Regionalmacht zerstört
Sanktionen, Krieg und Besatzung: Sammelband zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Irak sowie zu den Folgen westlicher Interventionspolitik
Von Joachim Guilliard *
Krieg und Besatzung im Irak sind seit langem aus der öffentlichen
Wahrnehmung verschwunden. Obwohl sie eine der größten humanitären
Katastrophen der letzten Jahrzehnte verursachten, über eine Million
Menschenleben forderten und fünf Millionen zu Flüchtlingen machten,
bleibt auch die kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der
Kriegs- und Besatzungspolitik rar. So ist es nur zu begrüßen, daß
Johannes M. Becker und Herbert Wulf einen Band zusammenstellten, der
sich eingehend mit Geschichte, Gegenwart und Perspektiven des
geschundenen Landes befaßt. Die Beiträge, die das Thema unter sehr
verschiedenen Blickwinkel beleuchten, zeigen auch deutlich, wie wenig
die verschiedenen Aspekte - seien es die Sanktionen, das Versagen der
UNO oder die Rolle der Medien - bisher wirklich aufgearbeitet wurden.
Einen guten Überblick über die aktuelle Lage verschafft die von Johannes
M. Becker im ersten Kapitel gezogene »Bilanz eines katastrophalen
Krieges«. Kurz aber eindringlich skizziert er die Folgen von Krieg und
Besatzung: den Zusammenbruch der Versorgung, den ausbleibenden
Wiederaufbau, die maßlose Bereicherung US-amerikanischer und britischer
Konzerne und nicht zuletzt die eskalierende Gewalt von Besatzungstruppen
und irakischer Milizen. Schlüssig führt Becker die Triebkräfte des
Krieges auf das Streben nach Kontrolle über die irakischen Ölressourcen
und dem Aufbau permanenter Militärbasen im Herzen der strategisch so
bedeutenden Region zurück. Auch auf den Widerstand geht der Marburger
Politikwissenschaftler ein. Dieser entwickelte sich rasch und effektiv
gegen die Besatzung, seine Zusammensetzung und Zielsetzung blieben im
Westen aber weitgehend unbekannt. Den optimistischen Berichten, die die
USA mittlerweile auf der Siegerstraße sehen, stellt er die nüchterne
Einschätzung von Lothar Rühl, Militärexperte der FAZ und ehemalige
Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium entgegen. Dieser sieht
aktuell nur eine vorübergehende Beruhigung, die typisch für
Befreiungskriege ist. »In allen diesen Krisen gab es Abschwächungen, die
etwas Ruhe brachten und positive Aussichten eröffneten, die aber nur
Übergangszustände waren, Übergangszustände auf dem Weg in die Niederlage.«
Traditionelle Konflikte?
Wertvolle Einblicke in die irakische Gesellschaft bietet der Beitrag von
Walter Sommerfeld. Er tritt den »simplifizierenden Erklärungsmuster«
entgegen, die in westlichen Medien vorherrschen, wie z.B. den
verbreiteten Glauben an einen »traditionellen Konflikt zwischen Sunniten
und Schiiten«. Der Marburger Altorientalist, der den Irak aus vielen,
langen Studienaufenthalten sehr gut kennt, setzt dem einen Abriß zu
Strukturen der irakischen Gesellschaft entgegen. Die Ursachen der
katastrophalen Lage und der beispiellosen Gewalteskalation im Irak sieht
Sommerfeld nicht in erster Linie in alten, innerirakischen Konflikten.
Er führt sie vielmehr zum »großen Teil auf eine Serie von
Fehleinschätzungen, Versäumnissen und falschen Entscheidungen der
Besatzungsmächte« zurück, darunter die »abrupte Auflösung von Polizei
und Armee« im ersten Jahr der Okkupation, die »Tolerierung der
Zerstörung der staatlichen Infrastruktur durch Plünderungen und
Vandalismus«, »eine übereilte Wirtschaftsreform« und die Implementierung
einer Machtkämpfe begünstigenden politischen Neuordnung. Unterbelichtet
bleibt dabei leider die unmittelbare militärische Gewalt der
Besatzungstruppen, die von ihm nur als »rüdes, respektloses,
gewalttätiges Verhalten« charakterisiert wird, wie auch der von den
Besatzern und ihren irakischen Verbündeten geführte schmutzige Krieg,
der erheblich zur Eskalation innerirakischen Gewalt beitrug.
Gescheiterte UNO
Da eines der wesentlichen Ziele der US-Regierung und Präsident George W.
Bush darin bestand, den Irak als Regionalmacht dauerhaft auszuschalten,
waren viele der geschilderten Maßnahmen der Besatzer auch nicht einfach
wie er und auch Johannes M. Becker mutmaßen, vermeidbare »Fehler«,
sondern eine konsequente Umsetzung dieses Vorhabens.
