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Der Korridor der Vertreibung

In Indien wächst der Widerstand gegen ein von der Regierung geplantes Megaindustrieprojekt *


Im Rahmen einer Rundreise im Mai durch mehrere deutsche Städte berichteten Ulka Mahajan (l.) und Madhuresh Kumar von den Kämpfen der sozialen Bewegungen in Indien gegen das gegenwärtige Modernisierungsprojekt und für einen anderen Entwicklungsweg. Mahajan ist in der Bewegung der arbeitenden Bevölkerung »Sarvahara Jana Andolan« organisiert, Kumar ist Koordinator des »Nationalen Zusammenschlusses von Basisbewegungen« (NAPM.). Sie sind an dem kürzlich im Verlag Assoziation A erschienenen Buch »Speak Up! – Sozialer Aufbruch und Widerstand in Indien« beteiligt. Mit Ihnen sprach für »nd« Jürgen Weber.

Seit zwei Jahrzehnten stellen sich soziale Bewegungen in Indien dem neoliberalen Modernisierungsprogramm, das die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen zerstört, in den Weg. Welche gemeinsamen inhaltlichen und aktionsorientierten Anknüpfungspunkte hatten die Bewegungen in der Vergangenheit?

Madhuresh Kumar: Sicherlich bildeten die Kämpfe gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen einen gemeinsamen Schwerpunkt; besonders in den Unionsstaaten, in denen mehrheitlich Adivasi, das heißt, indigene Bevölkerungsgruppen leben. Das Land, die Wälder und Flüsse betrachten wir nicht als das Eigentum der indischen Regierung und der Konzerne – sie gehören den Menschen. Das heißt, die Bewegungen haben versucht, die Lebensgrundlagen und die Produktionsweise vor allem der Adivasi zu verteidigen.

Ulka Mahajan: Ein anderer, von vielen Bewegungen in Indien aufgegriffener Kampf war der für ein würdevolles Leben von Frauen, Dalits (ehemals sogenannten Unberührbaren), Adivasi, der marginalisierten Klassen, aber auch von Muslimen und Anhängern anderer Glaubensrichtungen. Und die Kampagne für das Recht auf Information spielte in den letzten zwei Jahrzehnten ebenfalls eine zentrale Rolle für alle soziale Bewegungen. So unterschiedlich die einzelnen sozialen Bewegungen und Strömungen auch politisch ausgerichtet waren und sind, an diesen Kämpfen beteiligten sich mehr oder weniger alle.

Ihr arbeitet beide in dem »Nationalen Zusammenschluss von Basisbewegungen« (NAPM) und habt im März an einer von der NAPM organisierten Karawane von Mumbai nach Delhi teilgenommen. Worum ging es dabei?

Madhuresh Kumar: Als NAPM haben wir uns dafür entschieden gegen ein Projekt zu kämpfen, von dem erstmals 2007 zu hören war. Es handelt sich um einen riesigen, 1500 Kilometer langen und 300 Kilometer breiten Industriekorridor, der sich von Delhi bis nach Mumbai erstreckt. Geplant sind neben Industrieclustern auch sogenannte Öko-Städte und der Ausbau der Verkehrs- und Energieinfrastruktur. Es ist aktuell das umfassendste sogenannte Infrastrukturprojekt der indischen Regierung und es betrifft rund 14 Prozent der gesamten Landfläche Indiens und nahezu 200 Millionen Menschen!

Ulka Mahajan: Die Karawane, an der 25 Aktivisten an zehn Tagen an verschiedenen Orten Station machten, wurde organisiert, um die betroffene Bevölkerung zu informieren. Es war wohl das erste Mal, dass jemand in diese Orte gekommen ist, um darüber aufzuklären, was das Projekt, sollte es tatsächlich umgesetzt werden, für die Menschen möglicherweise bedeutet. Zum Abschluss gab es in Delhi eine große Demonstration von Bauernorganisationen und Landrechtebewegungen. Die Reaktionen der Bevölkerung waren eindeutig: Diese Art von Entwicklung, die ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensgrundlagen zerstört, wird von ihnen abgelehnt.

Die indische Regierung wirbt damit, dass sich durch dieses Projekt die gesamte Region wirtschaftlich entwickeln ließe ...

Madhuresh Kumar: ... vermutlich wird das Gegenteil eintreten, das Projekt wird zu Vertreibungen und der Verelendung von vielen Millionen Menschen führen. Fundamentale Prinzipien der Entwicklungsplanung werden verletzt: Es gibt weder Umweltverträglichkeitsprüfungen, noch werden die sozialen Kosten in Betracht gezogen. Für die in diesem Korridor lebende Bevölkerung, wird es keine Entwicklung geben – die beteiligten Unternehmen dagegen werden riesige Gewinne einstreichen können.

Ein solches Vorhaben kostet viel Geld, wie soll das überhaupt finanziert werden?

Ulka Mahajan: Heute wird von 90 Milliarden US-Dollar Projektkosten ausgegangen. An der Finanzierung ist neben der indischen Regierung auch die japanische Regierung beteiligt. Viele Projekte werden als Vorhaben der öffentlich-privaten Partnerschaft ausgeschrieben. Die indische Regierung hat im letzten Jahr das Investitionsinteresse unter anderen der belgischen und der deutschen Regierung bestätigt. Von deutschen Unternehmen erhofft sie sich vor allem die Unterstützung beim Ausbau grüner Technologien.

Im Rahmen einer Veranstaltungsreise zu einem kürzlich erschienenen Buch zu sozialen Bewegungen in Indien, habt Ihr um Solidarität mit den Kämpfen gegen den Industriekorridor geworben ...

Ulka Mahajan: Ja, wir müssen heute intensiver zusammenarbeiten, denn solche Projekte müssen verhindert werden. Es muss, in Indien wie auch hier in Deutschland, klar gesagt werden, dass mit dem Investment in ein solches Projekt nicht etwa »Entwicklung« einhergeht, sondern Zerstörung und Vertreibung. Und das sie zutiefst undemokratisch sind, denn wesentliche demokratische Prinzipien werden in diesen Industriecluster außer Kraft gesetzt, wie das Recht der lokalen Selbstverwaltungsorgane sich gegen solche Vorhaben auszusprechen. Dagegen wollen wir gemeinsam mit deutschen Organisationen und Bewegungen kämpfen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 4. Juni 2013


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