Zuspitzung der Lage in Westbengalen
Seit 34 Jahren regierende Linksfront erlebt bei Wahlen im Mai ihren Popularitätstest
Von Hilmar König *
Im indischen Unionsstaat Westbengalen, der von einer Linksfront regiert wird, spitzt sich die Lage
zu. Spätestens im Mai finden dort Wahlen zur Volksvertretung (Assembly) statt. Vorige Woche
wurden bei politisch motivierten Auseinandersetzungen sieben Menschen getötet und 17 verletzt.
Indiens Finanzminister Pranab Mukherjee bezeichnet die Lage in Westbengalen als »völlig
inakzeptabel«, Justizminister Veerappa Moily äußert sich besorgt und Innenminister Palaniappan
Chidambaram fordert den westbengalischen Chefminister Buddhadeb Bhattacharjee von der KPI
(Marxistisch) auf, zu Konsultationen nach Delhi zu kommen. Keine verheißungsvollen Vorzeichen für
die kommenden Wahlen.
Die seit fast 34 Jahren regierende, aus zwei kommunistischen und zwei anderen linken Parteien
bestehende Front hat bei vorangegangenen Kommunalwahlen und bei den Parlamentswahlen im
Mai 2009, als sie 20 Abgeordnetensitze verlor, deutlich Federn lassen müssen. Der Generalsekretär
der KP Indiens, Ardhendu Bhushan Bardhan, gibt im ND-Gespräch zu, dass es angesichts der
aggressiven Opposition, angeführt von der Partei Trinamool Congress (TMC), und der Attacken
maoistischer Rebellen sehr schwer wird, die bevorstehende Wahl gewinnen. Nilotpal Basu aus der
Führungsriege der KPI (Marxistisch) äußert sich ähnlich, wenn auch eine Nuance optimistischer.
Im westbengalischen Distrikt Purulia verweist Nikhil Mukherjee, Mitglied des Distriktsekretariats der
KP und Führer der Gewerkschaft CITU, zunächst auf Erfolge der Linksfront: 84 Prozent der Bauern
hätten von einer Landreform profitiert. Das in Westbengalen zuerst eingeführte System der
Gemeinderäte (Panchayats) habe die ländliche Entwicklung gefördert. Die Kaufkraft sei gestiegen.
80 Prozent der Bevölkerung nutzten das staatliche Gesundheitssystem. Bei Elektrifizierung und
Industrialisierung sei man vorangekommen, obwohl einige Großprojekte nicht verwirklicht wurden.
Eben deshalb sei die Linksfront in Westbengalen seit 34 Jahren an der Regierung. Und deshalb sei
der TMC als stärkste Oppositionspartei im Staat frustriert und wolle die Linksfront mit allen Mitteln
stürzen.
Alle Mittel, das heiße auch Gewaltanwendung, Verbrüderung mit der in Delhi regierenden
Kongresspartei, Kollaboration mit Sezessionisten und mit der maoistischen Guerilla. Deren Aufgabe
sei es, potenzielle Wähler zu terrorisieren und zu verunsichern, linke Kandidaten zu beseitigen und
die Wahlbeteiligung so gering wie möglich zu halten. Der skrupellosen Propaganda des TMC seien
bei den vorangegangenen Wahlen viele Bürger aufgesessen. Es habe – zugegeben – Rückschläge
für die Linken gegeben, doch von einem Desaster könne man nicht sprechen. Die Leute hätten
inzwischen begriffen, dass sie mit unhaltbaren Versprechungen betrogen worden waren. Eine
Rückkehrbewegung nach links sei im Gange. Man habe ein günstiges Echo auf ein Maßnahmepaket
bekommen, das unter anderem eine Sozialversicherung für Bau- und Transportarbeiter und Renten
für ärmere Bürger enthält. Das gebe Anlass zu Optimismus. »Wir rechnen mit einem Sieg, wenn er
auch knapper als in der Vergangenheit ausfällt«, schließt Nikhil Mukherjee.
Sein Gegenspieler in Purulia ist Kamaka Prasad Singh Deo, Vizechef des Distriktkomitees des TMC.
Er zieht eine ganz andere Bilanz: Die Linksfront habe Westbengalen hoch verschuldet und an den
Rand des Ruins gebracht. Ihre Industrialisierungsprojekte habe sie gegen die Bürger durchsetzen
wollen und vor allem die Frauen im Bereich Bildung vernachlässigt. Nach langer Trockenheit
herrsche akuter Mangel an Lebensmitteln. Die Linken in Kolkata (ehemals Kalkutta) würden damit
nicht fertig. Im Distrikt Purulia lebten heute 140 000 von insgesamt 2.9 Millionen Bewohnern unter
der Armutsgrenze. Das seien die wahren Gründe für die spektakulären Wahlgewinne des TMC.
Nach 34 Jahren »linker Misswirtschaft« sei es höchste Zeit für einen Wechsel. Der erst 1998
gegründete Trinamool Congress werde dafür sorgen und eine Wende einleiten. Zur charismatischen
TMC-Chefin Mamata Banerjee, die gegenwärtig das Amt der Eisenbahnministerin Indiens ausübt,
aber westbengalische Chefministerin werden will, gebe es keine Alternative. Auf ihren häufigen
Massenveranstaltungen sei immer mehr Zulauf festzustellen. »Die Leute wählen sie. Die jetzige
Welle der Zustimmung wird zum Tsunami anschwellen«, gibt sich Singh Deo überzeugt. Ihren
Wahrheitstest erfahren die Prognosen im Mai.
* Aus: Neues Deutschland, 12. Januar 2011
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