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Falludscha: "Den Widerstand mit Stumpf und Stiel ausrotten"

Hintergrundinformationen und Kommentare zu einem drohenden Massaker

Im Folgenden dokumentieren wir eine Reihe von Hintergrundinformationen und Kommentaren über die Entwicklung in Falludscha - hier zweifellos eine Schlüsselrolle im Kampf zwischen den Besatzungstruppen, den irakischen Truppen der Interimsregierung und den Aufständischen aller Art einnimmt.
Den Anfang machen ein paar Antworten des Nahostexperten Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Wir fanden sie in einem längeren Interview im Berliner "Tagesspiegel":


(...) Die Amerikaner und die irakischen Streitkräfte können eine solche Schlacht natürlich gewinnen. Aber das heißt überhaupt nicht, dass sie den Krieg gewinnen können. Ein massiver Einsatz mit allem, was den Amerikanern zur Verfügung steht, könnte zu erheblichen Opfern unter der Zivilbevölkerung führen. Das wiederum könnte politische Auswirkungen der Art haben, dass mehr Hass und mehr Widerstand für weiteren Zulauf zu den Aufständischen und terroristischen Organisationen sorgen. (...)

(...) Sicher ist das das Ziel aller Bemühungen: In möglichst kurzer Zeit, wenn möglich sogar mit einigem Abstand zum Wahltermin am 27. Januar, durchzusetzen und zu zeigen, dass die irakische Regierung Herr der Lage in allen Teilen des Landes ist. In gewisser Weise haben wir es bei der Großoffensive ja eher mit einem Krieg der Regierung Allawi zu tun als mit einer Offensive der Amerikaner. Die US-Besatzungsmacht hat es sich vor der Übergabe der Regierungsgeschäfte an die Iraker leisten können, bestimmte staatsfreie Zonen entstehen zu lassen, solange die Besatzungsmacht nicht direkt bedroht wurde. Aber eine Regierung, der es um Legitimität geht, die durch Wahlen bestätigt werden muss, eine solche Regierung kann es sich nicht leisten, nur über einen Teil des Landes zu herrschen und nur in einem Teil des Landes Wahlen durchzuführen. Insofern entsteht hier die historisch-ironische Situation, dass die Wahlen, wenn sie stattfinden, nicht der Beweis sein werden, dass der Irak tatsächlich demokratisch ist – es wird gar nicht so sehr darauf ankommen, wie frei und fair die Wahlen sind – sondern die Wahlen würden der Beweis dafür sein, dass es den Irak als Staat wieder gibt und die irakische Regierung staatliche Autorität in alle Teile des Landes ausgebreitet hat.

(...) Klar ist, dass man diesen Krieg nicht allein mit militärischen Mitteln beenden kann. Es braucht eine politische Dimension. Dazu gehören die Wahlen. Dazu gehört aber zweifellos auch eine klare und für die Iraker glaubwürdige Aussage, dass die amerikanische Besetzung in absehbarer Zeit zu Ende geht. Voraussetzung dafür wäre natürlich, dass die Sicherheit im Lande gewährleistet ist, dass irakische Armee und irakische Polizeikräfte zureichend ausgebildet sind.

Aus: Der Tagesspiegel, 10.11.2004


Michael Lüders ("Im Zustand des Zerfalls") schreibt auf der Themenseite der Frankfurter Rundschau u.a.:

(...) Wie aber kann es überhaupt nach der Schlacht um Falludscha weitergehen? Übergangspremier Ajad Allawi ist mit amerikanischer Rückendeckung entschlossen, der neue "starke Mann" in Bagdad zu werden. Seit kurzem regiert er per Notstandsverordnung und steht somit unangefochten über allen, ohnehin nur schwachen, staatlichen Institutionen. Er verfügt über dieselben Machtbefugnisse wie sein Vorgänger Saddam Hussein. Jedenfalls theoretisch, denn außerhalb der "grünen Zone", dem amerikanisch kontrollierten Verwaltungszentrum Bagdads, verfügt er kaum über Einfluss. Seine Aufgabe ist es, martialisch zu wirken und den US-Amerikanern eine formelle Legitimation für ihr militärisches Vorgehen zu erteilen. Je größer die Zerstörungen in Falludscha, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die arabischen Sunniten die für Januar geplanten Wahlen in Irak boykottieren werden. Sie stellen 20 Prozent der Bevölkerung. (Die nicht-arabischen Kurden sind ebenfalls Sunniten, doch unterstützen sie uneingeschränkt Washington - aus Angst vor arabischer Dominanz und einer türkischen Intervention.) Washington könnte ebenso wie die Regierung Allawi mit einem Boykott der arabischen Sunniten leben. Die Folge wäre aber wahrscheinlich ein anhaltender Guerilla-Krieg, der perspektivisch kaum zu gewinnen ist.

