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"Bush hat beschlossen, dass sich die Iraker sofort aus dem Land zurückziehen sollen"

Hinter dem Witz verbirgt sich ein großer Exodus aus dem Irak

Von Karin Leukefeld *

Auch wenn es Galgenhumor ist, die Iraker sind bekannt für ihren Humor. Seit einigen Wochen macht eine Kurznachricht die Runde über irakische Mobiltelefone. „Bush hat beschlossen, dass sich die Iraker sofort aus dem Land zurückziehen sollen“, lautet die SMS-Nachricht. Doch hinter dem Spott steckt bittere Wahrheit. Nach Beobachtungen des UN-Hilfswerks für Flüchtlinge (UNHCR), findet im Irak ein „schweigender Exodus“ statt. Es sind meist Iraker der gut gebildeten und noch vermögenden Mittelschicht, die ihre Häuser und Wohnungen verlassen, Eigentum verkaufen und fliehen, weil sie für sich und ihre Kinder in naher Zukunft keine Perspektive in ihrer Heimat sehen. Gefälschte Papiere für die Einreise in ein nordeuropäisches Land, sind pro Person für rund 10.000 US-Dollar zu haben. Doch die meisten bleiben in der Region, suchen Zuflucht im kurdischen Nordirak, der Türkei oder in einem arabischen Nachbarland.

„Die Situation in Bagdad wird immer schlechter“, schreibt eine junge Irakerin an Freunde in Europa. „Der Sohn meiner Nachbarin wurde erschossen, nur weil er ein Schiit ist, der in einem Viertel lebt, wo die meisten Anwohner Sunniten sind. Das Gleiche passiert auch in anderen Vierteln von Bagdad, man will den Irak in Einzelteile zerlegen, wir können nur hoffen, dass das nicht gelingt Es gibt Tausende unschuldiger Menschen, die mit ihrem Leben dafür bezahlen, die Unglückligen! Alle Iraker sind verzweifelt und traurig. Ich bin jetzt in Jordanien, wir versuchen unsere befristete Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, alles sieht danach aus, dass wir länger hier bleiben müssen (…)“.

Seit der US-Invasion im März 2003 ist die Zahl der irakischen Flüchtlinge auf mehr als 1,6 Millionen angestiegen, heißt es in dem UNHCR-Bericht. Nichtregierungsorganisationen schätzen die Zahl sogar auf 5 Millionen. Wer Bargeld vorweisen kann und die bürokratischen Hürden überwindet, findet Aufnahme in Jordanien. Die anderen, viele von ihnen irakische Christen und Palästinenser, fliehen nach Syrien. Rund 40.000 Iraker strömen mittlerweile jeden Monat über die irakisch-syrische Grenze, so der UNHCR-Sprecher Ron Redmond. Vor dem Krieg 2003 lebten in Syrien ca. 100.000 Iraker, heute gibt es mehr als 800.000 irakische Flüchtlinge allein in Damaskus.

Ihre Zukunftsaussichten sind düster. Die meisten leben in den Vororten von Damaskus unter erbärmlichen Bedingungen, alle 6 Monate müssen sie das Land verlassen, um ein neues Aufenthaltsvisum zu bekommen. Zwar werden die Flüchtlingskinder vom syrischen Staat in das Schulsystem integriert und jeder Flüchtling kommt in den Genuss der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Doch gibt es keine Arbeitserlaubnis und ohne Zugang zum ohnehin angespannten syrischen Arbeitsmarkt, sind die Menschen auf Hilfe angewiesen. „Wir haben keine Arbeit, weil hier tausende irakischer Flüchtlinge leben. Doch ohne Arbeit landen wir als Bettler auf der Straße“, fürchtet Haj Jamal, ein 62jähriger Iraker im Gespräch mit dem UN-Informationsnetzwerk. Die Vereinten Nationen müssten sich um sie kümmern, so der verzweifelte Mann. Doch dem zuständigen UNHCR-Büro in Damaskus sind die Hände gebunden. Für das Jahr 2006 beantragte das Büro 1,3 Million US-Dollar, ausgezahlt wurden nur 700.000. Unabhängig von den laufenden Kosten bleibt damit weniger als ein US-Dollar für jeden irakischen Flüchtling.

Die Spenden für die UN-Flüchtlingsorganisation im Mittleren Osten befinden sich „im freien Fall“, so ein Mitarbeiter. Der Etat für das Jahr 2007 ist auf weniger als die Hälfte geschrumpft, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass seit der US-Invasion im Irak 2003 Einzahlungen von Staaten wie der USA, der Europäischen Union, Japan und Australien drastisch zurückgingen. Im Jahr 2003 betrug der UNHCR-Etat allein für den Irak 150 Million US-Dollar, heute stehen davon nur noch 20%, knapp 30 Millionen, zur Verfügung. „Im Irak hat es in den letzten Jahren die größten Vertreibungen aller UNHCR-Projekte weltweit gegeben“, so Andrew Harper, der Irakkoordinator beim UNHCR in Genf. Doch obwohl immer mehr Iraker fliehen, wird das Geld, mit dem ihnen geholfen werden könnte, immer weniger. „Diese wachsende menschliche Katastrophe ist einfach vom Radarschirm der meisten Geberländer verschwunden“, so Harper.

* Dieser Beitrag erscehnt in leicht gekürzter Form am 2. November 2006 im "Neuen Deutschland"


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