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"Diese unsere Welt ist ein klein wenig demokratischer geworden"

Prof. Dr. Werner Ruf (Kassel) zum Irakkrieg

Am 22. März fand - wie in vielen anderen Städten Deutschlands und anderswo - in Kassel eine Kundgebung gegen den Irakkrieg statt. Es war die vierte Kundgebung innerhalb von acht Tagen. Von den Beiträgen der Kundgebung dokumentieren wir im Folgenden die Rede von Werner Ruf, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Kassel.


Liebe Kasseler Bürgerinnen und Bürger, liebe Friedensfreunde,

Hier stehen wir nun am Dritten Tage dieses neuen Krieges. Wiederum haben wir ihn trotz aller Demonstrationen, trotz aller Fantasie den Formen des Widerstandes nicht verhindern können. Genauso wenig wie wir den Krieg gegen Jugoslawien verhindern konnten oder wie es uns trotz machtvollster Demonstrationen damals nicht gelungen ist, die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles zu verhindern.

Haben wir also wieder verloren? Verloren gegen die Arroganz der Macht, gegen die Wut des blindwütigen Schießens und des Mordens?

Ich glaube nein: Denn es ändert sich etwas in dieser Welt. Und ich bin mit dieser Meinung nicht allein. Ich will hier kurz die Professorin Tanja Reinhart, eine israelische Friedenskämpferin, zitieren, die diesen Krieg zum Anlass nimmt, um auf eine veränderte Weltlage hinzuweisen und dabei auf die Parabel von den Liliputanern und dem Riesen zurückgreift:

"Alles, was die Liliputaner anscheinend bisher erreichen konnten, war, den Riesen ein paar Monate aufzuhalten. Aber diese Monate waren entscheidend. Heute sind die Liliputaner so klein nicht mehr. Anfangs waren es Tausende von kleinen Organisationen, verstreut über den Globus und im Austausch über das Internet, Organisationen, die dadurch verbunden sind, dass sie spüren: wenn es so weitergeht, wird die menschliche Rasse sich selbst zerstören. Von Seattle bis Durban, von umweltpolitischen und sozialen Problemen bis zu gleichen Rechten für alle, entstand eine neue Kraft, organisiert und eingeübt im nicht-gewalttätigen Kampf praktizierter Demokratie. Diese Kraft hat es in den letzten Monaten geschafft, Herz und Verstand der Mehrheit der Menschen der ganzen Welt auf den einzig hoffnungsvollen Weg zu richten, der auf den menschlichen Grundwerten und den Grundsätzen des internationalen Rechts beruht. Die Regierungen Europas werden von ihren Völkern mitgezogen. Wie Kissinger am Sonntag in CNN mit unverhohlener Verachtung meinte: 'Schröder hatte einfach keine Wahl.' Europas neue Kraft liegt nicht im Militär sondern in der Demokratie. Im Unterschied zu den USA, Großbritannien und Spanien handeln viele europäische Regierungen gegenwärtig nach dem Willen ihrer Bürger."

Dem kann man nur zustimmen. Gerade Kanzler Schröder, der in seinem Wahlkampf auf die wahlentscheidenden Stimmen aus dem Friedenslager spekulierte, wurde dadurch auf eine Politik festgelegt, die das genaue Gegenteil der Haltung der Regierungskoalition im Falle des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien war. Und Präsident Chirac hat aufgrund seines Anti-Kriegskurses innerhalb von zwei Wochen zehn Punkte in der Popularitätsskala gewonnen. Und Tony Blair wäre schon lange nicht mehr Ministerpräsident, wenn hinter ihm nicht plötzlich die Opposition stünde. Und die polnische Regierung ist aufgrund der Auslandsschulden des Landes gegenüber den USA gezwungen, deren Kriegskurs zu unterstützen - obwohl 96% der Bevölkerung gegen diesen Krieg sind - ist das die neue, lange herbeigesehnte Demokratie?

Die Arroganz der USA, ihre Verachtung gegenüber dem Völkerrecht und den VN haben die einzig verbliebenen Supermacht weltweit isoliert: Zum ersten Male waren die Demonstrationen gegen diesen willkürlichen Krieg weltweit - global wie der Kapitalismus selbst. Die NATO, die mit dem realen Zusammenbruch des Sozialismus und der Auflösung des Warschauer Vertragssystems ihre Existenzberechtigung vor 13 Jahren verloren hat, die noch im Krieg gegen Jugoslawien funktionierte, ist erstmals in eine schwere Krise geraten. Ob sie, dank der Arroganz der derzeitigen US-Regierung jemals noch so handlungsfähig sein wird, wie sie es vormals war, erscheint inzwischen mehr als fraglich: Nicht einmal der abhängige NATO-Partner Türkei erweist sich mehr als bedingungsloser Helfershelfer.

