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Die Lunte am Himalaja

Indien–Pakistan: Wer schützt den Subkontinent vor seinen Führern? Von Joseph Keve, Bombay

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 24. Januar 2002, der auf mögliche Hintergründe des Anschlags auf das US-amerikanische Kulturzentrum in Kalkutta wenige Tage zuvor eingeht. Der Artikel wurde von uns gekürzt.


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Seit der Teilung des indischen Subkontinents im Jahre 1947 haben die Führer von Indien und Pakistan aufeinander eingeredet. Sie haben zwei Kriege geführt (1965 und 1971), sie haben ihr atomares Potenzial ausgebaut, und sie haben jetzt wieder ihre Kriegsmaschinerie an der Grenze aufziehen lassen. In beiden Ländern leben Millionen in bitterer Armut, aber das ist den PolitikerInnen weit weniger wichtig als der Wunsch, die Gegenseite zu vernichten. Jeder Inder, jede Inderin trägt eine Schuldenlast von umgerechnet 103 US-Dollar, jedeR Pakistani ist mit 350 Dollar belastet. Dennoch befinden sich beide Länder wieder auf Einkaufstour – noch mehr Kampfjets, noch mehr Munition. Alle sind bereit zum nächsten Waffengang. Auf den Startbahnen stehen schwer beladene Bomber und warten nur auf das Kommando, die Panzer sind schon längst an die Grenze gerasselt, Kriegsschiffe durchpflügen das Arabische Meer. Die Regierungen reden nicht mehr miteinander, der Reiseverkehr zwischen beiden Ländern wurde unterbrochen, wer trotzdem Kontakt sucht, macht sich verdächtig. Die Menschen ducken sich weg, sie spüren ihre Ohnmacht. Gibt es einen Ausweg? ...

Die Saat des «Kaschmir-Problems» haben die Briten gestreut, als sie 1947 den Subkontinent verliessen. Die Zukunft der Täler an den Südhängen des Himalaja wurde im Indian Independence Act of 1947 bestimmt, der die Machtübergabe und die Teilung von Britisch-Indien in Indien und Pakistan regelte, den Fürsten aber die Souveränität über ihre Gebiete zurückgab: «Sie sind frei, sich Indien oder Pakistan anzuschliessen (...) oder unabhängig zu bleiben.» Eine Unabhängigkeit kam für die meisten Fürstenstaaten nicht in Frage, da ihre Gebiete von Indien beziehungsweise Pakistan gänzlich umschlossen waren; Kaschmir jedoch, wo eine Hindu-Dynastie eine muslimische Mehrheit regierte, liegt am Rande. Während Kaschmirs König Hari Singh noch mit der Unabhängigkeit liebäugelte, marschierten Truppen in Kaschmir ein. Die Invasoren – pakistanische Soldaten, vor allem aber Freischärler – brandschatzten, plünderten, vergewaltigten und verdarben sich so alle Sympathien, die die muslimischen Kaschmiris für ihre «Befreier» gehegt haben mochten. Hari Singh bat Neu-Delhi um militärische Hilfe und entschied sich für einen Beitritt zu Indien. Die indische Armee konnte die Eindringlinge zurücktreiben, und so kam die Waffenstillstandslinie zustande, die heute noch umstrittene indisch-pakistanische Grenze. 1948 beklagte sich Indien beim Uno-Sicherheitsrat über Pakistans fortwährende Unterstützung für Freischärler und versprach, in Kaschmir eine Volksabstimmung über die Beitrittsfrage beziehungsweise Unabhängigkeit abzuhalten.

Doch dieses Versprechen wurde nie eingelöst. Stattdessen hat die indische Zentralregierung, zu deren Gunsten ein Referendum anfangs möglicherweise ausgefallen wäre, den populären Anführer der Kaschmiris, Scheich Abdullah, immer wieder eingesperrt. Jawaharlal Nehru, der bei Abdullah im Wort stand, hatte dem Drängen der Chauvinisten in den eigenen Reihen nachgegeben, die schon damals keine Debatte über Kaschmirs Zukunft erlauben wollten. Danach ist das Problem immer komplexer geworden. Inzwischen tummeln sich in Kaschmir zahllose Organisationen mit höchst unterschiedlichen Vorstellungen und Zielen, während die Bevölkerung immer stärker unter Armut leidet, unter Arbeitslosigkeit, Korruption, undemokratischen Verhältnissen, Menschenrechtsverletzungen, Übergriffen der (indischen) Sicherheitskräfte, Attacken der von Pakistan eingeschleusten und unterstützten Freischärler. Die permanente Ausnahmesituation, die zahllosen Toten und das Desinteresse der politischen Führungen in Delhi und Islamabad haben dazu geführt, dass die kaschmirische Bevölkerung nur noch in Ruhe gelassen werden will. Sie fordert vor allem jene Autonomie, die ihr im Anschlussvertrag zugesichert worden war. Eine Umfrage, die vor kurzem im Auftrag des indischen Magazins «Outlook» vorgenommen wurde, ergab, dass 74 Prozent der Kaschmiris ein separates Gebilde Kaschmir wünschen. In dieser Richtung läge auch eine Lösung des Problems – ein autonomes Kaschmir, dessen Eigenständigkeit von Indien und Pakistan gemeinsam garantiert würde. Nur: Davon wollen beide Staaten nichts wissen.

