Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Präsident Wahid als Risikofaktor

Steht Indonesien vor dem Bürgerkrieg?

Nachfolgender Beitrag erschien am 28. Mai 2001 in der jungen welt unter dem Titel "Präsidenten als Risikofaktoren. Folgt Indonesiens Staatschef seinem philippinischen Amtskollegen in den politischen Orkus?" Weiter unten außerdem Auszüge aus einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung zum gleichen Thema.

Präsidenten als Risikofaktoren

Der erst seit Oktober 1999 amtierende indonesische Präsident Abdurrahman Wahid gerät ins Straucheln. Straßenproteste verhalfen dem langjährigen Vorsitzenden der einflußreichen muslimischen Organisation Nahdlatul Ulama damals nach über 30jähriger Suharto-Diktatur zum Amtsantritt. Heute erschallt der Ruf nach seinem Rücktritt. Die Beratende Volksversammlung, höchstes Organ der Legislative, hatte Wahid bereits Ende April ein zweites Mal wegen Korruptionsvorwürfen gerügt. Mitte dieser Woche wird nun in Jakarta über die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahren entschieden: Angeblich soll der Präsident, der dies kategorisch bestreitet, gar von inszeniertem Theater eines Kindergartens sprach und einer »Front zur Verteidigung der Wahrheit« unterstützt wird, umgerechnet zirka sechs Millionen US-Dollar von der staatlichen Logistikbehörde »Bulog« bzw. Zuwendungen des Sultans von Brunei eingestrichen haben. Was unter Suharto »Peanuts« gewesen wären, kann heute dem Land neben einer latenten Staatskrise zusätzlich eine akute Regierungskrise bescheren.

Verschwindet nach dem philippinischen Ex-Schauspieler- Präsidenten Joseph Estrada nunmehr auch sein Amtskollege im Nachbarland im politischen Orkus? Einiges spricht dafür, wenngleich beide Personen unterschiedlicher kaum sein könnten. Estrada war ein Zögling der Marcos-Diktatur und setzte wie sein Mentor in Zeiten innenpolitischer Krisen auf den »totalen Krieg« gegen seine politischen Gegner. Wahid hingegen, der einer angesehenen Gelehrtenfamilie entstammt, favorisiert zivile Umgangsformen und Dialog, um Krisen zu entschärfen. Estrada verfing sich im Gestrüpp elitärer Vetternwirtschaft und führte am Ende seiner nur zweieinhalbjährigen Amtszeit die Staatsgeschäfte in mafioser Manier. Wahid war ein taktisch versierter Widersacher des Terrorregimes und darauf bedacht, dessen katastrophale wirtschaftliche, soziale und politische Erbschaft zu überwinden. Nirgendwo sonst sind in so kurzer Zeit so viele Menschen pauperisiert und durch interethnische Konflikte ins Elend gestürzt worden, wie das in Indonesien seit dem Suharto-Rücktritt vor drei Jahren der Fall ist.

Wenngleich Wahid Umbesetzungen an der Spitze der Streitkräfte erwirkte, gegen Offiziere sowie Mitglieder des Suharto-Clans wegen Menschenrechtsverletzungen und Veruntreuung von Staatsgeldern ermitteln ließ (was Estrada nicht im Traum eingefallen wäre), verfügen die Sachwalter des ancien régime nach wie vor über ein Arsenal offener und verdeckter Destabilisierungsmethoden. Vor allem die erstarkten Unabhängigkeitsbestrebungen in Aceh, Westpapua (Irian Jaya) und den Molukken arbeiten den Militärs und von ihnen tolerierten paramilitärischen Banden in die Hände. Sie verweisen auf den drohenden Zerfall des Zentralstaates und präsentieren sich als dessen einzig intakte Instanz zur Wahrung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung.

Unabhängig von Wahids exzentrischem, streckenweise - wohl auch krankheitsbedingt - unberechenbarem Amtsstil besteht sein eigentliches Dilemma darin, daß er in prekären Zeiten wie diesen nicht auf Dauer gegen das Militär, dieses freilich sehr wohl ohne ihn regieren kann. Das mußte er vor allem in den vergangenen Tagen erfahren. Sollte man ihn absetzen wollen, erklärte der Präsident, erwäge er die Ausrufung des Notstands und würde das Militär anweisen, entsprechend zu handeln. Doch warum sollte dieses ausgerechnet für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen? Zwischenzeitlich unternahm Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri, den Mythos ihres Staatsgründer-Vaters im Rücken, eigene Avancen. Sie, die sich niemals kritisch über das Militär und dessen Rolle geäußert hatte, traf mehrfach mit Armeekommandeuren zusammen, um sich des Rückhalts zu vergewissern, sollte sie Wahid im Amt ablösen. Damit wäre zweifellos das Militär aufgewertet: Kein gutes Omen, mit dessen Hilfe die komplexen Probleme auf dem Archipel zu lösen.

