angeführte Regierungskoalition wie auch die von Sonia Gandhis Congress geführte oppositionelle Allianz für die Verselbstständigung der drei Gebiete eingesetzt hatten, passierten die nötigen Verfassungsänderungen die parlamentarischen Hürden relativ leicht. Die für Indien fast schon einmalige Einigkeit zwischen Regierung und Opposition lässt sich in erster Linie auf die Erkenntnis zurückführen, dass kleiner in diesem Falle tatsächlich mit feiner gleichgesetzt werden kann. Zwischen den größeren und den kleineren Unionsstaaten gibt es in zweierlei Hinsicht ein Gefälle. Zum einen ein politisches Machtgefälle: Die großen Bundesstaaten verfügen im Zentrum über ein politisch ungesundes Übergewicht. Ein Drittel aller indischen Parlamentsabgeordneten stammt aus lediglich zwei Staaten - aus Uttar Pradesh und Bihar. Die zweite Kammer, das Oberhaus, hat zu wenig politischen Biss, um dieses Missverhältnis ausgleichen zu können. Umgekehrt sind die Gewichte im Alltagsleben verteilt. Dann nämlich stehen die kleineren Staaten in vielem bedeutend besser da als die großen. Das Pro-Kopf-Einkommen im Punjab etwa ist vier Mal höher als in Bihar. Die Kindersterblichkeit im relativ kleinen Kerala, wo fast 90 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben können, ist sechs Mal geringer als in Uttar Pradesh, wo das Analphabetentum noch immer bei 58 Prozent liegt. Die Zentralregierung hofft denn auch, durch die jüngste Umstrukturierung dasselbe zu erreichen wie durch die Abtrennung von Haryana und Himachal Pradesh vom Punjab in den 60er Jahren. Letztlich profitierten damals nämlich alle. Aus: Frankfurter Rundschau, 3. November 2000

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