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Irak nach 12 Jahren Embargo und vor neuem Krieg

Ein Beitrag von Prof. Ulrich Gottstein (IPPNW) aus dem Friedensjournal

Der folgende Beitrag von Prof. Ulrich Gottstein erschien in Heft 3/2002 des "Friedensjournals"*. Er findet sich auch auf der Homepage der IPPNW (www.ippnw.de).

Am 21. Juli 1990 versicherte die US-Botschafterin April Glaspie der irakischen Regierung:"The US has no opinion on the Arab-Arab conflicts like your border disagreements" ( "Die USA hat keine Meinung zu den Arabisch-Arabischen Konflikten, wie zu Ihren Grenzstreitigkeiten").Zehn Tage später marschierten irakische Truppen in Kuwait ein, und zwei Tage später verhängten die UN mit der Resolution 706 ein defacto totales Embargo, da auch die Lieferung von Medikamenten, Hospitalbedarf und Lebensmitteln aus dem Ausland wegen der gesperrten irakischen Auslandskonten unmöglich war. Irak war zahlungsunfähig. Vor dem Krieg hatte Irak jährlich allein für den Medikamenteneinkauf 600 Millionen US-Dollar ausgegeben, da eine moderne Pharmazeutische Industrie nicht bestand. Das Medizinalwesen im Irak war das beste im Mittleren Osten und hatte europäisches Niveau.

Im Januar 1991 tobte dann der Bombenkrieg ( in 43 Tagen wurden 88.500 Tonnen Bomben, Raketen und panzerbrechende Geschosse abgefeuert, etwa 300 Tonnen uranhaltige Munition liegen noch im Lande) und nach viertägigen Landkämpfen war der blutige und zerstörerische Krieg beendet.

Wenige Wochen danach war ich im Auftrag der IPPNW das erste Mal mit einem Hilfstransport im Lande, von Jordanien aus mit Lastkraftwagen, weitere Missionen folgten. Insgesamt war ich acht Mal im Irak, um Hilfen zu den Krankenhäusern zu bringen und ärztliche Solidarität mit den unschuldigen Ärzten und Patienten zu beweisen. Mit jeweils gesondert einzuholenden Genehmigungen durch den UN-Sanktionsausschuß durften Nichtregierungsorganisationen geschenkte Hilfen ins Land bringen, die natürlich nur einen winzigen Teil des eigentlichen Bedarfs darstellten.

Infolge der Kriegszerstörungen, insbesondere der Elektrizitäts- und Wasserreinigungsanlagen und des Embargos herrschte eine Katastrophe im Gesundheitswesen: Alle Medikamente, Spritzen, Kanülen, Infusionen, Labor-und Hospitalbedarf, sowie Röntgenfilme, Ekg-Papier und die nötigen Geräte fehlten. In den Kliniken starben 30% der Erwachsenen, 70% der Kinder. Die Eltern liessen schließlich ihre Kinder lieber zu Hause sterben. Brechdurchfall, Typhus, Amöbenruhr ( durch verunreinigtes Wasser), spastische fieberhafte Bronchitis und Pneumonie ( keine Antibiotika und Sauerstoff), Masern (keine Impfungen) und bei allem das massive Untergewicht rafften die Kinder dahin.

1997 wurden die Sanktionen durch das "Oil for Food Programm" der UN etwas gemildert, aber nur sehr geringfügig: Zwar gab es nun in den Kliniksapotheken wieder die einfachen Medikamente, aber solche zur Schock- und Asthmatherapie, wie Cortison, ferner moderne Antibiotika, Herz-und Kreislauf- sowie Antikrebsmittel fehlten weiterhin, oder wurden nur in geringer Zahl und unzuverlässig vom UN-Sanktionsausschuß genehmigt und geliefert. Die kindlichen Leukämien( die 45 mal häufiger jetzt sind, als vor dem Krieg), die bei uns zu 90% geheilt werden, sterben im Irak zu fast 100%. In der Erwachsenen-Krebsmedizin sind die Resultate nahezu gleich schlecht, da moderne Diagnostik (Röntgengeräte, Computertomographie, Labor etc) sowie moderne Anti-Krebsmittel und Bestrahlungsgeräte fehlen. In Bagdad stehen im früher modernsten Strahleninstitut des Mittleren Ostens drei veraltete Geräte. Reparaturen und Ersatzteillieferungen fehlen. Selbst moderne Therapieliteratur darf aus den USA nicht gesandt werden.

