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Die Superreichen und die ungewollten Töchter

Die sozialen Gegensätze in Indien können kaum größer sein - Zwei Beiträge



Indiens Supermilliardäre

Millionenfache Armut ist die Schattenseite des Wirtschaftsbooms

Von Hilmar König, Delhi *


Unter den reichsten Männern der Welt finden sich immer mehr Inder. Ihr Vermögen ist 2007 dank des Booms der Aktienkurse ihrer Unternehmen besonders rasant gestiegen.

Unter den weltweit 1125 Milliardären finden sich laut dem Magazin »Forbes« mittlerweile 53 Inder. Zusammengerechnet verfügen sie über einen Reichtum von 340,9 Milliarden Dollar. In der Gruppe der zehn Vermögendsten befinden sich vier Inder, so viele wie aus keinem anderen Land. Auf Rang vier steht der Stahlunternehmer Lakshmi Mittal mit 45 Milliarden Dollar, auf Platz 5 und 6 folgen die Brüder Mukesh Ambani (Petrochemie, 43 Milliarden) und Anil Ambani (Telekommunikation, 42 Milliarden), den achten Rang belegt der »Immobilienbaron« K.P. Singh mit 30 Milliarden Dollar. Besonders erwähnt »Forbes« den Inder Guatam Adani, der mit 9,3 Milliarden Dollar als reichster Newcomer Asiens ausgewiesen wird.

Der gewaltige Reichtum erinnert an die Zeiten der Maharadschas, die über riesige Ländereien, unermessliche Schätze und ein Heer bis aufs Blut ausgebeuteter Untertanen verfügten. Die Neureichen dagegen ziehen ihren Nutzen aus den Möglichkeiten, die die 1991 eingeleiteten marktwirtschaftlichen Reformen für kapitalistische Großindustrielle bieten. Sie sind sowohl auf dem konsumträchtigen indischen Markt als auch im Ausland überall dort aktiv, wo sich gute Profitchancen bieten. In Indien kommt ihnen zugute, dass rund 90 Prozent der 510 Millionen Arbeitskräfte im unorganisierten Sektor tätig sind. Hier hängt es von der Gnade der Unternehmer ab, ob sie Mindestlöhne zahlen, wie lange der Arbeitstag dauert und unter welchen Sicherheitsbedingungen geschuftet wird. Brutale Ausbeutung auch von Frauen und Kindern ist durchaus keine Ausnahme.

Die indischen Milliardäre beherrschen inzwischen wahre Firmenimperien. Arcelor Mittal ist das in Europa bekannteste Beispiel. Die Gebrüder Ambani sind in Indien in aller Munde. Sie erbten von ihrem aus Gujarat stammenden Vater, einem namhaften Industriellen, dem Bollywood unlängst einen süßlichen Spielfilm widmete, ein verzweigtes Unternehmenskonglomerat. Nach dessen Tod entbrannte zwischen den Söhnen ein erbitterter Streit, dem damit die Spitze gebrochen wurde, dass Mutter Ambani 2005 das Imperium aufteilte. Trotzdem läuft noch ein Gerichtsverfahren zwischen ihnen über ein lukratives Erdölgeschäft. Auf den Ambani-Firmennamen Reliance stößt man in fast jeder Wirtschaftsbranche, ob Petrochemie, Telekommunikation, Handel, Maschinenbau, Infrastruktur, Kraftwerke oder Bergbau. Im Unionsstaat Madhya Pradesh hat Anil Ambani gerade 1300 Hektar Land für den Aufbau eines Zementwerks erworben.

In krassem Gegensatz dazu existiert das »andere« Indien, das davon träumt, dreimal am Tag eine Mahlzeit zu bekommen. Nach offiziellen Angaben leben 25 Prozent der mehr als eine Milliarde Inder unterhalb der Armutsgrenze, die bei einem Tagesverdienst von einem Dollar liegt. Ähnlich viele liegen nur knapp darüber. Im UN-Index der menschlichen Entwicklung steht Indien an 127. Stelle. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt knapp 65 Jahre. Die Säuglingssterblichkeitsrate von 55 auf 1000 ist alarmierend. Der Sozialaktivist Palagummi Sainath weist darauf hin, dass in den letzten fünf Jahren 150 000 Bauern in auswegloser Lage Selbstmord begangen haben. Die Milliardäre verkörpern das »schillernde Indien«, die millionenfache Armut ist die Schattenseite der aufstrebenden Wirtschaftsmacht.

