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Parteigiganten sind auf Bündnispartner angewiesen

Erste Abstimmungsphase in 17 der 28 Unionsstaaten und -territorien

Von Hilmar König, Delhi *

Die erste Phase der Wahlen zum indischen Parlament geht am heutigen Donnerstag (16. April) in 17 Unionsstaaten und Unionsterritorien über die politische Bühne. Es folgen bis zum 13. Mai vier weitere Phasen. Am 2. Juni wird sich die 15. Lok Sabha, die Volksvertretung, konstituieren. Insgesamt 714 Millionen Bürger sind wahlberechtigt.

Chodipalli Lakshmana Dora aus dem südostindischen Unionsstaat Andhra Pradesh ist mit seinen 107 Lebensjahren der Methusalem unter den Wählern. Seit 1951 hat er bei jedem Votum seine Stimme abgegeben. »Wenn man sein Stimmrecht nicht wahrnimmt, dann gilt man in den Regierungsregistern als toter Mann«, begründete er vor Journalisten in der kleinen Siedlung Vaddivalasa, wo 30 Familien des indigenen Adhivasi-Stammes der Jatapus leben, seinen Entschluss, auch diesmal zu wählen. Obwohl seit langem erblindet und schlecht zu Fuß, wird er die Strapazen auf sich nehmen, von einem seiner Urenkel geführt, zum zwei Kilometer entfernten Wahllokal zu laufen oder -- wenn er Glück hat -- auf dem Gepäckträger eines Fahrrades dorthin gebracht zu werden.

Seit Jahrzehnten treibt ihn die Hoffnung an die Wahlurnen, dass seine kümmerliche Rente von derzeit 190 Rupien pro Monat (etwa drei Euro) doch noch aufgebessert und ihm die 500 Rupien, die ihm als Blindem eigentlich monatlich zustehen, ausgezahlt werden.

Neun Kandidaten für den Premiersposten

Wie Chodipalli Lakshmana Dora geben Millionen Inder ihre Stimme ab, weil sie erwarten, dass sich ihre miserablen Lebensbedingungen endlich verbessern. Die Meinungsforscher sind sich einig, dass die Wahlen auf lokaler Ebene entschieden werden, auch wenn es sich um das nationale Parlament handelt. Was im Dorf oder dem Stadtgebiet in den vergangenen fünf Jahren passierte, was sich dort zum Guten oder Schlechten verändert hat, welche »Berührungen« es mit dem Staat, seinen Beamten, Polizisten, seiner Macht und Gewalt gab, ob man zu den Gewinnern oder Verlierern der marktwirtschaftlichen Reformen gehört, all diese Erfahrungen beeinflussen die Entscheidung. Es handelt sich meist um ein Votum für oder gegen die Regierung des jeweiligen Unionsstaates. Die regionalen Ergebnisse summieren sich zum nationalen Endresultat.

Vor den Wahlen war keine »nationale Welle« spürbar, die eine der beiden großen Parteien -- die sozialdemokratisch geprägte, säkular ausgerichtete Kongresspartei und die rechte hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) -- oder eine von ihnen geführte Allianz an die Macht katapultieren würde. Gleiches trifft auf Politiker zu, die für das Amt des Premierministers in Frage kämen.

Mindestens neun Kandidaten sind im Gespräch: der jetzige Regierungschef Manmohan Singh (Kongresspartei), Lal Krishna Advani (BJP), Sharad Pawar (National Congress Party), Lalu Prasad Yadav (Rashtriya Janata Dal), Chandrababu Naidu (Telugu Desam), Deve Gowda (Janata Dal/Secular), Buddhadeb Bhattacharjee (KPI/Marxistisch) sowie die beiden weiblichen Bewerber Mayawati (Bahujan Samaj Party) und Jayalalithaa (All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam). Wie gesagt, keiner gilt als Favorit.

Die Beobachter sind sich einig, dass keine Einzelpartei genügend Stimmen zur Regierungsbildung bekommen wird. Es wird wie in den vergangenen 15 Jahren eine Koalitionsregierung geben. Wer sie dominieren wird, das ist die große Frage. Die Kongresspartei verzichtete auf die Bildung eines nationalen Wahlbündnisses und bevorzugte Einzelabsprachen mit verbündeten Parteien.

Nach der Wahl kommt die Zeit der Kuhhändel

Die BJP verlor einige ihrer starken Partner der Nationalen Demokratischen Allianz, gewann aber zugleich ein paar kleinere Parteien hinzu. Dennoch stehen ihre Chancen trotz eines aggressiven Wahlkampfes, in dem sich der 82 Jahre alte Parteiführer Advani als die »beste Option für die Nation« zu profilieren versuchte, nicht besonders gut. In Meinungsumfragen vom Januar landete sie jeweils auf dem zweiten Platz hinter der Kongresspartei und deren Allianz. Abgesehen vom »Hindu-Etikett« der BJP bestehen zwischen ihr und der Kongresspartei in der Außen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik kaum nennenswerte Unterschiede.

