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Fragiler Frieden in Aceh

Indonesiens Unruheprovinz droht erneut militärische "Befriedung"

Von Rainer Werning

Die langjährige Unruheprovinz Aceh im Norden der indonesischen Insel Sumatra steht wieder einmal vor der Entscheidung: Krieg oder Frieden? Letzterer soll, geht es nach der Zentralregierung in Jakarta, jetzt notfalls erzwungen werden. Präsidentin Megawati Sukarnoputri kann auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 23/1959 den Notstand, gar das Kriegsrecht, ohne parlamentarische Zustimmung verhängen. Das aber bedeutete einen neuerlichen Krieg mit verheerenden Konsequenzen für die regionale Bevölkerung und die nationale Wirtschaft. Der als »zu wenig resolut« eingestufte Militärkommandeur Acehs, Generalmajor M. Djali Jusuf, ist bereits von der Armeeführung durch einen Hardliner ersetzt worden. Und Jakarta kalkuliert schon jetzt bis zu 200000 interne Flüchtlinge als Kriegsopfer ein.

Am 21. Mai jährt sich zum fünften Mal der Abgang des mit 32 Amtsjahren dienstältesten Despoten in Südostasien, doch eitel Freude über das Ende des Ex-Generals Hadji Mohamed Suharto kommt in Indonesien nicht auf. Erst recht nicht in der seit langem unruhigen Provinz Aceh. Dort nämlich dürften die Militärs, seit Suhartos Zeiten die eigentlichen Machthaber im Lande, wohl erneut darüber bestimmen, wer als »Staatsfeind« oder »Terrorist« abgestraft wird. Ultimativ forderte Jakarta die Widerstandsorganisation Bewegung Freies Aceh (Gerakan Aceh Merdeka – GAM) auf, sich bis zum 12. Mai, nach Verlängerung des Ultimatums bis zum 17. Mai, ihrem Friedensdiktat zu beugen. Andernfalls drohe die seit Jahren größte Militäroffensive auf dem Archipel. Kampfjets und Kampfhubschrauber sind bereits von ihrem Stützpunkt in Madiun (Ostjava) nach Medan (Nordsumatra) verlegt, Kriegsschiffe und über 40000 Regierungssoldaten in die Region entsandt worden.

Dabei hatte alles so vielversprechend ausgesehen, als am 9. Dezember 2002 in Genf ein Friedensabkommen für Aceh vereinbart wurde. Die Stimmung schwankte zwischen ausgelassener Freude und überschwenglicher Euphorie. »Ein historischer Tag für das Volk von Aceh«, kommentierte Martin Griffiths, Direktor des Genfer Henri-Dunant-Zentrums für den humanitären Dialog (HDZ), den Vertragsabschluß zwischen indonesischen Regierungsvertretern und Emissären der GAM. Seit annähernd zwei Jahren hatte sich das HDZ mit Verve für die Unterzeichnung dieses Abkommens und multilaterale Hilfsleistungen eingesetzt.

Indonesien ist ein zentralistisch regierter Inselstaat, dessen Präsidenten sich seit dem Abgang Suhartos mit dem Erbe des Ex-Diktators herumschlagen müssen. Eine politische Krise folgt der nächsten, die tiefgreifende Wirtschaftsmisere verursacht soziale Unruhen. Noch Anfang 1998 zählte die Weltbank Indonesien zur zweiten Generation der ökonomisch erfolgreichen »Tigerstaaten«. Doch kein Land erlebte eine so rasche Pauperisierung so großer Bevölkerungsschichten, wie das seitdem in Indonesien der Fall ist. Über ein Fünftel der 210 Millionen Einwohner Indonesiens, so der Australier Dr. Kevin O’Reilly, im Jakarta-Büro der Vereinten Nationen Leiter der Sektion Feldforschung und Analyse, ist gegenwärtig von Lebensmittelhilfen des UN-Ernährungsprogramms abhängig. Über 150 Bombenanschläge in verschiedenen Landesteilen, bewaffnete Konflikte sowie interethnische und interreligiöse Spannungen erschütterten seit Mai 1998 das Vertrauen der Menschen in die öffentliche Ordnung. Die Attentate auf Bali am 12. Oktober 2002 mit 202 Todesopfern erheischten nur deshalb kurz mediale Aufmerksamkeit im Westen, weil das Gros der Opfer Weiße waren.

Aceh ist eine der ältesten Konfliktregionen in Südostasien mit einer langen Tradition des Widerstands gegen Kolonialisten, Besatzer und despotische Politiker. Während der holländischen Kolonialzeit von England zeitweilig als unabhängiger Staat anerkannt, verlor Aceh diesen Sonderstatus 1871, als die Engländer klein beigaben und mit dem Vertrag von Sumatra Holland nun auch über Aceh freie Hand ließen. Der holländisch-acehnesische Krieg (1873 bis 1903) war der längste und blutigste während der niederländischen Kolonialherrschaft. Selbst nachdem der Sultan von Aceh die Waffen gestreckt hatte und der Guerillakrieg 1912 endete, sah sich die holländische Militärregierung von Sabotageakten bedroht. Die Mehrheit der Acehnesen revoltierte gegen die Herrschaft der Europäer und begrüßte 1942 die japanische Okkupation Sumatras, was den niederländischen Einfluß in diesem Teil ihres Imperiums beendete.