* Aus: Neues Deutschland, 8. März 2008


Indiens ungewollte Töchter

Trotz Strafandrohung werden viele weibliche Föten abgetrieben

Von Christoph Nepram, Delhi **


Aufgrund der gezielten Abtreibung weiblicher Föten hat sich in den vergangenen Jahren in Teilen Indiens das Geschlechterverhältnis dramatisch verschoben. Bislang kämpft die Regierung vergeblich gegen das Problem.

Punjab hat es zu trauriger Berühmtheit gebracht. In dem Bundesstaat im Nordwesten Indiens werden immer weniger Mädchen geboren. Laut offizieller Volkszählung kommen in der Region nur 798 Frauen auf 1000 Männer. Landesweit ist das Verhältnis 927 zu 1000. Doch diese Statistik ist sieben Jahre alt.

Vor wenigen Monaten nahmen Punjabs Behörden die Geburtenstatistiken noch einmal genauer unter die Lupe. Laut Umfrage hat sich das Geschlechterverhältnis weiter dramatisch verschoben. In dem kleinen Dorf Dhanduha nahe der Metropole Ludhiana etwa wurden im vergangenen Jahr zehn Kinder geboren – nur drei davon Mädchen. In anderen Gemeinden sieht es nicht besser aus.

Ursache dafür ist die gezielte Abtreibung weiblicher Föten. Vor allem in den von Hinduismus und Sikhismus geprägten Landesteilen stehen junge Ehefrauen unter massivem Druck der Familien, einen Sohn zur Welt zu bringen. Töchter haben nicht nur eine geringere soziale Stellung, sie werden auch als finanzielle Last empfunden. So bürdet ihre Verheiratung den Eltern zum Teil aberwitzig hohe Mitgiftkosten auf.

Seit das Geschlecht per Ultraschall bereits im Mutterleib festgestellt werden kann, kommen in ganz Indien immer weniger Mädchen zur Welt, obwohl die Geschlechtsbestimmung vor der Geburt landesweit unter Strafe steht. Aufgrund dieser selektiven Familienplanung fehlen in den betroffenen Staaten zunehmend Frauen im heiratsfähigen Alter, was zur Entwicklung eines florierenden Menschenhandels beitrug. Skrupellose Geschäftemacher durchkämmen die ärmsten Landesteile Ost- und Zentralindiens, um Bräute für wohlhabende Männer im Nordwesten zu beschaffen.

Bei solchen Geschäften gehen umgerechnet nur ein paar hundert Euro über den Tisch. Im rückständigen Bundesstaat Jharkhand lassen sich Eltern ihre Töchter zum Teil schon für 20 Euro »abkaufen«. Nach Schätzungen indischer Menschenrechtler sollen in den vergangenen Jahren Zehntausende Frauen und Mädchen verkauft oder verschleppt worden sein.

In Punjab haben Familien- und Gesundheitsbehörden inzwischen die Kontrolle des Abtreibungsverbots weiblicher Föten massiv ausgeweitet und zahlreiche Kliniken geschlossen. Das erschwert zwar einerseits die Geschlechtsbestimmung, hat aber andererseits ein neues Phänomen hervorgerufen: Seit Jahresbeginn werden in der Region immer häufiger kleine Mädchen gefunden, deren Leben bereits Stunden nach der Geburt gewaltsam beendet wurde.

Grausame Bilder toter Säuglinge haben Regierung und religiöse Gruppen alarmiert. Vor vielen Sikh-Tempeln stehen nun Kinderbetten, in denen Frauen – ähnlich den deutschen Babyklappen – ihre ungewollten Töchter zurücklassen können. Auch das Rote Kreuz hat in den Großstädten Punjabs derartige Einrichtungen geschaffen.

Diese Woche startete die Zentralregierung in Neu Delhi eine Initiative, um Eltern von Mädchen finanziell zu entlasten. Den Familien wird ein aus Versicherungen, Ausbildungsförderung und Bargeld bestehendes Paket in Höhe von rund 5000 Euro zu Verfügung gestellt. Ob so jedoch das tief verwurzelte Problem gelöst und das Geschlechterverhältnis korrigiert werden kann, ist ungewiss.

** Aus: Neues Deutschland, 8. März 2008


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