Proteste in Westbengalen
Trotz Widerstands hält Chefminister an Industrialisierungsprojekt fest
Von Hilmar König, Delhi *
Westbengalens Linksfrontregierung sieht sich wegen eines großen Industrieprojekts, das auf
Farmland errichtet werden soll, scharfen Attacken der Partei Trinamool Congress (TC) und von
Menschenrechtlern ausgesetzt.
Medha Patkar, die namhafte Sozialaktivistin und Chefin der Umweltschutzbewegung »Rettet die
Narmada«, mischte sich am Wochenende in die heftige Kontroverse im indischen Unionsstaat
Westbengalen ein. Sie versuchte am Samstag, gemeinsam mit TC-Parteigängern einen Sitzstreik in
Singur im Hooghly-Distrikt zu organisieren, wo der Tata-Konzern eine Autofabrik errichten will. Frau
Patkar wurde vorübergehend von der Polizei festgenommen, weil sie mit ihrer Aktion angeblich
Sicherheitsbestimmungen verletzt hatte.
In verschiedenen Gebieten Westbengalens hielt der gewalttätige Protest des Trinamool Congress
auch am Sonntag an. Züge wurden in Brand gesetzt, Autos demoliert, die Howrah-Brücke und
Straßenkreuzungen in Kolkata blockiert, der Eisenbahnverkehr unterbrochen. Am Freitag hatte der
TC zu einem 12-stündigen Generalstreik aufgerufen. In dessen Verlauf wurde ein Mann getötet,
etliche Bürger erlitten Verletzungen. Die Polizei griff mit Tränengas und Schlagstöcken ein und nahm
über 2400 Personen wegen »Störung der öffentlichen Ordnung« in Gewahrsam. Am Vortag hatten
TC-Abgeordnete im Parlament Westbengalens ein Chaos angerichtet, Bänke und Tische
umgeworfen, Dokumente zerrissen, mit Stuhlbeinen und Mikrofonen um sich geworfen. Zehn
Menschen wurden dabei verletzt. Der kommunistische Chefminister Buddhadeb Bhattacharjee
sprach von »beispiellosem Vandalismus«, mit dem der TC sein Demokratieverständnis
demonstriere.
Buddhadeb Bhattacharjee ließ indes keinen Zweifel daran, dass das Projekt verwirklicht wird. Er
versicherte Ratan Tata, dem Chef eines der größten und ältesten indischen Großunternehmens,
dass alles Notwendige getan werde, um dem Konzern das Land für die Fabrik zu übergeben. 932
der 997 erforderlichen Acre in Singur seien von den Bauern freiwillig geräumt worden. Diese hätten
schon die Schecks für die finanzielle Entschädigung erhalten. Das Projekt genieße die
»überwältigende Unterstützung« der westbengalischen Bevölkerung, behauptete der Chefminister.
Nur eine kleine Zahl von nicht registrierten Kleinbauern und einige Landarbeiter, denen man bereits
alternative Beschäftigung angeboten hat, würden gegen das Vorhaben opponieren. Daraus wolle
der TC nun eine Widerstandsbewegung machen.
Tata beabsichtigt, in Singur den ersten indischen Kleinwagen zu produzieren, der nicht teurer als
100 000 Rupien (etwas weniger als 20 000 Euro) werden soll. Der Chefminister, der sich bemüht,
indisches und ausländisches Kapital nach Westbengalen zu locken und in der KPI (Marxistisch) zum
Reformflügel gehört, war bereits im Frühjahr mit einem anderen industriellen Großprojekt in die
Schlagzeilen geraten, als er der indonesischen Salim-Gruppe trotz vehementer Proteste ebenfalls
umstrittenes Land zur Verfügung stellen ließ. »Ich habe keine Anstrengungen gescheut, damit Tata
Motors das Werk in Singur und nicht in Uttaranchal (einem anderen Unionsstaat – H.K.) aufbaut. Es
wird der Region einen gewaltigen Entwicklungsimpuls geben und liegt mit Sicherheit im öffentlichen
Interesse«, begründete Bhattacharjee das Festhalten am Standort Singur.
* Aus: Neues Deutschland, 5. Dezember 2006
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