Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Wir sind linke Opposition zu 'linken' Regierungen"

Gespräch mit Dipankar Bhattacharya. Über den Niedergang der regierenden Linksfront im indischen Westbengalen, über Naxaliten, den bewaffneten Kampf und den maoistischen »Anarcho-Militarismus«


Dipankar Bhattacharya, Jahrgang 1960, ist Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten-Leninisten– Liberation) seit 1998. Diese war 1974 in Folge des Naxalbari-Bauernaufstands gegründet worden, aus denen auch eine starke maoistische Bewegung hervorging.
Die KPI (ML) hat etwa 110000 Mitglieder (2007). Im indischen Parlament ist sie nicht vertreten, ein Abgeordneter sitzt in der Volksvertretung des Bundesstaates Jharkhand. Ihre Gewerkschaft AICCTU hat 500000 Mitglieder. Die KPI (ML) verfügt über eigene Massenorganisationen der Jugend, Studenten, Frauen, Landarbeiter und Bauern.


Ab Mitte April wird im indischen Westbengalen gewählt. Mehrere Durchgänge sind – bis in den Mai hinein – vorgesehen. Dabei droht der Linksfront, die von der KPI (Marxistisch) geführt wird, eine schwere Niederlage, obwohl sie seit 1977 ununterbrochen regiert. Wie bewerten Sie die Lage?

Die Linksfront scheint auf der Verliererstraße zu sein. Jedenfalls nimmt man das weithin an. Bei den letzten Assembly-Wahlen zum Regionalparlament im April/Mai 2006 gaben ihr die Wähler noch eine Mehrheit von 80 Prozent. Aber seitdem büßt sie rapide an Boden ein. Das zeigten die Abstimmungen zu den Gemeinderäten (Panchayats) im Jahre 2008, zum Parlament in Neu-Delhi (Lok Sabha) 2009 sowie zu den Stadtverordnetenversammlungen im Jahre 2010. Trotzdem glauben Kreise der KPI (Marxistisch), daß sie inzwischen wieder Anhang gewonnen haben und besser abschneiden würden als bei der Wahl zur Lok Sabha. Doch im privaten Gespräch geben selbst sie zu, daß sie keineswegs zuversichtlich sind, einen weiteren Wahlsieg zu erringen.

Tritt Ihre Partei, die der Linksfront nicht angehört, mit eigenen Kandidaten an?

Wir beteiligen uns unabhängig mit wahrscheinlich 35 Kandidaten für die 294 Sitze in der Assembly, dem Parlament. Wir überlegen uns auch Möglichkeiten, Absprachen mit anderen linken Gruppen zu treffen, die mit unserer Position übereinstimmen. Diese besteht darin, gleichzeitig Opposition gegen die Kombina­tion aus TMC und Kongreßpartei sowie gegen die jetzt gründlich diskreditierte herrschende »Linksfront« aus KPI, KPI (Marxistisch), Revolutionären Sozialisten und Allindischem Vorwärtsblock zu machen.

Welche Position nimmt die KPI (ML) zum bewaffneten Kampf und zur »Annihilation«, der physischen Beseitigung von Feinden, ein?

Im gegenwärtigen Entwicklungsstadium des revolutionären Kampfes betrachten wir den bewaffneten Kampf nicht als Hauptform unseres Wirkens. Die Anwendung von Gewalt muß mit den Notwendigkeiten der Bewegung korrespondieren und ihr dienen. Die Politik hat über den Einsatz von Waffen zu entscheiden und nicht andersherum. Natürlich muß die revolutionäre Bewegung, wo immer nötig, bereit sein, sich gegenüber gewaltsamen Attacken zu verteidigen. Wir halten nichts von der Annihilation als eine Politik oder als eine isolierte, generelle Kampagne. Freilich mag es im Verlauf intensiver antifeudaler Kämpfe Fälle von physischer Vernichtung verhaßter Großgrundbesitzer und eingefleischter Feinde des Volkes geben.

Was halten Sie vom bürgerlich-parlamentarischen System?

Kommunisten müssen lernen, verschiedene Formen des Kampfes zu kombinieren und die bürgerliche Hegemonie auf jedem Gebiet herauszufordern. In Indien müssen Sie deshalb den parlamentarischen Kampf als einen wichtigen und integralen Teil der revolutionären Bewegung betrachten, ohne der Illusion zu verfallen, eine Revolution auf parlamentarischem Wege zu erreichen. Wenn es die Bedingungen erfordern, muß man auch zur Taktik greifen, Wahlen zu boykottieren.

