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Politisch hängt Irak weiter in der Luft

US-Kampfeinsatz offiziell beendet / Land in desolater Sicherheitslage und ohne Regierung *

Siebeneinhalb Jahre nach dem Einmarsch in Irak ist der Kampfeinsatz der US-Armee dort am Dienstag offiziell zu Ende gegangen.

US-Präsident Barack Obama, der den Abzug zu einem seiner wichtigsten Wahlkampfversprechen gemacht hatte, wollte sich am Abend (Mittwoch 2 Uhr MESZ) in einer live aus dem Oval Office im Fernsehen übertragenen Ansprache an die Nation eine Bilanz des Krieges ziehen und über das künftige Verhältnis der USA zu Irak sprechen. Kurz vor dem Ende des Kampfeinsatzes besuchte der US-Präsident ein Militärkrankenhaus im Norden der Hauptstadt Washington und traf dort nach Angaben des Weißen Hauses vom Montag mit Soldaten zusammen, die in Afghanistan und Irak im Einsatz waren.

Die letzten US-Kampftruppen hatten bereits am 19. August die Grenze zu Kuwait überquert. Nach ihrem Abzug verbleiben knapp 50 000 US-Soldaten in Irak, deren Aufgabe sich auf die Ausbildung und Beratung der einheimischen Truppen beschränkt. Sie sollen das Land bis Ende 2011 verlassen.

Iraks Regierungschef Nuri al-Maliki betonte, dass er Armee und Polizei seines Landes für fähig halte, »volle Verantwortung« für die Sicherheit zu übernehmen. »Leider« laufe derzeit eine »Kampagne«, die Zweifel daran säe, sagte Maliki am Dienstag im irakischen Staatsfernsehen. Der Abzug der US-Truppen hatte Befürchtungen bezüglich der ohnehin angespannten Sicherheitslage in Irak genährt. Iraks Generalstabschef Babaker Sebari warnte, sein Land werde erst 2020 in der Lage sein, allein für seine Sicherheit zu sorgen.

Ein weiterer Grund zur Sorge ist die andauernde politische Hängepartie in Irak. Knapp sechs Monate nach der Parlamentswahl ist die Bildung einer neuen Regierung immer noch in weiter Ferne. Weder das Bündnis Irakija des früheren Ministerpräsidenten Ijad Allawi noch die Rechtsstaatsallianz von Maliki hatten eine ausreichende Mehrheit erreicht. Die Koalitionsverhandlungen führten bislang zu keinem Ergebnis.

US-Vizepräsident Joe Biden, der am Montag zu einem Überraschungsbesuch nach Irak gereist war, um den Druck der US-Regierung auf die führenden irakischen Politiker zur Regierungsbildung zu erhöhen, setzte am Dienstag seinen Besuch in Bagdad fort. Biden sollte mit Präsident Dschalal Talabani sowie Allawi und Maliki zusammentreffen. Am heutigen Mittwoch nimmt der US-Vizepräsident an einer Zeremonie teil, die den Übergang des US-Einsatzes von der Kampfmission »Iraqi Freedom« zum »Stabilisierungseinsatz« »New Dawn« (Neue Morgendämmerung) markieren soll.

Iran bezeichnete es als »inakzeptabel«, dass auch nach dem Ende des Kampfeinsatzes US-Soldaten in Irak stationiert bleiben.

* Aus: Neues Deutschland, 1. September 2010


Weiterhin an Euphrat und Tigris **

Während mehrerer Auftritte erklärte US-Präsident Barack Obama zu Wochenbeginn den »Kampfeinsatz« seines Söldnerheeres im Irak für »offiziell beendet«. Am Montag abend (Ortszeit) traf er zunächst in einem Militärkrankenhaus im Norden der Hauptstadt Washington 29 verwundete Soldaten, die in Afghanistan und Irak eingesetzt waren. Zudem verlieh er elf »Purple-Heart«-Medaillen, mit denen kriegsverletzte Soldaten ausgezeichnet werden. Am Dienstag wollte Obama auf einem US-Militärstützpunkt im Bundesstaat Texas kürzlich aus Bagdad abgezogene Soldaten treffen, bevor er am Abend (Mittwoch, 2.00 Uhr MESZ) in Washington eine Rede zum Irak-Krieg halten wollte.

»Kaum ein Iraker weint den US-Truppen eine Träne nach«, berichtete am Dienstag ARD-Korrespondent Ulrich Leidhold aus dem nordirakischen Erbil. Die Erfahrungen aus siebeneinhalb Jahren Besatzung hätten »Resignation, Wut oder auch Haß erzeugt«– und das selbst bei denen, »die erleichtert waren, als Saddam Hussein gestürzt wurde«.

Trotzdem kam es aus Anlaß des vorgeblichen US-Abzugs zu keinen Jubel­szenen im Irak. Hauptgrund: An dem Besatzungszustand des Landes ändert sich wenig. Zwar wurde die Mission »Iraqi freedom« (Irakische Freiheit) in »New dawn« (Morgendämmerung) umbenannt, doch stehen die an Euphrat und Tigris verbleibenden 50000 Soldaten, die sich nun um die Ausbildung der einheimischen Militärs und Polizei kümmern sollen, Gewehr bei Fuß: Sie sollen sowohl zu Spezialeinsätzen jederzeit abrufbar sein als auch gemeinsam mit irakischen Truppen bei Bedarf gegen Aufständische kämpfen.

Seine politische Kontrolle und Einflußnahme sichert sich Washington unter anderem durch die Anwesenheit eines wahren Diplomatenheers aus 2400 Personen, angeleitet über eine riesige Botschaft in Bagdad. Weiterhin existieren Dutzende Militärbasen mit Waffen, die lediglich von US-Spezialisten bedient werden können. Und: Tausende Privatsöldner diverser »Sicherheitsfirmen« aus den Vereinigten Staaten bleiben dauerhaft stationiert.

»Ich glaube nicht, daß die Amerikaner zu hundert Prozent aus dem Irak gehen«, sagt Professor Azzad Othman von der Universität Erbil (tagesschau.de, 31.8.). Mehr als 4000 US-Soldaten seien getötet, Milliarden Dollar ausgegeben worden. »Diese Region ist für die weiteren Interessen der USA wichtig.«

Seit der völkerrechtswidrigen Invasion der »Koalition der Willigen« im März 2003 hat sich die Lage der Bevölkerung – trotz vorherigen Embargos gegen die Regierung unter Präsident Saddam Hussein – weitgehend verschlechtert. Das betrifft auch die Sicherheitslage. Trotzdem erklärte Iraks derzeitiger Regierungschef Nuri Al-Maliki am Dienstag, er halte Armee und Polizei seines Landes für »fähig, die volle Verantwortung« für die Sicherheit zu übernehmen.

** Aus: junge Welt, 1. September 2010


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