Im Jahr eins nach Saddam Hussein
Latenter Krieg und verschwundene Waffen im Irak
Von Eric Chauvistré*
Kein triumphales Auftreten. Keine Siegesfeier.
Der Präsident verzog keine
Miene, als er am 14. Dezember in einer
Fernsehansprache live aus dem Weißen
Haus das bestätigte, was sein Statthalter
im Irak, Zivilverwalter Paul Bremer,
kurz zuvor schon verkündet hatte: die
Festnahme Saddam Husseins. Dabei
hätte George W. Bush doch anders als
Anfang Mai – als er auf einem Flugzeugträger
vor dem Schriftzug „mission
accomplished“ posierte, um das vermeintliche
Ende der Hauptkampfhandlungen
im Irak zu verkünden – diesmal
tatsächlich einen Grund gehabt, mit der
Erledigung einer, wenn auch selbst gestellten,
Aufgabe aufzutrumpfen. War
da doch jemand gefangen genommen
worden, den kaum jemand, auch in der
arabischen Welt, nicht mit Abscheu
betrachten dürfte.
Doch wer gerade einen Erfolg verbucht
hat, vermehrt seine Ehre bekanntlich
durch demonstrative Bescheidenheit.
Vielleicht ahnte Bush auch,
dass die Festnahme des einstigen Diktators
ihm bestenfalls eine Verschnaufpause
verschaffen würde. Es dauerte
denn auch nur wenige Wochen, bis sein
ehemaliger Finanzminister Paul O’Neill
den Präsidenten in Verlegenheit brachte:
Bereits in den ersten Tagen nach Antritt
der Regierung Bush im Januar 2001,
so plauderte der Ex-Minister aus, sei es
nur noch um das „Wie“ und nicht um
das „Ob“ eines Angriffs auf den Irak gegangen.
Eine Reaktion auf die Anschläge
vom 11. September, wie Bush stets
der US-Öffentlichkeit suggeriert hatte,
kann der Spektakel-Krieg am Golf dann
nicht gewesen sein.
Im Jahr eins nach Sturz und Festnahme
des Diktators sind die Herausforderungen
für den Präsidenten infolge seiner
Irak-Invasion also alles andere als
kleiner geworden. Zum einen muss
die US-Regierung einen Prozess mit
zumindest einigermaßen rechtsstaatlichem
Anschein organisieren. Gleichzeitig
wird sie bemüht sein, die langjährige
US-Unterstützung für den Diktator
dabei nicht weltöffentlich aufrollen zu
lassen. Zum anderen kann auch ein
makelloser Prozess nicht vergessen
machen, dass keine Hinweise auf jene
Waffenprogramme zu finden sind, mit
denen Bush den Krieg innenpolitisch
zum Teil und international in der
Hauptsache begründete. Und schließlich
geht der latente Krieg im Irak weiter.
Bringt die Festnahme Saddam Husseins
nicht den Wendepunkt zugunsten
der Besatzer, schwindet auch die Hoffnung
auf einen simple fix, auf eine
einfache Lösung – und das in einem
Jahr, in dem Bush seine Wiederwahl
zum Präsidenten der Vereinigten Staaten
feiern will.
Der rechtsstaatliche Prozess
Ein transparentes und rechtsstaatliches
Verfahren gegen Saddam Hussein
brächte nicht nur zumindest ein wenig
Genugtuung für die Opfer und die Angehörigen
der Ermordeten. Es könnte
zudem helfen, die Grundlage für einen
demokratischen Irak zu schaffen. Dazu
müsste das Verfahren jedoch die Strukturen
offen legen, die es Saddam Hussein
ermöglichten, seine verbrecherische
Politik zu betreiben. So ließe sich
womöglich etwas darüber erfahren, wie
unter den speziellen Bedingungen eines
arabischen Landes ein brutaler Herrscher
aufsteigen und sich so lange an
der Macht halten konnte. Und man würde
etwas über die Rolle externer Akteure
bei der Stabilisierung von Diktatoren
lernen. Das aber hieße: Auch ausländische
Regierungen, einschließlich die
der USA, müssten zu ihrer Rolle beim
Aufstieg Saddam Husseins stehen.
