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Zu Hause in einem fremden Land

Bei irakischen Flüchtlingen im syrischen Damaskus: Kaum einer will in die Heimat zurückkehren

Von Karin Leukefeld *

Syriens Regierung beziffert die Zahl der irakischen Flüchtlinge in ihrem Land auf 1,2 Millionen. Hilfsorganisationen schätzen sie jedoch auf mindestens 1,5 Millionen. Und 90 Prozent davon wollen nicht zurück nach Irak.

Es regnet. Die »Straße der Iraker« im Damaszener Stadtviertel Saida Zainab verwandelt sich in eine Schlammpiste. Im Reisebüro der Al-Basil-Busgesellschaft sitzen einige Männer in tiefen Sesseln und lauschen Koranversen aus dem Fernsehen. Perlenketten gleiten unaufhörlich durch ihre Finger. Einige beten stumm vor sich hin, andere vertreiben sich auf diese Weise lediglich die Zeit. Das Traumziel vieler heißt Europa

Unter den Wartenden ist Haydar Abdulrahim Yassin, ein etwa 50-Jähriger, der mit dem Bus nach Bagdad will. Yassin lebt seit 1991 in Schweden, erzählt er. Er desertierte im Kuwaitkrieg, doch nun werde es Zeit, seine Familie in Samawa wiederzusehen. »Sie haben gesagt, es ist sicher, also fahre ich. Erst nach Bagdad, dann nach Hilla, Diwaniya und Samawa.« Wie lange er bleiben wird, wisse er noch nicht, »vielleicht vier, fünf Tage, mal sehen, wie es ist.«

Obwohl Yassin als Orthopädietechniker in seiner Heimat wohl zu tun hätte, will er nicht zurückkehren. »Es gibt keine Wohnungen, kein Haus, keine Arbeit, kein Geld. Warum sollte ich zurückkehren?« Die meisten Landsleute, mit denen er gesprochen habe, wollten nach Europa, nicht zurück nach Irak. »Sie wollen ein besseres Leben als in Irak oder in Syrien. Sie wollen arbeiten, Geld verdienen, ihre Kinder großziehen. Es ist unfair, sie nach Irak zurückzuschicken.«

Doch Europa will sie nicht haben. 10 000 werde man aufnehmen, hat Brüssel entschieden, eine Träne aus dem Ozean. Lieber schickt man Geld. 75 Millionen Euro hat die EU seit April 2007 gezahlt, auch dafür, dass die Gastländer in der Region ihre überstrapazierte Infrastruktur erweitern.

HELP ist eine von wenigen ausländischen Organisationen, die seit kurzem in Syrien tätig sind. Ihr regionaler Leiter, der Ingenieur und Stadtplaner Eberhard Wissinger, hat schon in etlichen Krisenregionen gearbeitet. Jetzt organisiert er mit 500 000 Euro, die HELP aus verschiedenen Töpfen der Bundesregierung erhalten hat, die Erweiterung von Schulen und Kanalisation in Vororten von Damaskus. Weil sich die Schülerzahl mancherorts durch den Ansturm irakischer Kinder verdoppelt hat, erklärt Wissinger, werden zwei Schulen vergrößert und mit Mobiliar ausgestattet. Sanitäranlagen, Heizung und Lüftung werden erneuert, die Versorgung mit sauberem Wasser wird gesichert. Mittellose Kinder erhalten Schuluniformen, Schuhe und Schulmaterial, auch Nahrungsmittel werden zur Verfügung gestellt. Während die syrische Regierung von 1,2 Millionen registrierten Irakern im Lande spricht, schätzt Wissinger ihre Zahl auf mindestens 1,5 Millionen: »90 Prozent wollen nicht nach Irak zurück.«

Der Busbahnhof von Saida Zainab liegt direkt neben dem gleichnamigen Schrein, zu dem rund ums Jahr Schiiten aus aller Herren Länder pilgern. Die ersten Reisenden sitzen schon im Bus nach Bagdad. Sie lebe seit dem Krieg 2003 in der Türkei, erzählt eine schwarz gekleidete Frau. Jetzt fahre sie zu einer Beerdigung in Bagdad, wolle aber in 14 Tagen zurück sein - »Inschallah!« - So Gott will. Ob sie nie an Rückkehr gedacht habe? »In unserem Haus wohnen fremde Leute«, sagt sie, »Irak gibt es nicht mehr, wir haben alles verloren.« Familienbesuche, Tod oder Hochzeit sind die häufigsten Reisegründe der Businsassen, manche haben Behördengänge zu erledigen, andere holen ihre Pension ab, aber niemand will in Irak bleiben. »Wer im Rahmen des Rückkehrprogramms der irakischen Regierung zurückgeht, kommt nicht hierher«, erklärt eine junge Frau. »Sie fahren mit Sonderbussen oder nehmen die Charterflugzeuge, die von der Regierung bezahlt werden.« Treffpunkt für solche Leute sei die irakische Botschaft in Damaskus. Arbeitslosigkeit und Armut sind hohe Hürden

Seit Monaten vermitteln US-Armee, irakische Regierung und Medienberichte den Eindruck, dass sich die Lage in Irak stabilisiert hat. Die Gewalt nehme ab, Mauern würden abgerissen, die Menschen fühlten sich wieder sicher. Organisationen wie UNHCR und UNICEF warnen jedoch vor eiliger Rückkehr nach Irak, wo Gesundheits-, Strom- und Wasserversorgung nur unzureichend gewährleistet seien und hohe Arbeitslosigkeit herrsche. 2500 Irakern, die im September täglich den Grenzübergang Al Tanf nach Syrien überquerten, standen 1800 gegenüber, die in der Gegenrichtung nach Irak einreisten, meldete UNHCR. Von einer massenhaften Rückkehr irakischer Flüchtlinge könne nicht die Rede sein, bestätigt der stellvertretende UNHCR-Repräsentant in Damaskus, Philippe Leclèrc.