Welches Ziel verfolgt Ihrer Meinung nach die 2004 gegründete KPI (Maoistisch)?

Die KPI (Maoistisch) behauptet, für eine Neue Demokratische Revolution in In­dien auf dieselbe Art zu wirken, wie es die Chinesen in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts getan haben. Trotz vieler Ähnlichkeiten zwischen China und Indien ist es jedoch absolut zwingend, daß revolutionäre Kommunisten fähig sind, die entscheidenden Unterschiede zu erkennen, besonders im Bereich des Überbaus. Es ist nicht möglich, im heutigen Indien die chinesische Erfahrung zu kopieren. Dabei geben die Maoisten tatsächlich eine Karikatur derselben ab und machen Maos Lehren zum Gespött der Leute.

Sie haben ihre Theorie und Praxis des bewaffneten Kampfes im wesentlichen abgetrennt von jeglicher Form politischer Massenaktion. Das exklusive Vertrauen auf bewaffneten Kampf und auf ein dogmatisches Festhalten am Boykott haben sie zu einer effektiven Negation von Politik getrieben. In diesem Sinne benehmen sie sich tatsächlich wie Anarchisten. Deshalb nennen wir sie Anarcho-Militaristen, wie man in Europa von Anarcho-Syndikalisten spricht. Im übrigen ist festzustellen, daß die Maoisten in Wirklichkeit während Wahlkampagnen alle Arten von Arrangements mit bürgerlichen Parteien und Politikern treffen.

Ihre Partei beruft sich auf die Bewegung der Naxaliten. Was unterscheidet sie von den Marxisten?

Die Bezeichnung Naxaliten wurde verwendet, um die kommunistischen Revolutionäre im Gefolge des Bauernaufstands vom Mai 1967 im Dorf Naxalbari in Westbengalen zu beschreiben. Die KPI (ML) ging aus dem Erbe dieses Aufstands hervor und wurde bekannt unter dem Namen Naxalitenbewegung. So wurde die KPI (ML) durch ihre Befürwortung des bewaffneten Kampfes, des Boykotts von Wahlen und durch ihre Untergrundorganisationen von der KPI (Marxistisch) und der KP Indiens unterschieden. Für die Medien wurden dies die charakteristischen Merkmale des Naxalismus.

Doch nach dem anfänglichen Rückschlag der Bewegung, als sich die KPI (ML) wiederbelebte, veränderte sie ihre Taktik, legte stärkste Betonung auf Mobilisierung der Armen in den ländlichen Gebieten als eine bestimmte politische Kraft, bildete Massenorganisationen, mischte sich in Wahlkämpfe ein und kam schließlich in den frühen 1990er Jahren aus dem Untergrund. Eine Abteilung der heutigen Maoisten, die sich KPI (ML – People’s War Group) nannte, begann anfangs ebenfalls mit einer beeindruckenden Mobilisierung der ländlichen Armen im Bundesstaat Andhra Pradesh. Aber angesichts der Repression seitens des Staates zog sie sich in die Wälder und auf ausschließlich bewaffnete Aktionen zurück

Wie steht es um die Entwicklung der maoistischen Kommunistischen Partei?

Die jetzige KPI (Maoistisch) ist das Produkt einer Vereinigung der PWG mit dem einstigen Maoistischen Kommunistischen Zentrum, das in einigen Gebieten in den Bundesstaaten Bihar und Jharkhand seit den späten 1960er und frühen 1970er Jahren tätig war, ohne jemals Teil der KPI (ML) gewesen zu sein. So hat sich das Erbe der Naxaliten in zwei verschiedene Richtungen entwickelt – einerseits die KPI (ML – Libera­tion) und einige andere Gruppen, die den politischen Massenkampf betonen, und andererseits die Maoisten, die sich zunehmend eben im Anarcho-Militarismus verzetteln.

Vor diesem Hintergrund muß aber auch zugegeben werden, daß die Maoisten die Möglichkeit aufgezeigt haben, die indigenen Gruppen zu bewaffneten Aktionen zu bewegen. Der aggressive Raub von Land, Wasser, Wald und Bodenschätzen seitens der Konzerne hat sie in einen verzweifelten Überlebenskampf getrieben. Das bereitet den Maoisten einen fruchtbaren Boden und ein geeignetes Umfeld. Leider werden sie den Möglichkeiten mit der ausschließlichen Betonung von bewaffneten Aktivitäten nicht gerecht.