Falludscha zerstören und den Terror besiegen, auch diese Hoffnung dürfte sich als Irrglaube erweisen. Seit dem Sturz Saddam Husseins gibt es in Irak keine funktionierende staatliche Ordnung mehr. Das Land befindet sich in einem Zustand des Zerfalls, lokale Herrscher, religiöse Führer und Warlords füllen die Lücke. In dieser Anarchie dürfte mittelfristig ein neuer "Widerstandstyp" entstehen, eine Kreuzung aus Kriminalität (Entführungen, Waffenschmuggel, illegaler Export von Erdöl) und terroristischer Gewalt. Letztendlich träumen US-amerikanische Militärstrategen allerdings nach wie vor den Traum aller Besatzungsmächte: den Widerstand mit Stumpf und Stiel ausrotten zu können. Das jedoch ist bis heute noch keiner Besatzungsmacht gelungen.

FR, 10. Nov. 2004

Und im Kommentar derselben Zeitung beklagt Dietmar Ostermann die "gnadenlose Strategie" der Besatzungsmacht USA und des Wahlsiegers Bush:

Die neue amerikanische Doppelstrategie will in Irak mit eiserner Faust in wenigen Wochen erreichen, was der Bush-Regierung in anderthalb Jahren nicht gelungen ist.

Bezeichnend aber ist, dass das riskante Vorhaben selbst in Washington eher als Zeichen fehlender Alternativen und einer zunehmend ausweglosen Lage gilt. Gerechnet wird vom angepeilten irakischen Wahltermin Ende Januar rückwärts; an der Wahl soll nicht gerüttelt werden, weil es einen Plan B nicht gibt. Dazu hätte die Bush-Regierung zu einem früheren Zeitpunkt die Einsicht und den Mut zum Kurswechsel finden müssen. Also mitten im amerikanischen Wahlkampf. Jetzt glaubt Washington keine Alternative mehr zu haben zu einem mit aller Macht und Gewalt durchgepeitschten irakischen Urnengang.

Dabei setzen die USA wieder einmal auf eine militärische Eskalation. Zunächst soll die Rebellenhochburg Falludscha unter Kontrolle gebracht werden, später andere Widerstandsnester. Dass Falludscha nicht beim ersten Showdown im April erobert wurde, gilt in der US-Hauptstadt heute als kardinaler Fehler.

Dahinter steckt nicht zuletzt die unveränderte Überzeugung der US-Führung, die irakische Guerilla militärisch besiegen zu können. Falludscha soll zum wundersamen Wendepunkt werden. Weder die Sorge um zivile Opfer noch eine neue Welle antiamerikanischer Empörung in Irak und der arabischen Welt dürfen dem noch im Weg stehen. Auch hier radikalisiert sich die US-Strategie: Der Versuch, das unruhige Sunni-Dreieck wahltauglich zu schießen, kennt keine Gnade mehr mit dem sunnitischen Wähler.

FR, 10. Nov. 2004



Stichwort: Ausnahmezustand
Der Ministerpräsident der Übergangsregierung im Irak, Iyad Allawi, hat am 7. Juli 2004 zur Verbesserung der Sicherheitslage ein Notstandsgesetz unterzeichnet. Allawi kann damit den Ausnahmezustand ausrufen, wenn schwere Gefahren für die Bevölkerung drohen, Gewalt herrscht oder die friedliche Teilnahme am politischen Leben nicht gesichert ist. Der Ausnahmezustand darf jedoch nicht für mehr als 60 Tage ausgerufen werden. Notstandsmaßnahmen in den autonomen Kurden-Gebieten im Norden des Landes sind nur in Abstimmung mit der dortigen Regionalregierung möglich.
Das Gesetz erlaubt es dem Regierungschef, Armee, Nationalgarde, Polizei und Geheimdienste seinem direkten Kommando zu unterstellen, Ausgangssperren zu verhängen, das Post- und Fernmeldegeheimnis aufzuheben, Festnahmen anzuordnen und Vermögenswerte zu sperren. Um Übergriffe von Seiten der Behörden zu verhindern, müssen Festgenommene allerdings innerhalb von 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden.