Einiges deutet darauf hin, dass die
Chance, mit einem rechtsstaatlichen
Prozess im Irak und der Region für Demokratie
zu werben, leichtfertig vertan
wird. Die unerwartet lange Suche nach
Saddam Hussein hatte der US-Regierung
eigentlich genügend Zeit gegeben,
um bei dessen Festnahme ein
politisch wie juristisch abgesichertes
Konzept für den Umgang mit dem
Ex-Diktator vorzulegen. Doch auch
Wochen später stand nicht fest, was mit
dem prominenten Gefangenen geschehen
sollte. Zwar stellte die US-Verwaltung
ein Verfahren vor einem irakischen
Gericht in Aussicht, umso größer
war die Verwirrung, als das Pentagon,
nach knapp einem Monat der Abschottung
und der Verhöre durch US-Geheimdienste,
Saddam Hussein Mitte
Januar offiziell zu einem Kriegsgefangenen
erklärte. Seitdem genießt er
Rechte, die das US-Militär Tausenden
Irakern, denen es Gewaltakte gegen
die Besatzungstruppen vorwirft, ebenso
verweigert wie den Gefangenen in
Guantánamo. Als Kriegsgefangener
kann Saddam Hussein nicht mehr verhört
werden und darf von Vertretern
des Roten Kreuzes besucht werden.
Laut Genfer Konvention ist nun vorerst
die gegnerische Kriegspartei, also die
Besatzungsmacht USA, für den Gefangenen
zuständig. Doch in Rechtsfragen
ist das Pentagon bekanntlich flexibel,
eine erneute Änderung des Status
damit nicht ausgeschlossen.
Eines dagegen steht fest: Ein internationales
Tribunal, wie es der UNSicherheitsrat
nach den Kriegen im
ehemaligen Jugoslawien und nach den
Massakern in Ruanda einrichtete, wird
es nicht geben. Dabei verlangt eigentlich
schon die Dimension der unter Saddam
Hussein begangenen Verbrechen
die auf die Nürnberger Prozesse zurückgehende
Tradition der internationalen
Gerichtsbarkeit fortzuführen.
Auch weil mit Iran, Kuwait und Israel
andere Staaten ebenso von Gewaltakten
des Diktators betroffen waren,
sich unter den Opfern des Regimes also
nicht nur Iraker befinden, wäre die
Einsetzung eines UN-Gerichtshofes
angezeigt. Dies wird jedoch schon deshalb
nicht geschehen, weil die USA mit
einem UN-Tribunal für Irak keinen
weiteren Präzedenzfall schaffen wollen.
Umso absurder sähe sonst Washingtons
sture Ablehnung des neu
etablierten ständigen Internationalen
Strafgerichtshofes aus, der für Verbrechen
dieser Art wenigstens in künftigen
Fällen zuständig sein soll.
Fraglich ist, ob ein irakisches Gericht
für ein rechtsstaatliches Verfahren gegen
Saddam Hussein die notwendige
Unabhängigkeit mitbringt. In einem
Land, dass über Jahrzehnte autokratisch
regiert wurde, kann es schließlich
kaum Juristen geben, die nicht entweder
selbst in Verbrechen des Regimes
verwickelt oder dessen Opfer waren.
Die Chancen für ein rechtsstaatliches
Verfahren stehen aber auch deshalb
schlecht, weil die US-Regierung, die
den Verlauf in jedem Fall kontrollieren
wird, kaum Interesse an einer vollständigen
Aufarbeitung der Herrschaft
Saddam Husseins und aller seiner Verbrechen
haben kann. Schließlich wurde
das irakische Regime in den 80er
Jahren von fast allen maßgeblichen
Industriestaaten in Ost und West, einschließlich
der USA, als enger Verbündeter
gegen Iran betrachtet und auch so
behandelt. Aus Frankreich erhielt der
Irak beträchtliche Waffenlieferungen.
In Deutschland legte man die Exportrestriktionen
auffällig großzügig aus.
Und die Golfstaaten, einschließlich des
später selbst angegriffenen Kuwait,
finanzierten den Krieg gegen Iran mit
Milliarden US-Dollar.
Die Unterstützung aus den USA war
etwas unauffälliger, aber nicht minder
effektiv. So verfügte die irakische Militärführung
über einen direkten Zugang
zu Daten der US-Spionagesatelliten,
ein Privileg, das ansonsten nur engsten
Verbündeten gewährt wird. Ohne diese
Informationen hätte Saddam Hussein
seinen Krieg gegen Iran nicht in gleicher
Weise führen können; möglicher-
weise wäre er als Folge einer militärischen
Niederlage gegen Iran bald
gestürzt worden. An der politischen
Unterstützung des Irak durch die USA,
auch im UN-Sicherheitsrat, änderte
sich selbst dann nichts, als 1984 eindeutige
Hinweise vorlagen, dass das irakische
Militär Chemiewaffen gegen
iranische Truppen eingesetzt hatte. In
einem Prozess gegen Saddam Hussein,
der alle Verbrechen umfasst, müsste
deshalb auch eine zumindest politische
Mittäterschaft der USA und ihrer Verbündeten
angesprochen werden. Besonders
brisant ist dies deshalb, weil
viele der heute in der Bush-Regierung
Verantwortlichen auch in den 80er
Jahren schon wichtige Funktionen
innehatten. Konkret: Auch Donald
Rumsfeld, der als Ronald Reagans
Sonderbeauftragter Saddam Hussein in
Bagdad traf, um ihm die Unterstützung
des US-Präsidenten zuzusichern, gehört
als Zeuge geladen.
