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Die Irak-Krise. Ein Jahr nach dem US-Angriff

Von Uli Cremer, Hamburg

Vor einem Jahr begann die Bush-Regierung ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak. In wenigen Wochen besiegte die militärische Supermacht das von langjährigen Wirtschaftssanktionen ausgezehrte 3.Welt-Land. Die irakische Regierung wurde gestürzt, Verwaltung und Infrastruktur wurden zerschlagen. Der Irak wurde in 3 Besatzungszonen aufgeteilt, die größte wird von den USA gemanagt, der Süden ist britisch besetzt, eine dritte Zone ist unter polnischer Führung eingerichtet worden. Regiert wird das Land von dem US-"Prokonsul" Bremer, dem eine von der Bush-Regierung eingesetzte Mariottenregierung zur Seite steht. Diese hat in der irakischen Bevölkerung kaum Verankerung, lediglich die kurdischen Bevölkerungsteile stehen treu zur US-Fahne. Die Besetzung wurde jedoch nicht apathisch hingenommen, sondern die Besatzungstruppen sind binnen kurzer Zeit in einen Guerilla-Krieg verwickelt worden, der mit modernen Waffen und Selbstmordanschlägen geführt wird. Ziele sind neben den Besatzungstruppen selbst und anderen internationalen Akteuren auch irakische Kollaborateure, insbesondere die irakische Polizei und besatzerfreundliche politische Gruppen. Die Verhaftung bzw. Ausschaltung von wichtigen Vertretern des alten Regimes hat auf den irakischen Widerstand offenbar keinen Eindruck gemacht, selbst nach der Verhaftung Saddam Husseins im Dezember gehen die Anschläge weiter - so sie denn überhaupt und in der behaupteten Form stattgefunden hat, diese Einschränkungen muss man in diesem Zusammenhang vornehmen, denn die Informationen stammen schließlich exklusiv aus US-Regierungsquellen und sind bisher von keiner neutralen Stelle verifiziert worden.

Das leitet über zu dem Thema "Kriegsgründe". Hier hatten die Angreifer in Washington und London behauptet, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, die UN-Inspekteure seien nur nicht in der Lage, diese zu finden. Bush ließ das besetzte Land monatelang von seinen eigenen Fachleuten durchsuchen, aber auch die stehen nun mit leeren Händen da. Der Leiter der US-Waffeninspekteure, David Kay, trat Ende Januar resigniert von seinem Posten zurück und bestätigte alles, was die Kriegsgegner vorher behauptet hatten. Diese Panne kann die US-Regierung natürlich nicht einfach mit einer großzügigen Geste ("Okay, schon gut, wir haben gelogen") ad acta legen, sondern der Bannstrahl wird nunmehr auf die "unfähigen" Geheimdienste gerichtet. Solange die UN-Inspektionen noch zu Spionagezwecken genutzt werden konnten (bis 1998), sei die Informationslage noch in Ordnung gewesen. Später habe sich dann der Mangel an eigenen Spionen im Irak bemerkbar gemacht.[1] Einzelheiten soll eine (unabhängige?) Untersuchungskommission klären. Na, das sind wir alle sehr gespannt.

Die Verkommenheit der rechtlichen Diskussion in den USA markiert der Diskurs, dass die irakische Regierung vielleicht keine Massenvernichtungswaffen gehabt habe, aber doch die Absicht hegte, sie zu bauen und da habe man rechtzeitig einschreiten müssen. Diese Herangehensweise wurde bekanntermaßen inzwischen auch in den nationalen US-Sicherheitsstrategie als "Recht auf Präemption" verallgemeinert.

Dass die ABC-Waffen nicht der Kriegsgrund waren, plauderte im Mai Paul Wolfowitz aus, seines Zeichens stellvertretender US-Verteidigungsminister bzw. hier müssen wir wohl richtiger "Kriegsminister" sagen. Dieser "Grund" ließ sich jedoch am besten vermarkten.[2]

Seit Monaten werden dem Publikum jedoch andere Kriegsgründe aufgetischt. Am höchsten im Kurs steht der, dass das Saddam-Regime ein selten verbrecherisches und grausames gewesen sei. Es sei ein Gebot der Menschenrechte gewesen, dieses Regime zu beseitigen. Entsprechend wurden Massengräber im Irak präsentiert und die bekannten Verbrechen der 80er Jahre (Einsatz chemischer Waffen gegen den Iran und die eigene Bevölkerung) aufgefrischt. Außenminister Powell wies im Oktober 2003 im kurdischen Halabja den 5000 mit C-Waffen Getöteten die "letzte Ehre" und erklärte: "Saddam Hussein kann kein zweites Halabja mehr verursachen."[3] 1988 hatte die US-Regierung noch Saddam im Krieg gegen den Iran unterstützt, bis hin zur Lieferung von Technologie für Massenvernichtungswaffen.

