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Selbstmordanschläge in in Serie erschüttern Irak

Deutliche Zunahme der Attentate seit Anfang März

Von Karin Leukefeld *

Auf einem Markt in einem Vorort der irakischen Hauptstadt Bagdad hat ein Selbstmordattentäter am Dienstag (10. März) 41 Menschen getötet, unter ihnen zahlreiche Sicherheitskräfte. Sie hatten Marid al-Hassun bewacht, den Berater von Ministerpräsident Nuri al-Maliki für die Angelegenheiten der Stämme. Er war nach einem Treffen mit Stammesscheichs über den Platz spaziert. Schon am Wochenende kamen bei einem Anschlag vor einem Rekrutierungszentrum der Polizei in der Bagdader Palästinastraße 32 Menschen ums Leben. Auch dafür war ein Selbstmordattentäter verantwortlich.

Die Zahl der irakischen Anschlagsopfer lag im Februar mit 250 zwar deutlich niedriger als im Vergleichsmonat 2008, als noch 3000 Menschen getötet wurden. Doch schon in der ersten Märzwoche stieg sie wieder deutlich an. Märkte, Busbahnhöfe, Moscheen, Universitäten sowie Polizeiwachen und Ausbildungszentren werden immer wieder als Anschlagsziele ausgesucht. Die Polizeiakademie an der Palästinastraße beispielsweise war erstmals 2005 von zwei Selbstmordattentäterinnen aufgesucht worden. Damals starben 40 Menschen. Anfang Dezember 2008 wurde das Gebäude erneut angegriffen, 15 Personen wurden getötet. Am vergangenen Wochenende waren es 32.

Nach Ansicht der irakischen Polizei wurde der Attentäter am Sonntag von einer Al-Qaida-Gruppe geschickt. Das meint auch Generalmajor David Perkins, der Sprecher der USA-Truppen in Irak. Das Terrornetzwerk fühle sich bedroht, sagte Perkins gegenüber Journalisten in Bagdad. »Sie sind verzweifelt und wollen zeigen, dass sie noch immer Bedeutung haben.« Nach Ansicht vieler Iraker handelt es sich bei »Al Qaida« allerdings um eine Schimäre, die immer wieder benutzt wird, um andere Urheber oder schlichte Unwissenheit über die Hintergründe von Anschlägen zu bemänteln. »Es gibt mehr als eine Qaida«, sagt Professor Khair el-Din Haseeb, Leiter des Instituts für Studien zur Arabischen Einheit in Beirut, gegenüber dieser Zeitung. »Eine gehört den Amerikanern, eine den Israelis, eine den Iranern und so weiter.« Kaum einer der vielen Angriffe, denen Tausende Menschen zum Opfer fielen, wurde aufgeklärt.

Personen, die Anschläge ausführen, haben mehr mit den Opfern als mit ihren Auftraggebern gemeinsam. Die Frauen, die Selbstmordanschläge ausführen, sind durchweg Witwen aus ländlichen Gebieten, wo sie oft nicht nur ihren Ehemann und Ernährer, sondern auch Kinder, Väter, Onkel, Brüder, ihr gesamtes Hab und Gut bei Razzien und Angriffen der irakischen und US-amerikanischen Sicherheitskräfte verloren haben. Obwohl ein Gesetz den Witwen pro Tag umgerechnet etwa 0,90 Cent an staatlicher Unterstützung verspricht, erhalten sie nach Angaben der Hilfsorganisation OXFAM weniger als ein Viertel des Geldes. Das Ansehen von Witwen in der irakischen Gesellschaft ist schlecht, viele haben keine Hoffnung mehr auf eine bessere Zukunft.

Es gibt aber auch Selbstmordattentäter, die nicht wissen, dass sie eine lebende Bombe sind: Arbeitslose, die glauben, einen kleinen Job auszuführen, wenn sie ein Auto irgendwohin fahren, oder Analphabeten, Kranke und geistig behinderte Personen. Fahrzeuge werden fast immer per Fernzündung zur Explosion gebracht. Rekruten hingegen, die bei solchen Anschlägen getötet werden, würden lieber heute als morgen einen anderen Job machen, als bei der Polizei anzuheuern. Doch die enorme Arbeitslosigkeit und der Mangel an Arbeitsplätzen lässt ihnen keine andere Wahl, wenn sie genügend Geld verdienen wollen, um eine Familie zu gründen oder ihre Eltern und Geschwister zu ernähren.

* Aus: Neues Deutschland, 11. März 2009


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