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Die Angst gehört in Irak zum Alltag

Tausende Zivilisten starben im vergangenen Jahr durch die anhaltende Gewalt

Von Karin Leukefeld *

Irak versinkt in Gewalt und Chaos. Schuld daran sind nicht nur anhaltende Besatzung und Auseinandersetzungen, sondern auch der psychische Druck auf der Bevölkerung.

»Ich werde noch verrückt hier!« Asjia T. ist außer sich. Die 60-jährige Dolmetscherin aus Bagdad berichtet am Telefon nervös über die Ereignisse der letzten Tage. Ihr Elternhaus liegt in einem einst ruhigen Viertel am Tigris, das Haus ihres Bruders, der in Deutschland Medizin studiert hatte, wurde Ende der sechziger Jahre direkt daneben gebaut. Vor wenigen Tagen wurde das Gebäude durch zwei fehlgeleitete Raketen teilweise zerstört. Der Bruder »war gerade in der Küche, als die Raketen in das Haus einschlugen«, berichtet Asjia. Wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. Die Schwägerin erlitt einen Nervenzusammenbruch und floh mit der Tochter zu den Eltern aufs Land. Für den jüngsten Sohn kauften sie ein Flugticket nach Erbil im kurdischen Norden, wo er nun bei einer Tante lebt und mit einem Gaststipendium sein Medizinstudium fortsetzen kann. Asjia und ihr Bruder räumen derweil die Trümmer beiseite. »Immerhin, wir leben noch«, sagt sie.

Ein tragisches Schicksal erlitt auch der 29-jährige Abbas Dawood, der seine Geschichte dem UNInformationsnetzwerk (IRIN) berichtete. In weniger als einem Jahr verlor der junge Mann elf Familienangehörige. Mit seinem Bruder Mohammad (19) arbeitete er in einem Restaurant in Bagdad, als es durch eine Explosion zerstört wurde. Abbas konnte durch die Amputation eines Beines gerettet werden, sein Bruder überlebte nicht. Kurz darauf wurden seine Eltern von Milizangehörigen erschossen, weil sich die beiden geweigert hatten, ihr Haus zu verlassen. Sein Onkel, dessen Frau und vier Kinder wurden getötet, als sie versuchten, nach Syrien zu fliehen. Abbas war verlobt, doch nachdem er zum Krüppel geworden war, trennte sich seine Verlobte von ihm, er zog zu seiner Schwester. Als diese vor zwei Wochen mit ihrem Ehemann zur Arbeit fuhr, explodierte das Auto, beide starben. Wie es zu der Explosion kam, weiß niemand. Laut Regierung sollen 2006 12 000 Iraker eines gewaltsamen Todes gestorben sein, doch Abbas ist überzeugt, dass die Zahl höher ist: »Wenn die Regierung nicht sofort etwas unternimmt, wird es in diesem Jahr noch schlimmer werden.«

Unweigerlich vergleichen die Iraker ihr heutiges Leben mit dem unter Saddam Hussein, das viele heute für besser halten, vor allem für sicherer. Täglich werden in und um Bagdad Leichen gefunden, oft mit Folterspuren. Hintergründe erfährt man selten, manchmal sind es Entführungsopfer, deren Familien das Lösegeld nicht zahlen konnten. Besonders von Gewalt betroffen sind auch die palästinensischen Flüchtlinge, von denen laut UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2003 noch rund 34 000 im Irak lebten. Heute sind es weniger als 15 000. Mitte Dezember wurde ein palästinensisches Wohnviertel in Bagdad von Milizen angegriffen, acht Palästinenser starben. Angehörige der USAArmee und irakische Polizisten sahen nach Augenzeugenangaben untätig zu. Auch Christen werden gezielt bedroht und vertrieben, sagt Pfarrer Lucas Barini von der Christlichen Friedensvereinigung in Bagdad. Christen machen im Irak rund vier Prozent der Bevölkerung aus, stellen heute aber 30 Prozent der Flüchtlinge.

Seit Januar 2006 untersucht das irakische Gesundheitsministerium die steigende Zahl von Selbstmorden in Irak. 20 Menschen bringen sich monatlich um, 30 weitere werden gerettet. Unter dem früheren Regime habe es monatlich nur einen oder zwei Fälle von Selbstmord gegeben, sagt Achmed Fatah, Mitglied der Forschungsgruppe, die die Selbsttötungen untersucht. Der psychische Stress, der allgegenwärtige Druck und die Angst vor der Gewalt seien die Hauptgründe dafür, sagt Dr. Muhammad Hamza vom Gesundheitsministerium. 70 Prozent der Selbstmörder würden ihrem Leben mit Rattengift ein Ende setzen.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Januar 2007


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