Dabei gibt sich die Regierung in Bagdad viel Mühe, den Weg zu ebnen. 195 Millionen US-Dollar stehen seit Anfang des Jahres zur Verfügung, um Rücktransport und Wiedereingliederung zu finanzieren. Doch die Resonanz sei gering, gibt die Botschaftssprecherin in Damaskus zu und bittet darum, ihren Namen nicht zu nennen. Inzwischen dürfe die Botschaft im Einverständnis mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk zweimal wöchentlich an der zentralen Registrierungsstelle für irakische Flüchtlinge in Douma für die Rückkehr werben. Dort würden Informationsbroschüren verteilt, in denen der Weg zur Rückkehr ausführlich erklärt wird. Ihre Regierung tue alles, um den Menschen die Wiedereingliederung in der Heimat zu erleichtern, sagt die Sprecherin und zählt auf: Gezahlt werde ein Startgeld von rund 1000 US-Dollar. Es gebe Hilfe bei der Rückkehr in die früheren Wohnungen oder Häuser. Wer im Staatsdienst gearbeitet hat, könne auf seinen Posten zurück, allen anderen werde bei der Arbeitssuche geholfen. Schüler und Studierende könnten das Schuljahr oder das Semester dort fortsetzen, wo sie es unterbrochen haben. Im Oktober habe die Botschaft für 140 Personen ein Flugzeug gechartert, auch für die kommenden Monate sollte wieder ein Rücktransport organisiert werden - gemeldet habe sich allerdings noch niemand.

Am Schalter in der Botschaft herrscht Gedränge. Beim Anblick einer Ausländerin kommen gleich mehrere Frauen, um zu fragen, ob man helfen könne. Eine junge Frau stellt sich als Sina vor. Die 21-Jährige mit eng gebundenem Kopftuch spricht fließend Englisch. Seit 2005 lebe sie in Kanada, erzählt Sina. Sie stamme aus Falludscha, wo sie durch zwei Bauchschüsse schwer verletzt wurde, als die Amerikaner die Stadt belagerten. UNHCR vermittelte ihr eine Operation in Kanada. In Damaskus habe sie ihren Onkel besucht, nun warte sie auf ihren Pass, um nach Kanada zurückzukehren. »Ich liebe Kanada, dort ist es sicher, es gibt Arbeit«, schwärmt Sina. Warum sie nicht in ihre Heimat zurückkehre? Die Regierung verspreche doch Hilfe. Sina schreckt zurück, als wolle sie einem Schlag ausweichen: »Ja, die Regierung gibt den Leuten Geld, aber alle werden den Tod finden«, ist sie überzeugt.

Vor der Botschaft warten noch mehr Menschen. Geduldig studieren sie die Listen, die wie Wandzeitungen an der Mauer des Botschaftsgebäudes ausgehängt sind und die Personen aufführen, deren Pässe abgeholt werden können. Die Wartenden erzählen bereitwillig, was ihnen in ihrer Heimat widerfahren ist. Doch niemand will fotografiert werden. Und niemand kennt eine Familie, die dem Rückruf nach Irak folgen will.

Bassam Habib, ein Ingenieur aus Mossul, hat die Hoffnung auf Frieden in seiner Heimat aufgegeben: »Selbst wenn man sagt, Bagdad sei sicher, kann sich die Lage jederzeit ändern.« Auch die Wahlen im nächsten Jahr änderten nichts, glaubt Habib. »Die Situation ist unklar, es gibt viele Interessen. Selbst wenn man einem Politiker vertraut, weiß man nicht, was dieser Mensch tun wird, wenn er einmal an der Spitze des Staates steht.« Bassam Habib schüttelt den Kopf, auch er kennt keine Familie, die nach Irak zurückkehren will. Doch in Jaramana, wo er wohnt, gebe es den »Treffpunkt der Iraker«. Vielleicht finde man dort jemanden. »Welche Heimat meinen Sie?«

Der »Treffpunkt der Iraker« ist ein Teestand neben der Hauptstraße am Ortseingang von Jaramana. Imad Nihat, ein Sunnit aus dem Bagdader Armenviertel Shaab, brüht jeden Morgen frischen Tee auf. Es gibt sogar Noumi Basra, den guten Zitronentee, der in der kalten Jahreszeit besonders beliebt ist. Der Verkäufer reicht ein dampfendes Glas Tee herüber. Seine Gäste könnten »unglaubliche Geschichten« erzählen, sagt er.

Ein älterer Mann in einer Lederjacke steht wie verloren an dem kleinen Teestand. Vor sechs Monaten sei er nach Damaskus gekommen, erzählt Abu Daoud (78). Er habe Bagdad nie verlassen wollen, doch dann verlor er zwei Söhne bei einer Autobombenexplosion. Kurz darauf starb seine Frau an gebrochenem Herzen. »Was sollte ich tun? Ich hatte kein Einkommen und keine Familie mehr.« Sein dritter Sohn, bei dem er jetzt in Damaskus wohnt, wolle in ein anderes Land umsiedeln, »vielleicht haben sie eine Chance mit ihren vier Kindern«. Er aber sei ein alter Mann. Könne ihm die irakische Regierung nicht bei der Rückkehr in die Heimat helfen? Abu Daoud zögert, als habe er die Frage nicht verstanden: »Welche Heimat meinen Sie? Ich habe meine Söhne, meine Frau verloren, meine Erinnerungen sind tot. Wenn ich nach Irak ginge und dort sterben würde, wer sollte mich beerdigen?«

* Aus: Neues Deutschland, 11. Dezember 2008


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