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Größter Waffenimporteur der Welt – Indien rüstet auf

Ein Beitrag von Jerry Sommer in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
In der Golfregion und in Asien boomt der Rüstungsmarkt. Der weltweit größte Importeur von Waffen ist seit Jahren mit Abstand Indien. Das Land bemüht sich gleichzeitig, eine leistungsfähige eigene Rüstungsindustrie aufzubauen. Dieser Trend könnte sich nach dem Regierungswechsel in Neu-Delhi vor einigen Monaten noch weiter verstärken.
Warum rüstet Indien so massiv auf? Dieser Frage ist Jerry Sommer nachgegangen:


Manuskript Jerry Sommer

Indien ist laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI gegenwärtig der weltweit größte Importeur von schweren Waffen. In den vergangenen 10 Jahren hat das Land Waffensysteme im Wert von circa 50 Milliarden US-Dollar eingeführt. Die Rüstungsausgaben sind rasant gestiegen, zumal auch die Wirtschaft hohe Wachstumsraten verzeichnet. Heute gibt Neu-Delhi jährlich über 50 Milliarden US-Dollar für das Militär aus. Die Modernisierungsprogramme, die schon die alte Regierung beschlossen hat, betreffen fast alle Waffenarten, sagt Siemon Wezeman von SIPRI:

O-Ton Wezeman (overvoice)
„Es sollen unter anderem Gewehre, U-Boote, Kampfflugzeuge, weitreichende Raketen für die Nuklearstreitkräfte, Flugzeugträger, Hubschrauber und Transportflugzeuge neu angeschafft werden.“

Seit Jahrzehnten formuliert Indien das Ziel, 70 Prozent seiner Rüstungsgüter selbst herstellen zu wollen. Doch noch immer werden weit über die Hälfte importiert. Der Löwenanteil - 75 Prozent - stammt aus Russland, aber auch die USA und Israel haben inzwischen einen Anteil von sechs bis sieben Prozent an den indischen Rüstungsimporten. Und ein Abkommen mit Frankreich über den Kauf von über einhundert RAFALE-Kampflugzeugen im Wert von 20 Milliarden US-Dollar steht kurz vor dem Abschluss.

Trotz der weitverbreiteten Armut in Indien ist die Aufrüstung im Land weitgehend unstrittig, meint Sandra Destradi vom Hamburger „GIGA-Institut für Asienkunde“:

O-Ton Destradi
„Natürlich sind es massive Mittel, die in diese Aufrüstung fließen. Aber das wird innenpolitisch nicht sehr stark in Frage gestellt. Es gibt einen großen Konsens über diese Aufrüstungspolitik. Diese Politik hat eben die Funktion, den Status Indiens als Großmacht zu untermauern.“

Zweifellos befindet sich Indien in einer kritischen Region. Zu Pakistan besteht vor allem wegen des Kaschmir-Konflikts eine Art „Erzfeindschaft“. Schon drei Mal führten Indien und Pakistan Krieg. Und im Norden liegt China, der wirtschaftlich und militärisch überlegene Nachbar, mit dem es seit Jahrzehnten wegen der Grenzziehung im Streit liegt. 1962 hatte es aus diesem Grund ebenfalls einen Krieg gegeben. Doch der Wille, die militärische Überlegenheit gegenüber Pakistan auszubauen und mit Blick auf China ein glaubwürdiges Abschreckungspotenzial aufzubauen, sind nicht die einzigen Triebkräfte der indischen Aufrüstung, glaubt Herbert Wulf. Der Politikwissenschaftler hat für das Duisburger „Institut für Entwicklung und Frieden“ eine Studie zur indischen Außenpolitik geschrieben:

O-Ton Wulf
„Der Hauptgrund ist, dass Indien global eine stärkere Rolle spielen möchte als in der Vergangenheit. Heute setzt man ganz eindeutig und ganz stark auf Geopolitik und glaubt, mit einer starken Rüstung, mit einem starken Militär weltpolitisch eben eine stärkere Rolle spielen zu können.“

Doch es ist fraglich, ob die atomare und konventionelle Aufrüstung wirklich hilfreich ist, um zum Beispiel Indien als „Global player“ – eventuell sogar mit einem Sitz im UN-Sicherheitsrat - zu etablieren. Herbert Wulf hält andere Wege für erfolgversprechender:

O-Ton Wulf
„Meines Erachtens setzt die indische Regierung, die jetzige und auch die vorherige, viel zu stark auf diesen geostrategischen Aspekt - mit Rüstung setzt man nationale Interessen durch - und zu wenig auf das, was man als ‚Soft power‘ bezeichnet. Also Indien als ein Land, das eine Demokratie ist, eine freie Presse hat, im Gegensatz zu China beispielsweise, das sich immer für nukleare Abrüstung eingesetzt hat.“