Weder politisch noch juristisch aufgearbeitet, schwärt die
Sanktionspolitik der Vereinten Nationen gegen den Irak zwischen 1990 und
2003 wie eine unverheilte Wunde weiter. Hans-Christoph von Sponeck, als
ehemaliger UN-Koordinator für die humanitäre Hilfe im Zweistromland
einer der besten Kenner der Vorgänge, zieht gemeinsam mit dem
Politikwissenschaftler Tareq Y. Ismael die wesentlichen Lehren daraus.
Ihre Bilanz ist eindeutig: Da die allumfassenden Sanktionen trotz der
rasch sichtbaren, katastrophalen Auswirkungen für die irakische
Bevölkerung Jahr für Jahr weitergingen und das Leiden der Menschen auch
durch das Programm »Öl für Nahrungsmittel« nicht entscheidend
abgemildert werden konnte, ist die UNO als Garant des Völkerrechts
völlig gescheitert. Durch das Elend, das sie verursachten, habe das
Embargo sogar »in beispiellosem Ausmaß gegen geltendes Völkerrecht«
verstoßen. Sponeck und Ismael sind überzeugt, daß dieses Elend
beabsichtigt war: »Im nachhinein betrachtet müssen wohl die Veränderung
der Regierung und die Auflösung der irakischen Gesellschaft die
endgültigen Ziele der Sanktionen gewesen sein, denn sie ließen den Irak
- den einzigen arabischen Kandidat für eine Führungsrolle - in einem
heillosen Durcheinander zurück.« Die »angloamerikanische Umsetzung der
Sanktionen« bringe diese »sehr nahe an Völkermord und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit, wie im Statut des Internationalen Gerichtshofes
beschrieben«.
Lehrreich auch für zukünftige Konflikte ist die Analyse des Marburger
Psychologen Gert Sommer, der eingehend die ausgeprägte und wirksame
Produktion von Feindbildern im Vorfeld der beiden US-geführten Kriege
untersuchte. Sein zweiter Beitrag gibt einen sehr guten Überblick über
die massiven Menschenrechtsverstöße und Verbrechen während des Krieges
und erinnert daran, daß keiner der maßgeblich Verantworlichen dafür
bisher in irgendeiner Weise bestraft wurde.
Mehrere Aufsätze widmen sich unmittelbar der Rolle der Medien im
Irak-Krieg. Andréa Eleonore Vermeer beurteilt sehr kritisch die
Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland,
Julia Sommerhäuser untersucht die Vor- und Nachteile einer neuen Form
der Kriegsberichterstattung, die War-Blogs-Webseiten, in denen
tagebuchähnlich aus persönlicher Sicht über Erlebnisse und Ereignisse
erzählt wird. Ein weiteres wichtiges Problem ist die »Privatisierung«
des Krieges. Herbert Wulf beschreibt die enorme Zahl der im Irak
agierenden privaten Militärfirmen und die zusätzliche Bedrohung, die ihr
Einsatz für die Bevölkerung bedeutet. Als Beitrag zur Vorgeschichte der
US-Invasion beschreibt derselbe Autor in einem weiteren Beitrag die
Abrüstungsbemühungen der UNO und die Suche der UN-Inspektoren nach den
angeblich versteckten Massenvernichtungswaffen, mit denen die USA ihren
Krieg rechtfertigten.
Kein Ausweg
Etwas widersprüchlich und dem Mainstream der Berichterstattung über den
Irak verhaftet, ist der Beitrag von Jochen Hippler zur sogenannten
Nachkriegszeit. Er gibt einerseits einen sehr guten Überblick über die
wirtschaftliche Situation unter Besatzung und die gesellschaftlichen
Auswirkungen. In seiner Analyse erweckt der Autor jedoch den Eindruck,
die USA wären mit den besten Absichten im Irak einmarschiert und seien
dann durch schlechte Vorbereitung in den Schlamassel geraten.
Leider fehlen in dem Sammelband Vorschläge für einen Ausweg aus der
irakischen Misere, die es durchaus sowohl aus den Kreisen der irakischen
Opposition wie auch unabhängiger Experten seit längerem gibt. Eine
irakische Sicht auf die Perspektiven fehlt völlig. Ungeachtet dessen
bietet das Buch eine Fülle wertvoller Hintergrundinformationen und
Analysen, die eine wichtige Gegenposition zur offiziellen Darstellung
des fast zweijahrzehntelangen Konfliktes darstellen.
Johannes M. Becker, Herbert Wulf (Hrsg.): Zerstörter Irak, Zukunft des
Irak? - Der Krieg, die Vereinten Nationen und die Probleme eines
Neubeginns. Lit Verlag, Berlin 2008, 296 Seiten, 24,90 Euro * Reihe:
Schriftenreihe zur Konfliktforschung. Bd. 24, (ISBN 978-3-8258-1200-3)
* Aus: junge Welt, 17. August 2009
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