Die moralischen Abgründe werden durch die US-Korruptionsmaschinerie komplettiert, die sich seit nunmehr 12 Monaten unter dem US-Besatzungsregime entfaltet. Alle Richtlinien über Ausschreibungsverfahren sind außer Kraft gesetzt, beschlagnahmte Irak-Milliarden werden in die Taschen von US-Unternehmen geschaufelt, die mit der Bush-Regierung verbunden sind. Ein Aushängeschild der irakischen Marionettenregierung ist Herr Chalabi, der in Jordanien wegen Unterschlagung zu 22 Jahren verurteilt wurde.

Aber wie hat sich die internationale Gemengelage entwickelt? 2003 hatten Deutschland und Frankreich gegen den Krieg opponiert und ein UN-Mandat für den geplanten Krieg verhindert, allerdings materielle Kriegshilfe geleistet. Dennoch zeigte sich die westliche Vormacht verärgert, monatelang schienen die transatlantischen Beziehungen gestört. Die nicht einkalkulierten Schwierigkeiten und Zusatzkosten im Irak, führten in Washington zu einem neuen Herangehen. Man versuchte nach und nach die widerborstigen EU-Hauptländer wieder ins Boot zu ziehen. In den UN-Irak-Resolutionen 2003 gaben die Europäer Boden preis, z.B. wurden die USA als Besatzungsmacht anerkannt und erhielten die ökonomische Macht über den Irak. Aber als es im Herbst um Geld für den Wiederaufbau ging, gaben sich die EU-Mächte höchst knauserig. Neuerdings ist man beim Thema Schuldenerlass für den Irak in Berlin und Paris nicht mehr so taub, zumal als vertrauensbildende Maßnahme schon erste Irak-Aufträge an europäische Unternehmen wie Siemens vergeben wurden.

Die militärische Einbeziehung weiterer Staaten in das Irak-Abenteuer steht bei der US-Regierung weiterhin oben auf der Agenda. Konkret soll eine NATO-Besatzungszone im Irak eingerichtet werden, die die bisher von den Briten und Polen kontrollierten Regionen im Süden umfasst. Dazu wird beim NATO-Gipfel in Istanbul Ende Juni ein entsprechender Beschluss angestrebt. Nach Außenminister Fischer wird sich "die Bundesregierung... einem Konsens nicht verweigern, auch wenn wir keine deutschen Truppen in den Irak entsenden werden."[4] Wenn das Erste geschieht, kann man den zweiten Halbsatz getrost streichen. Auch Karl Feldmeyer von der Frankfurter Allgemeinen glaubt, dass Fischers Nein "nicht das letzte Wort" ist.[5]

