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Ein "Anarchist" im Regierungsamt

Chefminister der indischen Hauptstadt Delhi im Ausstand wegen Machtkampfes um Kontrolle über die Polizei

Von Thomas Berger *

Der neue Chefminister der Hauptstadt Delhi, Arvind Kejriwal von der noch jungen Aam Aadmi Party (AAP, »Partei des einfachen Mannes«), legt sich offen mit der von der altehrwürdigen Kongreßpartei (INC) geführten Zentralregierung an. Seit Montag befindet sich Kejriwal im Sitzstreik, hat sogar die Nacht zu Dienstag im Freien zugebracht. Mit dem Straßenprotest, den er bis zu zehn Tage durchzuhalten gedenkt, will er einen Transfer der Kontrolle über Delhis Polizei vom bisher zuständigen nationalen Innenminister an seine Regionalregierung erzwingen.

»Die Leute behaupten, ich sei anarchistisch. Ja, ich bin ein Anarchist«, bekundete Kejriwal, der erst vor kurzem sein Amt angetreten hat, nachdem seine AAP bei den jüngsten Wahlen in der Hauptstadt auf Anhieb zweitstärkste Kraft geworden war. Im Regionalparlament kann er sich bislang auf den Rückhalt des INC stützen. Kejriwal hat Erfahrungen mit Protestaktionen auf der Straße, gehörte zu den Anführern der großen Antikorruptionsbewegung der letzten Jahre. Daß ein Chefminister in den Streik tritt oder zumindest seine Geschäftstätigkeit mitten in die Stadt verlegt, ist jedoch ein absolutes Novum. Vier Metrostationen mußten ganztags oder zumindest teilweise geschlossen werden, allein am Montag waren etwa 3000 Polizeikräfte rund um die Aktion im Einsatz. Denn nicht nur mehrere seiner Kabinettsmitglieder schlossen sich Kejriwal demonstrativ an, unterschrieben auf offener Straße Akten und gaben Ministeriumsmitarbeitern Anweisungen. Auch weitere AAP-Aktivisten wollten ihrem Anführer beistehen, wurden von den Polizisten aber teilweise daran gehindert.

Der nationale Innenminister Sushil Kumar Shinde (INC), von Kejriwal persönlich als korrupt angegriffen, weigert sich beharrlich, die Kontrolle über die Polizei abzugeben. Dabei ist die Hauptstadt in dieser Hinsicht ein Sonderfall, überall sonst haben die Regionalregierungen die entsprechende Befugnis. Mit dem gleichen Ansinnen waren aber auch schon frühere Chefminister Delhis mit unterschiedlicher Parteizugehörigkeit, auch Kejri­wals direkte Vorgängerin vom INC, gescheitert.

Daß der neue seinen Fokus aktuell so stark auf dieses Thema legt, hat zwei Gründe. Einer ist der jüngste Vergewaltigungsfall, der erst wenige Tage zurückliegt. Das Opfer war diesmal eine 51jährige Dänin, die in Delhis wichtigstem Touristenviertel von mehreren Männern mißbraucht wurde. Der Fall ist noch immer nicht aufgeklärt. Im Dezember 2012 war eine 23jährige Studentin in einem Bus so brutal vergewaltigt worden, daß sie an den Folgen starb. Der Fall hatte für weltweite Entrüstung gesorgt. Doch Delhis Polizei, so der Vorwurf Kejriwals, habe effektiv noch nichts getan, um die Sicherheit für Frauen zu verstärken.

Grund Nummer zwei liegt in einem angeblichen Drogen- und Prostitutionsring, der nach AAP-Ansicht womöglich von korrupten Polizisten geschützt wird. Vergangene Woche hatten Kejriwals Justizminister und mehrere Parteianhänger vier ugandische und nigerianische Frauen mit entsprechenden Vorwürfen konfrontiert. Die Polizei weigerte sich mit Verweis auf fehlende Durchsuchungsbefehle allerdings, in den Häusern der Frauen zu ermitteln. Für den Chefminister und etliche Parteimitglieder spricht dies einmal mehr für den generellen Vorwurf an die Sicherheitskräfte, oft selbst in dunkle Geschäfte verstrickt zu sein, statt die Bürger zu schützen.

Kejriwals Sitzstreik an einer wichtigen Straße könnte auch die Feierlichkeiten zum indischen Tag der Republik am Sonntag stören. Zudem stufen selbst führende Medien seine Protestsform als überzogen und eben »anarchistisch« ein, wie schon aus den Überschriften der Beiträge abzulesen ist. Er stürze Delhi ins Chaos, heißt es nicht nur im Indian Express, der manches generell lockerer formuliert, sondern auch im renommierten Blatt The Hindu.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 23. Januar 2014


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