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Reichen 32 Rupien zum Überleben?

Indische Expertenkommission legt Armutsgrenze neu fest – und stößt auf breite Kritik

Von Hilmar König, Delhi *

Kurz vor der Vorlage des indischen Staatshaushalts sorgt eine Studie zur Neufestlegung der Armutsgrenze für Wirbel. Viele Inder könnten ihren Anspruch auf subventionierte Lebensmittel verlieren.

Viele Inder rieben sich zu Wochenbeginn ungläubig die Augen, als die Ergebnisse der jüngsten Erhebung der Rangarajan-Kommission zur Festlegung der Armutsgrenze bekannt wurden: Wer mehr als 32 Rupien am Tag (weniger als 50 Cent) auf dem Land oder 47 Rupien in der Stadt verdient, soll laut einem Bericht, den die Expertengruppe der staatlichen Planbehörde vorlegte, nicht als arm gelten. Diese Zahlen sind nicht nur von statistischem Interesse, sondern haben auch handfeste Folgen – wer mehr Geld zur Verfügung hat, verliert seinen Anspruch auf subventionierte Lebensmittel, die von staatlichen Stellen verteilt werden. Ein Affront gegen Millionen Inder, die sich keine drei Mahlzeiten am Tag leisten können, oft kein Obdach und keinen Job haben.

Chakravarthi Rangarajan, der frühere Gouverneur der indischen Notenbank und Wirtschaftsberater von Ex-Premier Manmohan Singh, war 2013 beauftragt worden, eine ältere Studie einer anderen Expertenkommission zu überprüfen. Diese war weithin auf Ablehnung gestoßen, weil sie zu mehr als zweifelhaften Schlussfolgerungen kam. Sie empfahl die Festlegung der Armutsgrenze für Landbewohner bei nur 27 Rupien und für Städter bei 33 Rupien.

Die Rangarajan-Kommission nahm nun Korrekturen vor und legte eine etwas höhere Armutsgrenze fest. Allerdings beziehen sich die Zahlen auf den Zeitraum 2011/12. Wegen der galoppierenden Inflation haben sich die Lebenshaltungskosten mittlerweile stark erhöht – es braucht deutlich mehr, um die Grundbedürfnisse bei Nahrung, Bildung und Gesundheit zu decken. Daher hat auch die revidierte Armutsgrenze mit dem harten Alltag wenig zu tun, der durch Preissteigerungen bei Gemüse und Obst, Milch, Eiern, Fleisch, Benzin und Diesel sowie drastisch erhöhten Bahntarifen für den Personen- und Frachtverkehr gekennzeichnet ist.

Nach den Kriterien der Kommission gelten 363 Millionen Inder als arm, dies betrifft also jeden dritten Bürger. Immerhin sind das 100 Millionen Menschen mehr als in der früheren Studie ausgewiesen. Beide Erhebungen konstatieren, dass in den zehn Jahren Amtszeit der Regierung der Vereinten Progressiven Allianz das Heer der Bedürftigen dank Programmen zu Armutsbekämpfung und Arbeitsbeschaffung um etliche Millionen schrumpfte. Dennoch fragte die Zeitung »Hindustan Times« ihre Leser, welchen Nutzen die 1991 eingeleiteten marktwirtschaftlichen Reformen denn dem Großteil der Bevölkerung gebracht hätten.

Rangarajan verteidigte seine Erkenntnisse und beruft sich auf »globale Standards« – international wird die Armutsgrenze mit umgerechnet 75 Rupien angegeben. Allerdings gibt es Kritik aus allen politischen Lagern. Die neue Modi-Regierung hat sich offiziell noch nicht dazu geäußert, doch es gibt einzelne Stimmen. So sagte Uma Bharti, Ministerin für Wasserressourcen, die Angaben seien »irreführend«. Der marxistische Oppositionspolitiker Sitaram Yechury nannte die Zahlen »erschreckend«. Sie ergäben keinen Sinn, auch keinen ökonomischen. Und Naresh Aggarwal von der Sozialistischen Partei hatte gleich noch eine persönliche Empfehlung für den Kommissionschef parat: »Wir werden Dr. Rangarajan hundert Rupien pro Tag geben. Soll er uns doch zeigen, wie er damit auf dem Lande überlebt.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 10. Juli 2014


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