Estrada hingegen erlebte bereits, was vor ihm keinem philippinischen Präsidenten widerfuhr: Ende Juni 1998 euphorisch in den Präsidentenpalast zu Manila eingezogen, mußte er Mitte Januar 2001 unzeremoniell durch dessen Hintertür entweichen. Massendemonstrationen und die Abkehr hochrangiger Sicherheitskräfte besiegelten sein vorzeitiges politisches Aus. Schockierend für viele Filipinos, den kürzlich noch obersten Repräsentanten des Staates und ihr einstiges Idol nunmehr wegen »wirtschaftlicher Plünderung« in U-Haft sitzen zu sehen. Bereits nach gut 100 Tagen im Amt wurde die neue Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo von den in den Medien des Landes zum Unheil bringenden Mob hochstilisierten »masa« (Massen) herausgefordert, die mit Haumessern Estradas Comeback erzwingen wollen.

Hinter den gewaltsamen Demonstrationen zogen die noch immer agilen inner- wie außerparlamentarischen Restposten der Marcos-Ära die Fäden. Sie sehen in Arroyo ein illegitimes Staatsoberhaupt, wittern Morgenluft und spekulierten nicht zu Unrecht auf ein gutes Abschneiden ihrer Günstlinge der »Puwersa ng Masa« (Stärke der Massen)-Koalition bei den Kongreß- und Kommunalwahlen. Tatsächlich öffnete die Präsidentin mit der Festnahme ihres Vorgängers vor den Wahlen am 14. Mai und der zeitweiligen Ausrufung des Notstands die Büchse der Pandora. Das ihr nahestehende »People Power Coalition«-Wahlbündnis mußte eine Schlappe hinnehmen. Das Eigentliche, die überfällige Aufarbeitung der Marcos-Ära, droht im traditionellen Politikaster unterzugehen und die Lage auf Dauer zu destabilisieren.

Rainer Werning

Aus: junge welt, 28. Mai 2001

Die Süddeutsche Zeitung kommentierte:

In einem Kommentar ("In der Zwickmühle des Kompromisses" von Andreas Bänziger) in der Süddeutschen Zeitung vom selben Tag hieß es u.a., "Indonesiens Präsident Abdurrahman Wahid und das gewählte Parlament strebten mit der Folgerichtigkeit einer griechischen Tragödie auf die Katastrophe zu". Weiter heißt es:
"Zu spät hat Präsident Wahid sich dazu durchgerungen, seiner Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri substanzielle Zugeständnisse zu machen und ihr verfassungsmäßige Aufgaben zu übertragen. Die Parteien, die Abdurrahman Wahid an den Kragen wollen, und diese stellen die große Mehrheit im Parlament, wollen sich jetzt durch nichts mehr davon abhalten lassen ... das höchste Verfassungsorgan, die Beratende Volksversammlung, einzuberufen und die Absetzung des erst im Oktober 1999 für fünf Jahre gewählten Präsidenten durchzupauken.

Den Schlüssel zur Entschärfung der Lage hätte Vizepräsidentin Megawati in der Hand, deren Partei die größte Fraktion im Parlament stellt. Sie könnte das Angebot annehmen, als eine Art Premierministerin wirkliche Macht zu übernehmen, während sich Wahid auf das Amt eines nur noch repräsentativen Staatspräsidenten zurückzöge. Aber Megawati tut, was sie immer tat: Sie zögert, sie schweigt. Sie hat natürlich ihre Gründe. Nicht nur widerspräche die neue Machtaufteilung der Verfassung von 1945, die noch Megawatis Vater Sukarno eingesetzt hatte. Es besteht auch die Gefahr, dass Megawati nur die Verantwortung für die schier unlösbaren Probleme des nach Bevölkerungszahl viertgrößten Landes der Welt übernehmen müsste, während der Präsident seine Hände in Unschuld wüsche. ...

Präsident Wahid hat zwei entscheidende Fehler gemacht. Er hat vergessen, dass er mit 51 von 500 Sitzen im Parlament bloß ein schmales, nicht von einer breiten Volksbewegung gestütztes Mandat hat. Wahid wurde nur als Kompromisskandidat gewählt, um die eigentliche Wahlsiegerin Megawati zu verhindern. Und der Präsident hat vergessen, dass Megawati, die er seine Schwester, sie ihn ihren Bruder nannte, seine natürliche Verbündete war. Der liberale muslimische Gelehrte und die Tochter des Staatsgründers und Anfüherin des nationalistischen Lagers, das war das Traumpaar in der schwierigen Zeit nach der mehr als drei Jahrzehnte dauernden Suharto-Diktatur. Aber Wahid hat Megawati immer wieder vor den Kopf gestoßen, hat eigenmächtig ihre Leute aus der Regierung gejagt, hat kein Interesse gezeigt an dem, was eigentlich die javanische Art wäre: am Kompromiss. ...

Im Kern geht es in Indonesien um etwas anderes als um die Macht, um die sich Parlament und Präsident streiten. Es geht um die zarte Pflanze Demokratie, die eben erst zu sprießen beginnt. Sowohl die ungerechtfertigte Absetzung des Präsidenten als auch das ebenso ungerechtfertigte Kriegsrecht könnten ihr den Todesstoß versetzen." (SZ, 28.05.2001)

Zurück zur Indonesien-Seite

Zu anderen Ländern/Regionen

Zurück zur Homepage