Halten wir uns in dieser Frage lieber an Fischers Amtskollegen Struck, der bereits im August 2003 die Position klar abgesteckt hat: Voraussetzungen für den Einsatz deutscher Soldaten seien ein UN-Mandat (Kapitell VII, also Kampfeinsatz) und ein Hilfegesuch einer irakischen Regierung an die NATO.[6] Umstritten ist allerdings noch in der NATO, wann man die Voraussetzungen beisammen haben könnte: Schon im Sommer 2004 oder "noch lange nicht" bzw. "vielleicht" im nächsten Jahr.[7] So würde es gehen können: Die US-Regierung beendet offiziell die Besetzung (natürlich ohne die Truppen abzuziehen). Eine irakische Karsai-Regierung wird für demokratisch legitimiert erklärt und allgemein anerkannt, auch wenn noch keine richtigen Wahlen stattgefunden haben. Ein ‚erweiterter und repräsentativerer Übergangsrat' wird zur Not auch genügen. Und mit dem UNO-Beschluss klappt es sicher auch. In diesem Fall hält man nach Informationen der Frankfurter Allgemeinen vom 4.2. in NATO-Kreisen eine Truppenstärke zwischen 30.000 und 45.000 Mann für erforderlich. Ein "deutscher Truppenanteil von 4000 bis 5000 Mann" wird "für machbar gehalten". In den in Frage kommenden Führungsstäben würde die Bundeswehr einen Großteil des Personals stellen. Nicht nur Angela Merkel kann sich nicht vorstellen, "dass Deutschland z.B. seine 30 NATO-Offiziere aus dem Hauptquartier Mönchengladbach zurückzieht, wenn es in den Irak verlegt wird."[8] Minister Struck selbst geht davon aus, dass die Bundeswehr für einen Irak-Einsatz gut präpariert ist und denkt dabei wohl an mehr als 30 Soldaten. In einem Interview mit der Welt am Sonntag analysierte Struck am 14.12.03: "Die US-Soldaten sind gute Kampftruppen, die aber nicht ausreichend vorbereitet sind auf Aufgaben, die wir mit Nation-Building bezeichnen, also dem Aufbau demokratischer und wirtschaftlicher Strukturen." Auf die Frage der Zeitung: "Kann die Bundeswehr das?" antwortet Struck: "Ja, sie ist auf so etwas eindeutig vorbereitet." Generell sollte ein Irak-Einsatz der Bundeswehr nicht überraschen, denn: "Mögliches Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt."[9] Struck will sich in seiner Amtsführung offenbar nicht darauf beschränken, Deutschland am Hindukusch zu verteidigen.

Der Türöffner für den absehbaren Militäreinsatz im Irak ist die fatale Grundposition der Bundesregierung, die sich nach Beginn des Angriffskrieges der US-geführten Koalition einen schnellen militärischen Sieg wünschte. Sie ist nämlich der Auffassung, dass man "den Frieden gemeinsam gewinnen" muss (also mit den Angriffskriegskoalitionären), "weil wir ansonsten gemeinsam verlieren werden, egal wie unsere Haltung zum Krieg gewesen ist". In der Konsequenz dieser Position liegt die Einsendung von Bundeswehr-Soldaten in den Irak.

Es stellt sich die Frage, warum sich die deutsche Regierung (gemeinsam mit der französischen) wieder der US-Politik unterordnen will. Jürgen Rose vertritt in zwei lesenswerten Essays im FREITAG die These, dass eine Niederlage der USA im Irak im Interesse der EU-Mächte liegen würde: "... gewichtige Gründe lassen ein möglichst desaströses Scheitern der imperialen Ambitionen als notwendig erscheinen. Aus Sicht der EU kann es nur darum gehen, dem Trend zu einer ökonomischen Kolonialisierung des Planeten mit militärischen Mitteln - und darum geht es im Kern - unter allen Umständen entgegenzuwirken. Eine erfolgreiche Unterwerfung des Irak würde einer globalen Hegemonie der USA weiteren Vorschub leisten und den (Präventiv-)Krieg als völkerrechtskonformes Instrument der Außenpolitik legitimieren."[10] Die strategische Perspektive sieht Jürgen Groß so: "Würde also die EU privilegierte Beziehungen zu den Öllieferstaaten Iran, Irak und Libyen aufbauen sowie eine strategische Partnerschaft mit Russland eingehen, könnte dies den Anfang vom Ende des Imperium Americanum einläuten. Die Tage für den exklusiven Status des US-Dollars als Weltleitwährung wären gezählt, der Euro käme als funktionales Äquivalent in dessen Position, so dass ein jähes Abschwellen des Kapitalstroms in Richtung USA - derzeit liegt er bei anderthalb Milliarden Dollar pro Tag - unvermeidlich wäre. Damit gerieten die USA als weltgrößter Schuldner in eine prekäre ökonomische Abhängigkeit von ihren Gläubigern in Europa und Asien. Nach fast 60 Jahren globaler ökonomischer Dominanz der USA seit dem Ende des II. Weltkrieges böte sich Europa erstmals die reale Aussicht, den Spieß umzudrehen und nunmehr seinerseits die Außen- und Wirtschaftspolitik der USA zu beeinflussen."[11]

Mit der US-Landnahme im Irak hat die EU jedoch erst einmal ihr petropolitisches Gegengewicht eingebüßt. Wurden bis Anfang 2003 noch die irakischen, iranischen und auch libyische Ölkontrakte in Euro abgewickelt, ist inzwischen die Monopolstellung des Dollars an dieser Stelle fast wieder hergestellt. Der Irak ist von den USA besetzt. Libyen hat angesichts der letzten Irak-Krieges sein Programm zur Beschaffung von ABC-Waffen aufgegeben und sich mit der Siegermächten Britannien und USA arrangiert. Bleibt nur noch der Iran.