Unterhält Ihre Partei Kontakte zu den Maoisten? Sehen Sie Möglichkeiten, die Maoisten zu beeinflussen?

Wir haben keinerlei Kontakte zu den Maoisten. Unsere operativen Funktionsbereiche sind klar abgesteckt, und es gibt wenig Gemeinsamkeiten. In Bihar und Jharkhand wurden viele unserer Genossen, einschließlich bedeutender Führer, von den Maoisten getötet. Aber wir haben stets aufgepaßt, nicht in einen Zermürbungskampf verwickelt zu werden. Statt dessen haben wir sie politisch bloßgestellt. Und sie haben in den meisten unserer Wirkungsfelder an Boden verloren.

Wir lehnen das maoistische Vorgehen ab. Zugleich sind wir entschieden gegen die unter dem Vorwand, die »maoistische Bedrohung« auszuradieren, entfesselte politisch-militärische Kampagne des indischen Staates, die den Codenamen Operation Greenhunt (der Einsatz militärischer Mittel des Staates gegen Maoisten, Sympathisanten und aufbegehrende Indigene– H.K.) trägt. Wir bewerten das als einen Krieg gegen den Kampf des Volkes und gegen die in der Verfassung versprochenen demokratischen Rechte. Wir glauben, daß die Maoisten nur durch Erfahrungen, die das wirkliche Leben lehrt, beeinflußt werden können – wenn sie bereit sind, ihre Lektionen zu lernen. Trotz ihrer militärischen Macht ist ihr politischer Bankrott immer wieder erkennbar geworden. Es ist an der Zeit, daß denkende Kreise unter den Maoisten einen neuen und kritischen Blick auf ihre eigenen Erfahrungen werfen.

Wie sind die Kontakte der KPI (ML) zu den Linken in Nepal? Fühlen Sie sich der Vereinten KP Nepals (Maoistisch) von Prachanda oder den Vereinten Marxisten-Leninisten näher? Oder bewahren Sie gleichen Abstand?

Seit den Tagen von Naxalbari haben wir brüderliche Beziehungen zu den revolutionären Kommunisten in Nepal unterhalten. Anfangs hieß die Partei in Nepal KPN (ML) und in den späten 1980ern und frühen 1990ern wurde sie durch den Zusammenschluß der KPN (ML) mit einigen anderen kommunistischen Kräften zur KPN (Vereinte Marxisten und Leninisten). Mit den Maoisten Nepals haben wir keine formellen Beziehungen, schätzen jedoch ihre Rolle im Aufstand gegen die Monarchie sowie beim anhaltenden Versuch eines Übergangs zu einem republikanischen demokratischen Nepal. Um diesen Prozeß voranzutreiben, ist es notwendig, daß die Marxisten/Leninisten und die Maoisten in der Lage sind, zusammenzuarbeiten.

Welche wesentlichen unterschiedlichen Auffassungen bestehen zwischen der KPI (ML) und den anderen beiden kommunistischen Parteien in Indien?

Wir haben hauptsächliche programmatische und taktische Differenzen mit der KPI (Marxistisch) und der KPI. Zusammengefaßt können wir sagen, diese Parteien unterschätzen die Hartnäckigkeit feudaler Überreste in Indien und somit die Bedeutung antifeudalistischer Kämpfe. Sie überschätzen auch den gelegentlichen Interessenkonflikt zwischen dem indischen Großkapital und dem globalen Kapitalismus und Imperialismus, und sie hegen Illusionen bezüglich des sogenannten antiimperialistischen Charakters der indischen Bourgeoisie. Natürlich haben diese programmatischen Unterschiede ernste taktische Auswirkungen.

In Bundesstaaten, wo diese Parteien an der Regierung sind, verwirklichen sie zunehmend die ganze Skala neoliberaler Politik, und uns bleibt nicht anderes übrig, als dagegen aufzutreten. Dies bedeutet: Wir sind eine linke Opposition zu »linken« Regierungen, in Bundesstaaten, in denen Linke an der Macht sind. In den Bundesstaaten, in denen sie in der Opposition sind, haben wir gelegentliche gemeinsame Kämpfe oder politische Kooperation, in einigen Fällen sogar Wahlabsprachen. Aber auf nationaler politischer Ebene sind sie meistens verbündet mit bürgerlichen Parteien. Dabei ordnen sie Kämpfe der Bevölkerung Wahlkalkulationen unter. Und um einen oder zwei Abgeordnetensitze zu erhalten oder einen Platz in einer bürgerlichen Regierung, opfern sie Volksinteressen auf dem Altar dessen, was nur als eine Ausweitung bourgeoiser Koalitionspolitik genannt werden kann. Für uns haben stets die Interessen des Volkes und seine Kämpfe sowie eine unabhängige linke Identität und linke Programme das Primat.