Und wir dürfen sicher sein: Ohne den weltweiten, solidarischen Protest der Völker hätte der UN-Sicherheitsrat nicht den Mut aufgebracht, sich gegen den erpresserischen Versuch der Hegemonialmacht zu stellen und dieser das Mandat zur Führung eines völkerrechtswidrigen Krieges zu verweigern! Natürlich dürfen wir uns nicht in die Tasche lügen: Dieser Krieg ist und bleibt eine schwere Beschädigung des Systems der Vereinten Nationen, deren Kernaufgabe die Verhinderung von Kriegen ist, sagt doch Absatz 4 des Art. 2 der Charta klipp und klar, dass "die Androhung und Anwendung von Gewalt ... in den internationalen Beziehungen" verboten ist. Dank ihrer Machtvollkommenheit und Arroganz haben die USA sich dies nicht verbieten lassen.

Aber: Hätte der Sicherheitsrat den USA ein Mandat zur Kriegführung erteilt, hätte er selbst gegen Geist und Buchstaben der Charta verstoßen, hätte er selbst mitgeholfen, dieses zivilisatorische Projekt Vereinte Nationen zu demolieren. Und das ist nicht geschehen. Die oberste Instanz unseres Planeten, die für die Sicherung des Weltfriedens zuständig ist, hat - unter dem Druck der Völker - diese Pervertierung ihrer Satzung abgelehnt!

Dies alles zeigt, dass unser Druck nicht umsonst gewesen ist; es zeigt - trotz aller Schwierigkeiten und Rückschritte - dass diese unsere Welt ein klein wenig demokratischer geworden ist - und weiter demokratisiert werden kann!

Und noch eines ist gelungen, was im Getöse des Krieges in Vergessenheit zu geraten droht: dieser Krieg gegen den Irak ist in den Planungskonzepten des Pentagon keine isolierte Strategie, er ist Teil eines Gesamtkonzepts, das Präsident Bush in seiner Rede am 26. Februar auch explizit genannt hat: Die "Demokratisierung" des Nahen und Mittleren Ostens. Bei dieser Demokratisierung geht es natürlich nicht um Demokratie. Es geht um die Kontrolle des Öls - vom Persisch-Arabischen Golf bis zum Kaspischen Meer. Um die Kontrolle jenes Rohstoffs, den die großen wirtschaftlichen Konkurrenten der USA, Europa und Japan dringend benötigen. Es geht um die Zerschlagung der OPEC und die Bestimmung des Ölpreises durch die USA selbst, von denen dann die Ökonomien Europas und Japans abhängig würden. Daher sind das wahre Kriegsziel in den Planungsentwürfen von Cheney, Rumsfeld, Perle, Wolfowitz und Anderen die nächstwichtigen Erdölproduzenten Saudi-Arabien und Iran. Erst wenn diese Länder voll unter Kontrolle der USA sind, könnte erreicht werden, was auch das Ziel des Krieges in Afghanistan ist: Die Kontrolle des Öls von der arabischen Halbinsel bis zu Kaspischen Becken.

Diese Kriege zu führen, für die der Irak der Auftakt und der Anlass sein sollte, das dürfte jetzt schwierig werden. Weder vor der Weltmeinung noch im UN-Sicherheitsrat können die USA noch eine Legitimation für ihre geplanten Kriege mehr erwarten. Und ob sie weiter brüchige Koalitionen dafür finden, ist mehr als zweifelhaft.

Dies ist es, was wir Liliputaner erreicht haben. Dies heißt, dass wir wachsam bleiben müssen, dass wir die moralischen und vor allem die völkerrechtlichen Fäden um den Riesen fester zurren müssen, dass wir auf seine Helfershelfer aufpassen müssen. Vor allem, dass wir mit unseren Demonstrationen und Willensbekundungen nicht aufhören dürfen, dass wir zeigen: Wir lassen Völkerrechtsverletzungen und Krieg nicht mehr zu - genau so, wie es die Charta der VN bestimmt!

Für uns in der Bundesrepublik heißt das konkret, dass auch keine "passive" Unterstützung völkerrechtswidriger Handlungen geduldet werden darf, dass es keine Überflugsrechte für die Kriegführenden geben darf, dass deutsche Soldaten keinen Dienst in AWACS-Flugzeugen tun dürfen, dass keine weiteren Fuchspanzer in das kriegsbeteiligte Kuweit verlegt werden dürfen, sondern dass die dort stationierten Mannschaften der Bundeswehr abgezogen werden müssen. Sonst, Herr Bundeskanzler, bleiben Ihre Worte, dass die Bundesrepublik sich an diesem Krieg nicht beteiligt, leer, ja unehrlich! Und die Politik Ihrer Regierung im Sicherheitsrat macht sich unglaubwürdig, gerade auch in den Augen jener kleinen und armen Staaten, die aufgrund ihres Stimmverhaltens von den USA unter massiven finanziellen Druck gesetzt werden. Moral ist nicht teilbar, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister - genauso wenig wie es für das Völkerrecht zwei Lesarten geben kann! Wenn Sie sich auf die Demokratie berufen, dann heißt das: Tun Sie, was die große Mehrheit des Volkes von Ihnen erwartet: Stehen auch sie auf gegen diesen Krieg!


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