Kongressparteichefin Sonia Gandhi hat mit ihrer Einschätzung wenigstens teilweise recht, die BJP sei die »Stimme der Polarisierung, der Teilung und des Hasses. Unsere ist die Stimme der sozialen Gerechtigkeit, religiösen Harmonie und Einbeziehung.«

Beide Parteien haben die aus linken und regionalen Parteien gebildete »dritte Front« als »irrelevant«, als »verzweifelten Versuch, an die Macht zu kommen«, und als chancenlos abgetan, da Indiens politische Landschaft eben »bipolar« sei -- geteilt in BJP und Kongresspartei. Die dritte Front versteht sich als Alternative zu beiden Hauptparteien und beansprucht für sich, als einzige eine »politische Transformation« zustande bringen und den krassen Gegensatz zwischen dem »strahlenden und dem leidenden Indien« mildern zu können.

Obwohl sie sich auf kein Wahlmanifest einigen konnte, beruht diese Allianz laut KPI(M)-General- sekretär Prakash Karat auf vier Säulen: die Wirtschaftspolitik ändern; Säkularismus sichern; eine unabhängige Außenpolitik betreiben und die Beziehungen zwischen dem Zentrum und den Unionsstaaten restrukturieren. Zur dritten Front gibt es die wesentliche Frage, ob sie nach den Wahlen tatsächlich einen einflussreichen Block bilden oder zerfallen wird, weil sich einzelne Partner entweder der Allianz der Kongresspartei oder der BJP anschließen werden. Die meisten von ihnen kennen keine Berührungsängste mit beiden Lagern und waren zeitweilig in eine der beiden Gruppierungen integriert.

Seit einigen Wochen sorgt eine »vierte Front« für Schlagzeilen. Mulayam Singh Yadav (Chef der Samajwadi Party), Lalu Prasad Yadav (Rashtriya Janata Dal) und Ram Vilas Paswan (Lok Jan Shakti Party), in der Vergangenheit bei vielen Gelegenheiten unversöhnliche Kontrahenten, mutierten im März zu den »drei Brüdern«, wie sie sich selber betitelten, der »vierten Front«. Mit Sicherheit wird diese Front bei der Regierungsbildung ein gewichtiges, wenn nicht entscheidendes Wort mitreden.

Ein Zusammengehen der dritten und der vierten Front würde mit einem Schlag eine Regierung ermöglichen, die ohne Kongresspartei und ohne BJP fungieren kann. Mulayam Singh Yadav erklärte: »Ideologisch haben viele Parteien in der dritten Front uns ähnliche Positionen ... Wir würden künftig ein mächtiger sozialistischer säkularer Block sein.« Und Prakash Karat äußerte, nach dem Appell an alle Parteien, die nicht mit der BJP und der Kongresspartei koalieren wollen, in die dritte Front einzutreten, seien einige gekommen, »und einige mögen später kommen«.

Genau das ist der Schlüssel zur Bildung der nächsten Regierung, glaubt der Wahlexperte Yogendra Yadav vom Zentrum für Sozial- und Entwicklungsstudien. Nach seiner Einschätzung wird die Wahl in der sechsten Phase entschieden, nachdem das Endresultat vorliegt und die Verschiebungen in und Neuformierungen von Allianzen sowie der »Kuhhandel« um einzelne Abgeordnete beginnen. Auf diese Phase, so bedauert Yadav, habe der Wähler keinerlei Einfluss, was den Wert der »größten Demokratie der Welt« durchaus schmälert.

Zahlen und Fakten: Der Welt »größte Demokratie«

Indien gilt mit seinen mehr als 1,1 Milliarden Einwohnern als größte Demokratie der Welt. Die Wahlberechtigten der südasiatischen Atommacht sind zwischen 16. April und 13. Mai dazu aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Über 543 Mandate in ebenso vielen Wahlkreisen entscheiden die Bürger. Davon sind 131 Sitze für Angehörige benachteiligter Kasten und der indigenen Bevölkerung reserviert. Zudem beruft Präsidentin Pratibha Patil zwei Vertreter der anglo-indischen Minderheit in die Volksvertretung.

Aus organisatorischen Gründen findet die Wahl in fünf Etappen statt. In kleineren Unionsstaaten und -territorien wird an nur einem Tag gewählt. Es gilt das Mehrheitswahlrecht: Als gewählt gilt der Kandidat, der in seinem Wahlkreis die einfache Mehrheit der Stimmen erringt. Das Wahlalter beträgt 18 Jahre. Die Ergebnisse werden am 16. Mai verkündet.

Fast vier Millionen Helfer und mehr als zwei Millionen Sicherheitskräfte sollen für den reibungslosen Verlauf der Wahl sorgen. Die Wahlkommission will für die Abstimmung insgesamt 828 804 Wahllokale einrichten, wobei es in einem Nationalpark in Gujarat sogar ein Lokal für einen einzigen Wähler -- einen Priester -- geben soll. Nach 2004 kommen in diesem Jahr zum zweiten Mal landesweit elektronische Wahlmaschinen zum Einsatz.

Vor fünf Jahren warben 5435 Politiker um die Gunst der Wähler. 3050 Bewerber gingen für insgesamt 215 Parteien ins Rennen, die große Mehrheit davon Regionalparteien. Hinzu kamen 2385 unabhängige Kandidaten. In diesem Jahr dauert die Registrierung für die fünfte und letzte Wahlphase noch bis 24. April an. Die Wahlkommission hat für die Wahl zunächst Kosten von 8,5 Milliarden Rupien (125 Mio Euro) veranschlagt. Es wird jedoch erwartet, dass die tatsächlichen Ausgaben weit höher liegen werden. dpa/ND



* Aus: Neues Deutschland, 16. April 2009


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