Quelle: Der Standard (online), 10.11.2004



Peter Münch beschreibt in seinem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung ("Kampf ums schwarze Loch") zwar die Schwierigkeiten und Risiken des Sturmangriffs auf Falludscha, letztlich aber hätten die USA keine andere Wahl. Möge es denn schnell gehen, so lautet seine vage Hoffnung. Münch schreibt u.a.:

(...) Falludscha hat ein bedrohliches Eigenleben entwickelt, fernab jeder staatlichen Autorität. Im Innern herrscht Berichten zufolge talibanische Strenge, nach außen wird der Terror gestreut. Wenn die für Januar geplanten Wahlen im Irak überhaupt einen Sinn machen sollen, darf es solche schwarzen Löcher auf der Landkarte nicht mehr geben.

Mit Verhandlungsangeboten allerdings sind die Rebellen von Falludscha ebenso wenig zu erreichen wie mit dem Versprechen von Wiederaufbauhilfe. Der Widerstand kann nach der fehlgeleiteten Entwicklung der vergangenen 18 Monate tatsächlich nur militärisch gebrochen werden.

Das birgt viele Risiken und nur eine Hoffnung: Es möge schnell gehen. Ein rascher Sieg der US-Truppen im Verbund mit der neuen irakischen Armee könnte Signalwirkung haben für das ganze Land. Je länger aber der Kampf um Falludscha dauert und je mehr Zivilisten dabei sterben, desto größer werden die Gefahren dieses Einsatzes.

Die irakische Armee dürfte kaum einen langen Kampf gegen die eigenen Landsleute durchstehen, und die Sunniten könnten sich insgesamt weiter radikalisieren. Denn dass es in Falludscha noch nicht um die letzte Schlacht geht, demonstrieren gerade die Rebellen in Ramadi.

Aus: SZ (online), 10.11.2004

US-Armee pfeift auf Genfer Konventionen

Von Norman Griebel

Schon mit Beginn der Großoffensive haben die Besatzungstruppen gegen internationale Vereinbarungen verstoßen

Nur wenige Tage nach der US-Präsidentenwahl hat die Großoffensive auf Falludscha begonnen. Schon die ersten Meldungen über den Angriff lieferten Belege für Kriegsverbrechen der US-Soldaten. Die westlich von Bagdad gelegene Stadt wurde demnach von AC-130-Erdkampfflugzeugen aus beschossen. Neben zahlreichen anderen wurden vier 500-Pfund-Bomben abgeworfen. Dem Notstandsgesetz der von den USA kontrollierten »irakischen Übergangsregierung« zufolge dürfen Männer im »militärfähigen Alter« zwischen 15 und 55 Jahren die Straßen in und um die Stadt herum nicht betreten.

Eines der ersten Ziele des Angriffs war das Allgemeine Krankenhaus. US-Soldaten riegelten die Gegend um das Hospital vollständig ab. Mehrere hundert bewaffnete Iraker im Dienst der US-Armee durchsuchten danach das Gebäude, brachen Türen auf, trieben Angestellte und Patienten auf den Gängen zusammen, fesselten sie und nahmen über 50 Männer »im militärfähigen Alter« gefangen. Nach der Besetzung des Krankenhauses sagte Direktor Dr. Salih al-Isawi, US-Soldaten hätten untersagt, Ärzte und Krankenwagen in die Stadtmitte zu schicken, um Verwundete zu versorgen. Im TV-Sender Al Dschasira berichtete er, daß ein Krankenwagen beschossen wurde, als dieser versucht habe, das Gelände zu verlassen.

Ein Blick in die Genfer Konventionen läßt keinen Zweifel daran, daß es sich hierbei um Kriegsverbrechen handelt. Artikel 10 widmet sich »Schutz und Pflege«: »Alle Verwundeten (...) gleichgültig welcher Partei sie angehören, werden geschont und geschützt. Sie werden unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt und erhalten so umfassend und so schnell wie möglich die für ihren Zustand erforderliche medizinische Pflege und Betreuung. Aus anderen als medizinischen Gründen darf kein Unterschied zwischen ihnen gemacht werden.« Laut Artikel 12 müssen Sanitätseinheiten jederzeit geschont und geschützt werden. Sie dürfen nicht angegriffen werden.« Auch die Möglichkeit, daß eventuell Widerstandskämpfer in dem Krankenhaus behandelt wurden, rechtfertigt keinesfalls ein solches Vorgehen.