Die neue Regierung in Neu Delhi wird die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen sowohl zu Pakistan als auch zu China ausbauen. So wurde erstmals der pakistanische Regierungschef zur Amtseinführung eines indischen Premierministers eingeladen. Auch hat sich der neue Regierungschef in Neu-Delhi, Narendra Modi, bisher immer für eine Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China eingesetzt. Trotzdem wird seine Regierung stärker auf „Hard power“ setzen. Dafür spricht zum Beispiel, dass der neue Verteidigungsminister zugleich Finanzminister ist: so sollen große Rüstungsprojekte schneller realisiert werden können. Dafür spricht auch, dass der neue nationale Sicherheitsberater vorher Leiter eines sicherheitspolitischen Instituts war, das seit Jahren für deutlich höhere Rüstungsausgaben eintritt.

Die Begründungen der alten wie der neuen Regierung für den Aufrüstungskurs sind allerdings fragwürdig. Der SIPRI-Konfliktforscher Siemon Wezeman hält zum Beispiel die Annahme indischer Militärstrategen für äußerst unwahrscheinlich, dass China in den Indischen Ozean vordringen und Indiens Handelsrouten blockieren könnte:

O-Ton Wezeman (overvoice)
„Da müsste ja China ganz weit weg von seiner Heimat operieren, wo es, wenn überhaupt, über nur wenig ausgebaute Stützpunkte verfügt. Die Seewege Indiens zu blockieren wäre zudem schwierig, weil ja auch andere Länder betroffen wären, die das nicht hinnehmen würden. Und China würde sich damit auch ins eigene Fleisch schneiden. Es ist ja noch abhängiger von diesen Seewegen als Indien.“

Mit den neuen Aufrüstungsprogrammen, zum Beispiel Flugzeugträgern und amphibischen Fahrzeugen, wird Indien auch die Fähigkeit bekommen, in entfernter liegende Ländern zu intervenieren. Doch für die Politikwissenschaftlerin Sandra Destradi hat Neu-Delhi solche Absichten nicht:

O-Ton Destradi
„Indien ist definitiv eine Status quo-Macht, keine aggressive Macht. Indien ist territorial zufrieden mit dem Status quo. Es hat kein Interesse, Teile Pakistans oder Teile kleinerer Nachbarstaaten zu erobern. Das sind immer die Befürchtungen viele dieser kleineren Staaten. Aber dazu wird es nicht kommen. Es geht primär um Abschreckung und Status.“

Siemon Wezeman von SIPRI ist sich da nicht so sicher. Er glaubt zwar auch, dass Indien wie andere große Mächte, militärische Fähigkeiten nicht nur aus sicherheitspolitischen, sondern auch aus vermeintlichen Status-Gründen anstrebt. Aber da Indien noch nicht einmal eine klar ausgearbeitete Militärstrategie habe, ist er über Neu-Delhis Aufrüstungskurs besorgt:

O-Ton Wezeman (overvoice)
„Wenn man über so viele Waffen verfügt und in vielen Regionen wichtige Interessen hat, und wenn zugleich die Beziehungen zu den Nachbarn – zu Pakistan und China – gespannt sind, dann gibt es immer die Möglichkeit, dass einige in Indien denken: Wir haben die militärische Macht, warum sollten wir sie dann nicht einsetzen?“

Die Beziehungen zwischen Indien und den USA haben sich in den vergangenen Jahren verbessert. Washington versucht zudem, Indien in eine Front gegen ein potenziell gefährliches China einzubeziehen. Doch trotz der Konflikte und der Konkurrenz zwischen Indien und China gibt es zugleich eine starke ökonomische, aber auch politische Kooperation zwischen diesen beiden asiatischen Großmächten - zum Bespiel im Rahmen der BRICS-Staaten – also zusammen mit Brasilien, Russland und Südafrika. Außerdem ist man sich einig in der Ablehnung einer unipolaren von den USA dominierten Weltordnung. Deshalb werde es nicht zu einer indisch-amerikanischen Allianz gegen China kommen, glaubt die Asienexpertin Sandra Destradi:

O-Ton Destradi
„Worauf Indien großen Wert legt, ist das Prinzip der sogenannten 'strategischen Autonomie'. Da geht es darum, mit möglichst vielen Staaten möglichst gute Beziehungen zu haben, aber sich nicht nur auf einen Partner zu verlassen. Das heißt: Indien möchte keine exklusive Allianz mit den USA gegen China.“

An dieser Politik wird sich wohl auch unter dem neuen Premierminister Modi in Neu-Delhi nichts ändern. Die forcierte indische Aufrüstung wird jedoch das Wettrüsten in Asien weiter anheizen. Mehr Sicherheit in der Region durch Abrüstung und vertrauensbildende Maßnahmen zu schaffen – solche Vorschläge haben gegenwärtig in Asien keine Chance.

* Aus: NDR Info: Das Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 7. September 2014; www.ndr.de/info


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