Wie steht es um linke Einheit in Indien? Auf welchem Niveau arbeitet Ihre Partei mit der KPI und KPI (Marxistisch) zusammen?

Es gibt zwei widerstreitende Visionen von linker Einheit in Indien. Eine wird von der KPI (Marxistisch) vertreten und die andere von unserer Partei. Das marxistische Modell von linker Einheit ist eng gefaßt und beabsichtigt, nur die Linksfrontregierungen an der Macht zu halten. Unsere Vision ist breiter angelegt und kampforientiert. Trotz der ernsten Differenzen mit der KPI (Marxistisch) sind wir offen für die Idee vereinter Kämpfe, wo auch immer das möglich ist. Im August 2010 haben wir eine All India Left Coordination ins Leben gerufen, die aus unserer Partei und drei anderen linken Organisationen besteht: der KPM Punjab, dem Left Coordination Committee Kerala – beide sprangen aus ideologischen Gründen von der KPI (Marxistisch) ab – und der Lal Nishan Party (Leninist) von Maharashtra. Unser beharrliches Motto bleibt die Reorientierung linker Kräfte und die Radikalisierung der linken Bewegung.

Der korrekte Name Ihrer Partei ist KPI (ML –Liberation). Liberation, also Befreiung, steht wofür? Wovon befreit?

Der Name »Liberation« bezieht sich auf das Zentralorgan unserer Partei. Dessen Herausgabe begann etwa zur Zeit des Bauernaufstands von Naxalbari. Die KPI (ML) hat dieses in englisch erscheinende Blatt von Anfang an adoptiert. Wir mußten das Anhängsel »Liberation« zu unserem Parteinamen hinzufügen, weil Indiens Wahlkommission es ablehnte, uns als KPI (ML) zu registrieren. Sie argumentierte, diese Bezeichnung sei der KPI oder KPI (M) zu ähnlich und könnte deren Wähler verwirren.

Wo ist Ihr Einfluß am stärksten?

In Bihar und Jharkhand, den Bundesstaaten des sogenannten Hindi-Gürtels. Recht aktive Grundorganisationen haben wir auch in Assam, Tripura, Westbengalen, Orissa, Uttar Pradesh, Uttarakhand, Delhi, Punjab, Rajasthan, Andhra Pradesh und Tamil Nadu. Anhang gewinnen wir zudem in Karnataka und Chhattisgarh.

Und die Massenorganisationen?

Da existiert schon ein umfassendes Netzwerk. Die All India Agriculture Labour Association wurde im November 2003 gegründet und verfügt jetzt über mehr als zwei Millionen Mitglieder. Die All India Kisan Mahasabha (Bauernvereinigung) startete im Mai 2010 und hat über 300000 Mitglieder. Der All India Central Council of Trade Unions ist eine anerkannte zentrale Gewerkschafts­union mit mehr als 500000 Mitgliedern. Er hat Einfluß unter nicht organisierten Arbeitern in verschiedenen Bundesstaaten sowie unter organisierten Arbeitern in Tamil Nadu, Jharkhand und Assam. Wir haben außerdem Organisationen für Beamte, Lehrer, Hilfskräfte in Behörden, die All India Progressive Women’s Association, die einen guten Ruf im Ringen um Frauenrechte und gegen feudale, patriarchalische Unterdrückung im Hindi-Gürtel hat.

Die All India Students’ Association, ein vertrauter Name an den Universitäten in Bihar, Uttar Pradesh, Uttarakhand und Delhi, drückt gegenwärtig der Union an der Jawaharlal-Nehru-University in Delhi den Stempel auf. Andere unserer Organisationen sind die Revolutionäre Jugendassoziation, Vereinigungen von Kultur- und Literaturschaffenden sowie die kulturelle Plattform des Volks »Jan Sanskriti Manch«. Bemühungen sind im Gange, eine Bewegung für Volksgesundheit zu entwickeln.

Interview: Hilmar König

* Aus: junge Welt, 9. April 2011


Zurück zur Indien-Seite

Zurück zur Homepage