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Mutter Jalals Verzweiflung

Der Alltag der Zivilbevölkerung wird immer schwieriger

Von Karin Leukefeld *

Die Stimmung in Irak ist auf einen neuen Tiefpunkt gesunken, wie auch eine neue repräsentative Umfrage zeigt. Neben der anhaltenden Gewalt treibt eine enorme Teuerung die Menschen zur Verzweiflung.

Über 20 Menschen starben auch gestern bei Anschlägen in Irak. Allein Bombenattentate forderten in den vergangenen vier Jahren über 11 000 Tote. Wöchentlich zählt das Pentagon inzwischen über 1000 Angriffe. Aber auch jenseits der ausufernden Gewalt im Lande wird der Alltag der Iraker immer schwieriger. Viele können sich heute nur noch mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Für Benzin, das früher staatlich subventioniert wurde und pro Liter 20 bis 50 irakische Dinar (ID) kostete, bezahlt man heute pro Liter 800 ID. Im Gegenzug zu dieser vom Internationalen Währungsfonds und Banken geforderten »Strukturreform« bekommt die irakische Regierung Kredite. Doch die Grundversorgung der Bevölkerung mit Strom und Wasser stagniert oder ist rückläufig. Haushalte in Bagdad erhalten pro Tag nur ein bis zwei Stunden Strom aus dem öffentlichen Stromnetz, wenn überhaupt. Trinkwasser müssen die Menschen kaufen. Wer das Geld dafür nicht hat, schöpft das Wasser aus einem Fluss.

In den ländlichen Gebieten ist die Versorgungslage noch schlechter. Umm Muhammad Jalal (39) lebt in einem Flüchtlingslager außerhalb von Falludscha. Jeden Morgen geht sie zum sieben Kilometer entfernten Euphrat, um Wasser zu holen. Seit vier Monaten seien sie gezwungen, das Wasser zum Trinken, Waschen und Putzen aus dem Fluss zu holen, berichtet sie dem regionalen UN-Informationsnetzwerk IRIN. »Meine Kinder haben Durchfall, aber ich habe keine Wahl. Ohne Wasser können wir nicht leben.« Immer weniger Hilfsorganisationen kämen zu den Flüchtlingen, die meisten hätten ihre Arbeit wegen der Gefahren eingestellt, andere würden vom Militär daran gehindert, die Flüchtlinge zu erreichen. »Die Regierung tut nichts für uns, wir müssen uns selber um unser Überleben kümmern. Niemals habe ich mir vorgestellt, dass ich eines Tages Wasser aus einem schmutzigen Fluss trinken muss.«

Schon vor der US-Invasion 2003 war die irakische Wasserversorgung ein Problem. Die 13 Jahre dauernden UN-Sanktionen hatten verhindert oder verzögert, dass notwendige Ersatzteile und Chemikalien für die Wasserreinigung geliefert wurden. Begründung: Die Iraker hätten das »dual-use«-Ma- terial zum Bombenbau nutzen können. Kriegsbedingte Schäden haben die Lage zusätzlich verschlechtert. 1,8 Millionen Iraker sind nach UN-Angaben Vertriebene im eigenen Land und leben in Notunterkünften. Ihr Zugang zu sauberem Wasser ist nirgends gesichert. Nach Angaben der irakischen Wasserbehörde haben derzeit nur 32 Prozent der Iraker Zugang zu Trinkwasser, nur 19 Prozent leben in Häusern mit funktionierender Kanalisation.

Besonders schlecht sei die Lage in den zentralirakischen Provinzen Anbar und Bagdad, berichtet Fatah Ahmed von der Irakischen Hilfsorganisation (IAA). »Die Trinkwassersysteme in den meisten Vororten von Bagdad und in der Provinz Anbar sind zerstört. Die Menschen dort haben entweder kein sauberes Trinkwasser oder gar kein Wasser mehr.« Nach Einschätzung von IAA beziehen 60 Prozent der Bevölkerung in den genannten Provinzen ihr Wasser aus Flüssen. »Seit Beginn des Jahres 2006 sind allein in der Provinz Anbar Durchfallerkrankungen bei Kinder um 70 Prozent gestiegen, bei Erwachsenen um 40 Prozent«, sagt die Kinderärztin Khalifa Kubaissy aus Falludscha. Am schlimmsten sei es in den Städten Al Khaim und Hit, die direkt am Euphrat liegen. Eine Choleraepidemie sei nicht ausgeschlossen.

Die genannten Orte sind besonders umkämpft, irakisches und US-Militär führen dort fast täglich Razzien durch. Die örtlichen Scheichs und Stadtverwaltungen sind nicht mehr in der Lage, die Bevölkerung zu versorgen. Ahmed Muhammad, Sprecher des Provinzrates von Ramadi, appelliert an die Regierung in Bagdad, dringende Reparaturen endlich durchzuführen. Im zuständigen Ministerium in Bagdad macht man Milizen und Aufständische für die Zerstörungen der Infrastruktur verantwortlich. Außerdem fehle es an Geld für die Reparaturmaßnahmen, heißt es. Millionen Dollar habe die Korruption verschlungen.

* Aus: Neues Deutschland, 20. März 2007


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