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Tatort Kolkata: "Schande, Schande"

Wieder erlag ein indisches Mädchen der Brutalität seiner gewissenlosen Peiniger

Von Hilmar König, Delhi *

»Schande, Schande«, hieß es am Mittwoch auf Transparenten und in Sprechchören auf einer Massendemonstration in Kolkata nach dem Tod des Opfers eines Sexualverbrechens.

Der Fall nimmt politische Dimensionen an: Das 16-jährige Mädchen verstarb am Neujahrsabend in einem Krankenhaus der westbengalischen Metropole Kolkata (früher Kalkutta). Chefministerin Mamata Banerjeee wird von der Opposition heftig attackiert, weil die Täter ihrer Partei Trinamool Congress nahe stehen und von der Polizei lange gedeckt wurden.

Das Kind einer armen Familie war bereits im Oktober von sechs Männern missbraucht worden. Nachdem die Minderjährige Anzeige erstattet hatte, fiel dieselbe Gruppe noch einmal über sie her und vergewaltigte sie erneut. Die Verbrecher hatten ihr Opfer geschwängert. Wegen des sozialen Stigmas, ständiger Bedrohungen und Nachstellungen der Täter zog die Familie in einen anderen Stadtteil. Am 23. Dezember aber erlitt die 16-Jährige aus zunächst unerklärlichen Gründen schwere Brandverletzungen und wurde in ein Hospital eingeliefert.

Die Polizei ging zunächst von einem Selbstmordversuch aus. Als sich der Gesundheitszustand des Mädchens verschlechterte, gab es in Anwesenheit von Ermittlern und Medizinern jedoch eine Erklärung ab: Sie sei in der Wohnung von zweien der Vergewaltiger mit Kerosin übergossen und angezündet worden. Die Mutter sagte aus, bei ihrer Rückkehr sei die Wohnungstür von außen verriegelt gewesen.

Rajiv Kumar, Polizeichef des Stadtteils, gab am Mittwoch – mehr als zwei Monate nach dem Sexualverbrechen – die Festnahme einiger der mutmaßlichen Täter bekannt. Ihr Opfer indes war in der Nacht zuvor an den Brandverletzungen und einer sich ausbreitenden Infektion, die es durch die Gruppenvergewaltigung erlitten hatte, gestorben.

Eine bestialische Gruppenvergewaltigung mit tödlichem Ausgang in Delhi hatte im Dezember 2012 eine Protestwelle in der indischen Öffentlichkeit ausgelöst und zur Verschärfung der Gesetze gegen sexuelle Gewalt geführt. Bei Vergewaltigungen mit Todesfolge droht sogar die Todesstrafe. Dennoch gehört Gewalt gegen Frauen immer noch zum indischen Alltag. Am Donnerstag berichtete die Zeitung »The Hindu« von einem neuen Fall aus Faridabad im Unionsstaat Haryana. Dort wurde ein Mädchen an einer Bushaltestelle in ein Auto gelockt und von acht Personen missbraucht. Sieben wurden dingfest gemacht.

Frauenorganisationen bewerten es schon als Fortschritt, dass Indiens Medien solchen Verbrechen und der Diskriminierung von Frauen inzwischen mehr Aufmerksamkeit widmen. Ungeachtet dessen will die Männergesellschaft insbesondere in ländlichen Gebieten die gesetzlich festgelegte Gleichstellung der Frau nicht akzeptieren: Abgewiesene »Liebhaber« verunstalten das Gesicht des Mädchens mit Säure, Frauen verbrennen auf mysteriöse Weise in der Küche, im Unionsstaat Haryana vor der Haustür der indischen Hauptstadt weigern sich Väter, ihren Töchtern Land zu vererben, und schreiben ihnen vor, wie sie sich zu kleiden haben ...

* Aus: neues deutschland, Freitag, 3. Januar 2014


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