Trotz aller juristischen Hindernisse
und praktischen Probleme – schon die
Absicherung des Verhandlungssaals ist
im Irak eine Herausforderung – dürfte
es noch in diesem Jahr zu einem Prozess
kommen. Die Anklage wird sich
dann aber wohl auf Verbrechen aus
einer Zeit konzentrieren, in der Saddam
Hussein bereits vom Verbündeten der
USA zu deren Oberschurken mutiert
war. Mit Sicherheit wird es um die Massaker
an Schiiten und Kurden im März
1991 gehen – deren Ausmaß zwar seit
langem bekannt ist, durch die Aufdeckung
von Massengräbern aber jetzt
auch sichtbar wurde.
Die Verteidigung – und schon jetzt
zeichnet sich ab, dass eine ganze Riege
internationaler Anwälte zwecks eigener
Profilierung die Verteidigung des
derzeit prominentesten Gefangenen
der Welt übernehmen will – dürfte keine
Gelegenheit auslassen, das Verfahren
dadurch zu diskreditieren, indem
sie darauf verweist, dass die Anklage
nur die Verbrechen einbezieht, in welche
die USA und ihre Verbündeten
nicht verwickelt waren. Und die Verteidigung könnte nebenbei darauf verweisen,
dass sich die jetzigen Besatzer
selbst im Zusammenhang mit den Massakern
von 1991 politisch nicht gerade
mit Ruhm bekleckert haben: Zunächst
ermunterte die damalige US-Regierung
die unterdrückten Schiiten und Kurden
zum Aufstand, anschließend aber gewährte
sie keine Unterstützung, unter
anderem, weil sie einen Zerfall des Irak
befürchtete.
Die verschwundenen Waffen
Käme die Frage nach Chemiewaffen in
einem Prozess zur Sprache, wäre dies in
gleich zweifacher Hinsicht peinlich und
innenpolitisch potentiell folgenreich für
Bush. Zum einen, weil selbst der Einsatz
von Chemiewaffen solange kein
Problem für die USA darstellte, wie
Saddam Hussein als Verbündeter galt.
Zum anderen aber würde es auf die
offensichtlich gezielte Desinformation
der Weltöffentlichkeit durch den USPräsidenten
verweisen. Hatte die Bush-
Regierung Anfang 2003 die UN-Inspekteure
als zu nachgiebig bei der
Kontrolle des irakischen Waffenpotentials
diffamiert, weil sie nicht auf militärisch
relevante Programme stießen,
folgte in diesem Januar das faktische
Eingeständnis, dass die US-Regierung
inzwischen selbst nicht mehr damit
rechnet, im Irak Anzeichen für die Herstellung
von Atom-, Bio- oder Chemiewaffen
zu finden. Ein Team von 400 US-Waffenexperten,
so wurde im Januar
bekannt, zieht stillschweigend aus dem
Irak ab. Was einst als unmittelbare Bedrohung
des Weltfriedens einen Krieg
legitimieren sollte, ist nun nicht einmal
mehr eine offizielle Erklärung wert.
Ebenso peinlich für Bush war ein
ebenfalls Anfang dieses Jahres veröffentlichter
Bericht der renommierten
Washingtoner Carnegie-Stiftung. Basierend
auf US-Geheimdienstinformationen
und Erkenntnissen der UN-Inspektoren, legt das Dokument nicht nur
dar, dass es keine Anzeichen für im Irak
nach 1991 betriebene ABC-Waffenprogramme
gibt, sondern zeigt auch auf,
dass der Regierung zu keinem Zeitpunkt
so eindeutige Hinweise auf irakische
Programme vorlagen, wie dies
Präsident Bush vor der UN-Vollversammlung
und sein Außenminister
Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat
behauptet hatten. Der Präsident der
Großmacht USA und sein Außenminister,
das darf nun als gesichert gelten,
haben bei dem Versuch, den Irak-Krieg
durch die Vereinten Nationen legitimieren
zu lassen, vor den wichtigsten
Gremien der Weltorganisation mehr als
nur übertrieben.