Das neue Mantra

«Delhi liebt den Terroristen, weil er eine Ausrede für das Nichtstun liefert», schrieb Mitte Dezember der angesehene Journalist Shekhar Gupta in der Tageszeitung «Indian Express», «die Opferrolle bietet den Faulen und einer untätigen Regierung die letzte Zuflucht.» ... «Terrorismus» ist längst zum Mantra geworden, das Wort rechtfertigt jedwedes Vorgehen – Bürgerrechte werden ausgehöhlt, die Meinungsfreiheit ist längst eingeschränkt. Die hinduistische Bharatiya Janata Party (BJP) wusste die neue Weltlage nach dem 11. September schnell zu nutzen: Wenn die USA gegen Terroristen in Afghanistan vorgehen dürften, dann dürfe Indien ja wohl auch den Terror in Kaschmir bekämpfen, argumentierte die regierende BJP und begann, den pakistanischen Teil Kaschmirs zu beschiessen. Im Innern präsentierten die Hinduisten ein Antiterrorgesetz, das zentrale Rechte erheblich beschneidet (...). Als Medien und Menschenrechtsorganisationen protestierten und das Parlament die Zustimmung versagte, setzte die Regierung die Massnahmen auf dem Weg einer Sonderverordnung durch und sofort um. Dabei tat sie zuerst das, was sie schon lange tun wollte – sie verbot muslimische Organisationen wie die Islamische Studentenbewegung und beschlagnahmte die Vermögen muslimischer Familien und Vereinigungen. Ein ähnliches Vorgehen hatten in den letzten Jahren MenschenrechtlerInnen und Bürgerinitiativen gegen Gruppen wie den Nationalen Selbsthilfe-Bund RSS oder den Welthindurat Vishva Hindu Parishad (VHP) verlangt – vergebens. Dabei waren die BJP-nahen Organisationen für zahllose Terrorakte an ethnischen Minderheiten verantwortlich. RSS und VHP streben eine reine Hindu-Nation an und lehnen pluralistische Traditionen sowie die säkulare Verfassung Indiens strikt ab. Ihre auch von der Regierungspartei BJP geförderten Anstrengungen, Artikel 370 der indischen Verfassung zu revidieren, hat nicht nur die 120 Millionen Muslime verschreckt. Dieser Artikel legt den Sonderstatus und die regionale Autonomie von Kaschmir fest – ein viel zu grosses Zugeständnis an die Muslime, wie Regierungsmitglieder meinen.

Die ständige Hetze der hinduistischen Fundamentalisten alarmiert in zunehmendem Masse ethnische, religiöse und kulturelle Minderheiten im ganzen Land und fördert Abspaltungstendenzen. So haben am Wochenende zwölf regionale Gruppierungen im indischen Nordosten beschlossen, die Feierlichkeiten am Republic Day (26. Januar) zu boykottieren. Dieser Tag, so heisst es in ihrer gemeinsamen Erklärung, «symbolisiert die kolonialen Fesseln unter der repressiven indischen Besatzung». In anderen Gegenden entstehen allmählich ähnliche Bewegungen. Um Entwicklungen wie in Kaschmir oder dem Nordosten zu verhindern, müssten die Menschen gewonnen werden. Doch RSS und VHP tun das genaue Gegenteil. Am letzten Sonntag (20. Januar) hat der VHP in Ayodhya einen Marsch auf Delhi begonnen, an dem 5.000 Hindupriester und bis zu 200.000 Gläubige teilnehmen; sie verlangen, dass sofort mit dem Bau des Ram-Tempels in Ayodhya begonnen wird. Der Tempel soll an Stelle der alten Babri-Moschee errichtet werden, die 1990 von religiösen Fanatikern unter der Führung der BJP zerstört worden war. Darauf kam es im ganzen Land zu Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems, in deren Verlauf mehrere hundert Menschen starben. ...

