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Indien ohne Leitstelle

Nehrus Erbe entsorgt: Mit Abschaffung der nationalen Planungskommission stellt Modi-Regierung Weichen endgültig Richtung Neoliberalismus

Von Thomas Berger *

Die zentrale Nachricht in der Rede von Premierminister Narendra Modi zum Unabhängigkeitstag im August war wie eine Bombe: Indiens Regierung löst die nationale Planungskommission auf. Das Gremium besitzt zwar keinen Verfassungsrang, war aber mehr als sechs Jahrzehnte wegweisend für Entscheidungen zur Entwicklung des Landes. Für die einen ist es einfach ein Relikt der Vergangenheit. Für die anderen bedeutet der Schritt die endgültige Abkehr vom Prinzip, der ungehemmten Profitgier in- und ausländischer Wirtschaftsmagnaten einige Schranken zu setzen.

Eine minimale Regierung mit maximalem Effekt, das war viele Jahre lang die Maxime Modis als Chefminister des Unionsstaates Gujarat. Genau das setzt der Mann, der im Mai an der Spitze der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) für diese bei Parlamentswahlen erstmals eine absolute Mehrheit geholt hatte, nun auch auf nationaler Ebene um. Während ihm selbst politische Gegner beim Abbau des bürokratischen Wasserkopfes grundsätzlich applaudieren würden, ist die Auflösung der Planungskommission ein andere Fall. Modi glaubt, wie er in Gujarat gezeigt hat, an die Allmacht des Marktes, um Wachstum zu generieren. Staatliche Institutionen, die dabei zumindest lenkend eingreifen, hält er für weitgehend überflüssig. Zwar will er ein komplett neues Gremium schaffen, doch dies wird nicht die gleichen Kompetenzen haben.

Auf Kabinettsbeschluss war die Planungskommission 1950 eingerichtet worden. Und sie verkörperte das, was als der sogenannte dritte Weg Eingang in die Geschichtsbücher fand: die Vision des ersten indischen Premierministers Jawaharlal Nehru von einem gemischten Wirtschaftssystem. Eines, das sich zwar nicht völlig vom Kapitalismus verabschiedet, wohl aber nach sowjetischem Vorbild den Bedürfnis nach gleichberechtigter Teilhabe aller einen besonderen Stellenwert einräumt. Es war diese Kommission, die in den Fünfjahresplänen Fixpunkte für Wirtschafts- und Sozialpolitik, Finanztransfers zwischen Zentrale und Bundesstaaten sowie Investitionen in die Infrastruktur festlegte. Zumindest bis in die 1980er Jahre ging dieses Konzept im Prinzip auf. Auch Nehrus Tochter Indira Gandhi, Premierministerin 1966 bis 1977 und 1979 bis zu ihrer Ermordung 1984, folgte dieser Leitlinie. Erst mit ihrem Sohn Rajiv, der die Mitglieder der Planungskommission schon mal als »Clowns« tituliert hatte und wenig mit diesem Gremium anfangen wollte, kam ein Paradigmenwechsel. Endgültig an Einfluss verloren die in der Kommission versammelten Experten nach 1991 mit den weitreichenden ökonomischen Reformen, die Indien voll an den Weltmarkt ankoppelten und auch den (zuvor seltenen) ausländischen Investoren den roten Teppich ausrollten.

Die heftigsten Kritiker sehen in Modis Schritt nur die Vorstufe, weitere Gremien ebenfalls völlig auszuschalten oder zumindest in ihren Befugnissen zu beschneiden. Auf der Strecke blieben damit Umweltschutz und menschliche Bedürfnisse. »Eine Kurskorrektur war nötig, aber jetzt wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet«, ereiferte sich Rajagopal PV, Präsident der renommierten Nichtregierungsorganisation »Ekta Parishad«, unlängst gegenüber dem Politmagazin Frontline. »Die Vertreibung von Adivasis wird zunehmen«, befürchtete an gleicher Stelle Manish Kunjam von der Kommunistischen Partei Indiens (CPI) mit Blick auf die indigene Bevölkerung: »Ich habe das Gefühl, dass damit die Fluttore geöffnet werden für große Unternehmen, um unsere nationalen Ressourcen und Wälder auszuplündern.«

Das ist letztlich nichts Neues. Schon bisher waren jene Regionen, in denen die Stammesbevölkerung siedelt und wo es viele Bodenschätze gibt, im Visier von Investitionswilligen, ohne dass die Politik ihrer Schutzverpflichtung für diese Menschen nachgekommen wäre. Gesetze wurden gebeugt, Bergbau und die Errichtung von Fabriken in indigenen Gebieten genehmigt, Tausende Adivasis für zweifelhafte Großprojekte vertrieben.

Auch die Planungskommission ist hierbei untätig geblieben. Aber ihre Mitglieder bedachten bei der Verteilung zentraler Fonds sowohl Stammesbevölkerung als auch die Dalits (vormals die unterste Kaste in der Hierarchie des hinduistischen Kastensystems) mit vielen Förderprogrammen. Nicht zu vergessen: Die heutige Landschaft höherer Bildungseinrichtungen in Indien ist nachhaltig auf Entscheidungen der Kommission zurückzuführen. Dass ihre Mitglieder Geldflüsse allerdings an den Regierungen der Bundesstaaten vorbei teilweise direkt auf die lokale Ebene lenkten, sorgte in den regionalen Machtzentren gerade in jüngerer Vergangenheit für immer größere Verärgerung. Gern hätten die Staaten Förderprogramme an ihre speziellen Bedürfnisse angepasst – dass diese statt dessen für alle aus einem Guss und zentral in Neu-Delhi ausgearbeitet waren, schmälerte bei der Umsetzung oftmals die Erfolgsbilanz. Auf der anderen Seite hatte die Planungskommission keine reale Macht, um die Unionsstaaten zu zwingen, bestehende Fördertöpfe für benachteiligte Bevölkerungsgruppen voll auszuschöpfen. Reformen waren also tatsächlich überfällig.

Erwartet worden war, dass Modi Neubesetzungen vornimmt. Die bisherigen Kommissionsmitglieder standen mehrheitlich der abgewählten Vorgängerregierung der Vereinten Progressiven Front unter Führung der Kongresspartei (INC) nahe. Doch auch diese war und ist in vielerlei Hinsicht längst vom Pfad Nehrus abgewichen. Nur wenige Bereiche wie das Banken- und Versicherungswesen hatte die INC-Regierungen vor dem vollen Zugriff der internationalen Wirtschafts- und Finanzwelt bewahrt. Modi führt nur ein wenig offener und radikaler aus, was schon etliche Jahre zuvor der generelle Kurs war – im Zweifel Mahner beiseite zu schieben und auch fragwürdigen Megaprojekten gegen den Rat staatlicher Beratungsgremien sowie Protesten der Betroffenen grünes Licht zu geben.

* Aus: junge Welt, Montag, 27. Oktober 2014


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