Der latente Krieg
Den Krieg hat Bush bekanntlich auch
ohne diese Legitimation geführt. Und er
dauert weiter an. Selbst wenn sich Saddam
Hussein in seiner gewohnt selbstherrlichen
Entrücktheit als Anführer
eines Guerrilla-Kampfes gesehen haben
mag: Die bewaffnete Gewalt im
Irak ist mittlerweile so diversifiziert und
der auf den Spektakel-Feldzug folgende
latente Krieg von einer solchen
Eigendynamik, dass die Festnahme
Saddam Husseins daran kaum etwas
ändern wird. Vertreter der US-Streitkräfte
im Irak hatten schon seit langem
darauf hingewiesen – auch wenn dies
im medialen Hype nach der Festnahme
Saddam Husseins zunächst unterging.
Die Gewalt gegen die Besatzer geht
von stark unterschiedlich ausgerichteten,
mitunter sogar verfeindeten Gruppen
aus. Dazu zählen neben Getreuen
Saddam Husseins vor allem auch arabische
Nationalisten, radikale Islamisten,
ehemalige Armee-Angehörige ohne
Existenzgrundlage und schlicht von
den Besatzern enttäuschte und wirtschaftlich
ruinierte Iraker. Ein durch
langjährige Sanktionen geschwächtes
und durch Krieg zerstörtes Land befördert
ohnehin Gewaltökonomie und
Schattenwirtschaft und damit einen
idealen Nährboden auch für politisch
motivierte Gewalt.
Die Anhänger Saddam Husseins wenigstens
dürften nach der Festnahme
moralisch geschwächt sein. In der
Gegend um Tikrit, einer Hochburg von
Anhängern des Ex-Diktators, ist nach
Angaben von US-Militärs die Zahl der
Übergriffe zunächst zurückgegangen.
Auch behaupten US-Stellen, die Bereitschaft
der Bevölkerung, Hinweise auf
bewaffnete Gruppen zu geben, nehme
zu, weil sie nicht mehr die Rückkehr
Saddam Husseins und somit Repressionen
befürchteten. Doch die Festnahme
des verhassten und gefürchteten Diktators
kann – bittere Ironie – die Basis für
den gewaltsamen Widerstand auch verbreitern.
Gerade weil nun endgültig
klar ist, dass Saddam Hussein nicht
wieder an die Macht zurückkehren
wird, und gerade weil seine Anhänger
durch die Festnahme und die damit verbundenen
peinlichen Fernsehbilder demoralisiert
sind, könnte sich die Zahl
derer vergrößern, die auch zu bewaffneten
Aktionen gegen die Besatzer bereit
sind. Wer jetzt gewaltsam gegen
US-Amerikaner und ihre Verbündeten
vorgeht, so die These routinierter Beobachter
vor Ort, steht nicht mehr in dem
Verdacht, selbst Anhänger Saddam
Husseins zu sein oder unfreiwillig seine
Rückkehr an die Macht zu unterstützen.
Gerade für islamistische Gruppen,
die immer schon im Widerspruch zu
dem säkularen Diktator standen, vergrößert
sich so die Rekrutierungsbasis.
Perspektivlose, desorientierte und mittellose
junge Männer gibt es im Irak genügend.
Setzt das US-Militär seine Strategie
der letzten Monate fort und bekämpft
die Gewalt weiter durch Angriffe auf
vermutete Lager potentieller Attentäter,
läuft es Gefahr, noch mehr Sympathien
im Land zu verspielen. Auch massenhafte
Festnahmen und Abriegelungen ganzer Dörfer, wie in letzter Zeit offenbar
nach dem Vorbild des israelischen
Militärs zunehmend praktiziert,
mögen kurzfristig neue Anschläge verhindern
helfen, langfristig werden sie
das genaue Gegenteil bewirken.
Wenn dann auch noch auf irakische
Demonstranten geschossen wird, wie
Mitte Januar von britischen Besatzungstruppen,
dürfte auch der Rest an
Ansehen, den die Befreier von der Diktatur
in der Bevölkerung erlangten, verloren
gehen.
Anschläge, wie sie im Irak zur Regel
geworden sind, können nirgendwo mit
absoluter Sicherheit verhindert werden.
Möglich ist nur, die Menge wahrscheinlicher
Unterstützer zu verringern.
Genau bei dieser Aufgabe scheinen
die britischen wie die US-amerikanischen
Truppen im Irak aber zu versagen.
Daran hat, so die vorläufige Bilanz,
auch die Festnahme Saddam Husseins
nichts geändert. Im Sinne einer self-fullfilling
prophecy droht der Irak, von
Bush immer als Station seines Anti-
Terror-Krieges gesehen, tatsächlich zu
einem Schauplatz für Gewalt und
Terror zu werden.
* Eric Chauvistré, Berlin, ist Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik"
Dieser Beitrag erschien in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/2004, S. 135-139
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