Da durch die Weigerung, Ärzte und Krankenwagen passieren zu lassen, auch die Zivilbevölkerung in der Stadt keine medizinische Behandlung erhalten kann, wird auch Artikel 14 verletzt: »Die Besatzungsmacht hat dafür zu sorgen, daß die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten gesichert bleibt.«

Angesichts des Verbots jeglichen Fahrzeugverkehrs und des geschlossenen Belagerungsrings um die Stadt dürfte auch Artikel 54, der das Aushungern verbietet, anwendbar sein, da hierdurch der Lebensmittelnachschub verhindert wird.

Der australische Sender ABC berichtete zudem, US-Oberst Michael Shupp habe indirekt die Order ausgegeben, bei der Erstürmung der Stadt »keine Gefangenen« zu machen. »Wenn sich jemand mit erhobenen Händen ergibt und auf euch zukommt, was werden ihr dann machen? Schießt auf ihn«, soll Oberst Shupp den US-Soldaten gesagt haben. Er begründete dies mit »der Bedrohung durch Selbstmordbomber«. Artikel 40 der Genfer Konventionen besagt eindeutig: »Es ist verboten, den Befehl zu erteilen, niemanden am Leben zu lassen, dies dem Gegner anzudrohen oder die Feindseligkeiten in diesem Sinne zu führen.«

Aus: junge Welt, 10,11,2004



Wichtige Ereignisse rund um Falludscha

2003
  • 20. März: Die US-Luftwaffe startet Angriffe gegen den Irak. Die Invasion beginnt einen Tag später.
  • 29. April: Knapp drei Wochen nach der Eroberung Bagdads werden in Falluja 16 Iraker getötet und 75 verletzt, als amerikanische Soldaten das Feuer auf Demonstranten eröffnen. Nach US-Angaben wurden die Truppen zuvor angegriffen.
  • 1. Mai: US-Präsident George W. Bush erklärt die Hauptkampfhandlungen für beendet.
2004
  • 14. Februar: Dutzende Aufständische stürmen eine Polizeiwache in Falluja und töten 25 Iraker, die meisten der Opfer sind Polizisten.
  • 31. März: Bewaffnete greifen ein Auto mit vier amerikanischen Söldnern an. Ein wütender Mob schleift die Leichen der Männer durch die Straßen, zwei von ihnen werden an einer Brücke aufgehängt.
  • 5. April: US-Marineinfanteristen riegeln Falluja ab, die Belagerung beginnt. In den folgenden Wochen wird die Stadt mehrfach bombardiert. Dutzende Menschen sterben. Mehrere Waffenstillstandsverhandlungen scheitern.
  • 1. Mai: Unter internationalem Druck ziehen sich die 700 Marineinfanteristen zurück und übergeben die Stadt an eine neu formierte Falluja-Brigade aus ehemaligen Offizieren von Ex-Staatschef Saddam Husseins. Die Brigade bleibt machtlos und die Stadt fällt an radikale militante Kräfte.
  • 19. Juni: US-Kampfflugzeuge bombardieren mehrere Gebäude, in denen sich Anhänger des jordanischen Extremisten Abu Musab al-Zarqawi verstecken sollen.
  • 5. Juli: Bei einem Bombenangriff auf ein mutmaßliches Versteck der Zarqawi-Gruppe werden zehn Menschen getötet. Der irakische Ministerpräsident Iyad Allawi erklärt, der Angriff habe auf irakischen Geheimdienstinformationen beruht.
  • 29./30. Juni: Bei Kämpfen in Falluja werden etwa 20 Menschen getötet.
  • August und September: Zahlreiche Luftangriffe. Nach US-Angaben werden dabei im September mehr als 100 mutmaßliche Rebellen getötet.
  • 13. Oktober: Die USA drohen mit einer Militäroffensive, sollte Zarqawi, der in der Stadt vermutet wird, nicht ausgeliefert werden. Er gilt als Drahtzieher zahlreicher Anschläge und Entführungen und Enthauptungen von Ausländern.
  • 15. Oktober: Geistliche Führer der Stadt erklären, Zarqawi sei nicht in Falluja.
  • 30. Oktober: Am Stadtrand werden acht Marineinfanteristen bei einem Autobombenanschlag getötet.
  • Anfang November: Die Luftangriffe nehmen zu. Allawi erklärt, das Fenster für eine Verhandlungslösung schließe sich.
Quelle: Der Standard (online), 6.11.2004




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