Entsprechend herrscht im Lager der ehemaligen Kriegsgegner Katerstimmung. Zum einen hat die US-Regierung die EU erfolgreich gespalten. Insbesondere Polen konnte als verlässlicher US-Verbündeter gewonnen werden. Basis dafür sind profane Ölinteressen, wie der polnische Außenminister Cimoszewicz im Juli 2003 in einer Rede vor polnischen Firmenvertretern betonte: "Wir haben niemals unser Verlangen verborgen, für polnische Ölfirmen letztlich Zugang zu Rohstoffquellen zu haben". Zugang zu Ölfeldern "ist unser Endziel".[12]

Polen durchkreuzte im Dezember auch die Pläne, die EU-Verfassung zu verabschieden, die einen EU-Aufrüstungsschub bewirken könnte. Fakt ist, dass die EU-Militärpläne nach wie vor nicht verwirklicht sind; Bremsfaktoren sind die verhaltene Ausgabenbereitschaft Deutschlands sowie die Uneinigkeit der EU-Regierungen. Da die Aufklärungs- und Lufttransportkapazitäten erst ca. 2008 zur Verfügung stehen, glauben Berlin und Paris sich erst einmal wieder arrangieren zu müssen. Die neue Bündniskonstellation gegen die USA ist 2003 zwar deutlich aufgeblitzt, hat aber noch keinen Bestand. Wenn man die neuesten europäischen und US-amerikanischen NATO-Lobhudeleien auf der Münchener Sicherheitskonferenz Anfang Februar betrachtet, sieht alles danach aus, dass die Westeuropäer mit einer NATO-Besatzungszone im Irak wieder eingefangen werden könnten.

Aber der nächste Konflikt kommt bestimmt. Es wäre zu hoffen, dass sich das taktische Geplänkel, wann die Voraussetzungen für einen NATO-Einsatz im Irak gegeben seien (2004 oder 2005?), in einen prinzipiellen Konflikt ausweitet. Dazu müssten aber die Gesellschaften Wenn insbesondere in Frankreich und Deutschland beitragen und ihre 2003 kriegskritischen Regierungen entsprechend unter Druck setzen. Dann könnte der NATO-Einsatz im Irak vielleicht noch abgewendet werden.

Fußnoten
  1. Siehe "Wissenschaftler täuschten Saddam", FAZ 28.1.04, S.3
  2. Vergleiche: http://dod.mil/transcripts/2003/tr20030509-depsecdef0223.html
  3. Colin L.Powell: Namensartikel in Washington Post 7.10.2003, zitiert nach Internationale Politik 1/2004, S.111 (Auf unserer Homepage: "Colin Powell zum Kay-Bericht")
  4. Rede J. Fischer vor der Münchener Sicherheitskonferenz 6.2.04 (Auf unserer Homepage: Fischer-Rede im Wortlaut)
  5. Karl Feldmeyer: Nicht das letzte Wort, FAZ 9.2.2004
  6. "Struck befürwortet NATO-Einsatz im Irak", Frankfurter Allgemeine Sonntags-Zeitung 10.8.2003
  7. Struck im Interview mit der Frankfurter Rundschau, 16.2.04
  8. Rede Münchener Sicherheitskonferenz 7.2.04 (Auf unserer Homepage: Merkel-Rede im Wortlaut)
  9. Pressekonferenz 13.1.04 "Wegmarken für den neuen Kurs", Stichworte zur Sicherheitspolitik 01/04 S.19 (Auf unserer Homepage: Struck: "Wegmarken..." im Wortlaut)
  10. Jürgen Rose: Den Bruch riskieren, in: FREITAG 52/2003, 19.12.2003
  11. Jürgen Rose: Vom Sieger entfernen, in FREITAG 16.1.2004
  12. zitiert nach BBC, news.bbc.co.uk, 3 Juli 2003
* Uli Cremer ist Mitherausgeber des Buches "Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung". Er ist Mitglied der GRÜNEN, war Initiator der GRÜNEN Anti-Kriegs-Initiative und bis Februar 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik bei BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN


Dieser Beitrag erschien in: Sozialismus, Heft 3 (März)/2004,

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