Seine große Rolle im Unabhängigkeitskampf Indonesiens (1945–1949) sah Aceh von der zentralistischen Politik Jakartas unzureichend gewürdigt: 1953 wurde eine unabhängige islamische Republik ausgerufen, die im Jahre 1961 erst aufgelöst wurde, nachdem Jakarta dem Territorium einen Sonderstatus zubilligte. Das änderte nichts daran, daß Jakarta auch fortan die Politik in Aceh und über den Erlös seiner Ressourcen bestimmte.

Die Armee zieht die Fäden

Aceh ist reich an Bodenschätzen, inklusive der für Indonesien wichtigen Öl- und Erdgasvorkommen, die seit Beginn der siebziger Jahre systematisch erschlossen wurden. Ökonomisch wäre ein eigenständiges Aceh überlebensfähig. Würde auch der Rest Sumatras auf Distanz zu Jakarta gehen, bräche ein bedeutsamer Exportzweig Indonesiens weg. Allein die Ölfelder in Zentral- und Südsumatra decken etwa 80 Prozent des landesweiten Rohölbedarfs. Acehs Reichtum wurde zum Fluch, weil Jakarta zum Schutz der Förderanlagen immer mehr Sicherheitskräfte in die Region beorderte und damit das ohnehin vorhandene Protestpotential gegen die Zentralregierung vergrößerte und zunehmend militanter werden ließ.

Am 4. Dezember 1976 formierten sich unter Führung des heute im schwedischen Exil lebenden Muhammad Hasan di Tiro die GAM (Bewegung Freies Aceh) und ihr bewaffneter Arm, die AGAM. Aktuell beziffert Jakarta die Gesamtstärke der AGAM mit 8000 bis 10000 Mann. Erklärtes politisches Ziel der GAM ist ein unabhängiges Aceh, eine Forderung, die von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt, doch von Jakarta kategorisch abgelehnt wird. Die Konsequenz: Als die GAM den bewaffneten Kampf begann, holte Jakarta zum Gegenschlag aus. Von 1989 bis zum Ende der Ära Suharto währte die »daerah operasi militer« (DOM), das heißt, die Region war das Counterinsurgency-Terrain par excellence. Sämtliche Methoden der Aufstandsbekämpfung wurden dort praktiziert. Forderungen nach einem Referendum wurden erstickt. Massive Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung, mindestens 12000 Tote waren zu beklagen.

Die Lage schien sich während der Präsidentschaft von Abdurrahman Wahid (1999 bis 2001) zu entspannen, als Wahid erwog, die Bevölkerung Acehs nun doch in einem Referendum über die Zukunft ihrer Region selbst abstimmen zu lassen. Das wiederum ging dem Militär zu weit; es vereitelte diesen Plan. Es befürchtete die Internationalisierung des Konflikts und eine ähnliche Abfolge der Ereignisse wie in Osttimor, dessen Weg in die Unabhängigkeit letztlich durch das Engagement der Vereinten Nationen geebnet wurde. Während sich das Militär lediglich auf Gespräche über Autonomie, einen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe einließ, verstärkte es aufs Neue seine Präsenz in der Region. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde die Situation noch prekärer. So ermächtigen jetzt neue »Antiterrorgesetze« die Sicherheitskräfte, allein aufgrund geheimdienstlicher Erkenntnisse verdächtigte Personen bis zu sechs Monate festzuhalten. Außerdem wurde auch in Aceh ein Territorialkommando eingerichtet, das das Militär als Teil der staatlichen Verwaltung auf lokaler Ebene strategisch positioniert.

Im Dezember 2002 schlossen die Konfliktparteien in Genf eine Vereinbarung, die ein Waffenstillstandsabkommen, einen besonderen Autonomiestatus und eine intensive Dialogphase mit Beteiligung internationaler Beobachter vorsieht, der 2004 freie Wahlen folgen sollen. Bis zum 9. Juli soll die GAM ihre Waffen abgegeben und die Regierungssoldaten sich in vorgeschriebene Defensivstellungen zurückgezogen haben. Außerdem sollen die in Aceh verübten Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt werden. Ein Gemeinsames Sicherheitskomitee (JSC) unter Vorsitz eines thailändischen Generals mit einem philippinischen Kollegen als Stellvertreter soll all dies überwachen und befugt sein, Sanktionen zu verhängen.

Bereits kurz nach dem Jahreswechsel warf man sich gegenseitig Vertragsbrüche vor. Die GAM kritisierte das JSC wegen Befangenheit; der philippinische General könne nicht neutral sein, da Jakarta 1996 als Makler zwischen einer südphilippinischen muslimischen Widerstandsorganisation (der Moro Nationalen Befreiungsfront – MNLF) und Manila aufgetreten sei und Manila gegenwärtig mit einer rivalisierenden muslimischen Widerstandsorganisation (der Moro Islamischen Befreiungsfront – MILF) in den Südphilippinen Friedensgespräche führe. Jakarta hingegen warf der GAM vor, die JSC-Sitzungen zu verschleppen, die Waffen nicht niederzulegen und auf Sezession statt auf Autonomie zu drängen. Nichtregierungsorganisationen vor Ort beklagen, die indonesischen Sicherheitskräfte stünden hinter dem Aufbau von Milizen, die – wie im Falle Osttimors – Furcht und Schrecken säten und bereits mehrfach internationale Beobachterteams angegriffen hätten.

Aus: junge Welt, 19. und 20. Mai 2003


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