Entscheidungswahl für Vajpayee

Ayodhya liegt in Uttar Pradesh, dem bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaat. In den nächsten Wochen werden dort einhundert Millionen StimmbürgerInnen über die Zusammensetzung des Regionalparlaments entscheiden. Entwicklungen in Uttar Pradesh (UP) gelten seit langem als richtungweisend; wenn die BJP in dieser Hochburg die Wahl verliert, könnten auch die Tage der Zentralregierung von Premierminister Atal Behari Vajpayee gezählt sein. Da die BJP bisher weder in UP noch in Neu-Delhi grosse innenpolitische Verdienste vorzuweisen hat, kam den Hinduisten der 11. September gelegen – sie konnten das Augenmerk auf äussere wie innere Feinde lenken. Pakistan bietet sich immer an. Der Anschlag im Parlamentsviertel von Delhi Mitte Dezember verstärkte noch die Hysterie. Sie hat jede Teestube erreicht, wo sich alle über Zeitungen beugen und die neuesten Nachrichten über den «bevorstehenden Krieg» verschlingen. Das Attentat auf die US-Einrichtung in Kalkutta am Dienstag verstärkte noch die nationalistische Stimmung. ... In der letzten UP-Wahl von 1996 hatte die BJP 32 Prozent der Sitze erringen können, gerade genug, um eine Koalitionsregierung zu bilden. UP-Chefminister Rajnath Singh unternimmt derzeit alles, um sein Amt zu halten. Er hat den LehrerInnen die Löhne erhöht, den HändlerInnen Steuersenkungen versprochen, den Bauern und Bäuerinnen höhere Preise garantiert und nebenbei auch noch viele Muslime aus den Wahlregistern streichen lassen (dafür wurden Hindu-Namen eingesetzt – in einem Dorf darf ein Mister Inder Singh gleich 37 Mal wählen). Aber genügt das? In den neunziger Jahren haben nämlich die Unberührbaren und die niederen Kasten an politischem Selbstbewusstsein gewonnen, was sich auch im Aufstieg ihrer Parteien niederschlug, die bei der letzten Wahl knapp 42 Prozent der Sitze gewannen. Wenn die Kongress-Partei (1996: acht Prozent) wie erwartet besser abschneidet, wird es eng für die Hinduisten. ...

Ausgerechnet die USA

Auf der einen Seite steht ein Premierminister, der die Kriegsstimmung schürt, um seine Schar beisammenzuhalten, und der die Phobie nutzt, um die BJP-Vision eines «kulturellen Nationalismus» durchzusetzen. Auf der pakistanischen Seite sitzt ein General, der seine alten Freunde in Afghanistan im Stich lassen musste und dem die Aussicht auf eine ähnliche Niederlage in Kaschmir schlaflose Nächte bereitet. Premierminister Pervez Muscharraf weiss zwar, dass ein Krieg sein Land vernichten kann, aber auch er braucht die Kriegsrhetorik, wenn er überleben will. Vor einem Weltpublikum zu agieren, ist ein Spiel, das Südasiens PolitikerInnen recht gut beherrschen. Selbst in der Frage internationaler Vermittlung lavieren sie gekonnt zwischen den Positionen. So hat Indiens Innenminister Lal Krishna Advani, der jahrzehntelang jede Einmischung von dritter Seite zur Lösung des Kaschmir-Problems vehement ablehnte, zu Beginn der jetzigen Krise eine Intervention der USA befürwortet – zum Nutzen Indiens natürlich. Und das ist der komischste Aspekt der gegenwärtigen Spannungen: Indien wie Pakistan hoffen auf die USA. Ausgerechnet das Land, das den nuklearen Wettlauf initiiert hat, die meisten Massenvernichtungswaffen besitzt, den Welthandel dominiert und ärmere Staaten plündert, soll den Nachbarn unter Druck setzen, die Verhandlungen bestimmen und die Rolle eines Friedensstifters übernehmen. ...

Kaschmir wurde zur Lunte, weil die lokale Bevölkerung immer ausgeschaltet blieb und weil die Regierungen in Neu-Delhi und Islamabad ihre Fehler nie eingestanden haben. ...

Aus: WoZ, 24. Januar 2002


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