Irak darf Öl unter UN-Kontrolle liefern und verkaufen, aber der Erlös geht auf ein UN-Sperrkonto. Seit 1997 sind 52 Milliarden Dollar eingegangen, wovon aber die UN jeweils sofort etwa 25% an den UN-Kompensationsfond abzweigt, aus dem Einkommensverluste von Kuwait und der Türkei, sowie für Ausgaben der UN-Administration gezahlt werden. Weitere 15% werden für die Versorgung von irakisch-Kurdistan ausgegeben. Von den verbleibenden etwa 60% können dann Medikamente, Kliniksbedarf, Lebensmittel und alle notwendigen zivilen Bedarfsartikel (Kleidung, Schulbedarf, Putzmitel etc etc) gekauft und bezahlt werden, wenn der Sanktionsausschuß alles geprüft und genehmigt hat. Umgerechnet auf die 22 Millionen irakischer Einwohner stehen damit jährlich pro Person 119,70 Dollar, oder täglich 22 Cents zur Verfügung!

So ist verständlich, daß weiterhin eine grosse Not im Lande besteht, vor allem für die einfachen Menschen ohne Beziehungen zum Regime und ohne Verwandtschaft im Ausland, die Dollar verschenken könnte. UNICEF und WHO haben übereinstimmend festgestellt, daß auch in den vergangenen Jahren jeden Monat etwa 5.000 Kleinkinder infolge der Sanktionenj sterben, bislang über eine halbe Million. Hinzu kommen die etwa 1 Million grösseren Kinder und Erwachsenen, denen man als Folge des Embargos nicht die wirksame Behandlung zukommen lassen kann. Die Letalität der neugeborenen Kinder liegt jetzt im Irak bei 10,8/ 100 Lebendgeburten, vor dem Krieg waren es 4,7.

Im Land herrschen grosse Armut und eine Arbeitslosigkeit von 80%. Wer das Glück eines normalen Lohns hat, verdient im Monat 2.000-4.000 Dinar, das entspricht 1-2 Dollar. Kliniksärzte verdienen etwa das Doppelte. Da der von der Regierung allen Irakern für einen Minimalbetrag zur Verfügung gestellte "Essenskorb" mit Öl, Hülsenfrüchten, Mehl,Zucker, Tee, nur für 20 Tage reicht und kein Fleisch, keine Eier und Milchprodukte und kein Gemüse und Obst enthält, sind die Menschen auf den freien Markt angewiesen, um zusätzliche Lebensmittel einzukaufen. Aber dafür braucht man Geld, das nur die wenigsten besitzen. 2 kg Fleisch z.B. kostet für "Normalverdiener" einen Monatslohn! Die enorme Inflation bzw. Wertlosigkeit des Dinar hat dazu geführt, daß 1 Dollar jetzt 1.900 Dinar entspricht, wohingegen vor dem Krieg 1 Dollar einem Drittel Dinar entsprach.

Die WHO stellte auch im vergangenen Jahr den schlechten Gesundheitszustand der Kinder fest: 800.000 waren stark untergewichtig, 2.620 litten unter der massiven Eiweißmangelkrankheit Kwashiorkor, 23.577 wurden als Marasmus eingestuft( also maximale Körperschwäche), bei 162.381 Kindern wurden erhebliche Eiweiß- und Vitaminmangelzustände diagnostiziert.

Bei zunehmender internationaler Kritik an dem Wirtschafts-und humanitärem Embargo, für das die USA die Hauptverantwortung tragen, haben die UN zum 1. Juni ds.Js. mit der Resolution 1409 eine "Erleichterung" für die Menschen Iraks beschlossen: Man hat eine 300 Seiten starke Liste der verbotenen Artikel, Geräte, Materialien etc erstellt, die sogen. "Goods Review List", oder auch "Dual Use Liste". Was nicht in der Liste steht, dürfe geliefert werden, bei Zweifeln entscheiden zwei UN-Ausschüsse: UNMOVIC und IAEA ( "UN Monitoring, Verification and Inspection Committee", sowie " International Atomic Energy Agency"). Man hofft im Irak, daß nun die Bestellungen der irakischen Gesundheitsbehörde und Regierung in New York rascher geprüft werden. Bislang vergehen Wochen bis Monate, und die Lieferungen kommen unzuverlässig an, und ausserdem sind bei den Sanktionsausschüssen 2.142 Bestellungen im Wert von 5 Milliarden Dollar "on hold", d.h. gesperrt.

Die Menschen im Irak sind verzweifelt oder haben resigniert. Man hat allgemein eine grosse Wut auf die USA und Großbritannien und fürchtet den von Präsident Bush angekündigten neuen Krieg. " Immer leiden ja die Unschuldigen, die Kinder , die Armen und die Kranken, nicht das Regime". Wer sich aber auf einen neuen Krieg gegen den Irak zu freuen scheint , geht aus der New York Times vom 10.Juni ds.Js. hervor :"Verteidigungsminister Donald H.Rumsfeld sagte zu 1.000 jubelnden Soldaten im Camp Doha in Kuwait:"Der globale Krieg gegen den Terrorismus begann in Afghanistan, aber seid versichert, er wird dort nicht enden".

* Friedensjournal (früher "Friedenspolitische Korrespondenz"): Das Friedensjournal wird vom Bundesausschuss Friedensratschlag herausgegeben und erscheint sechs Mal im Jahr. Es kann bestellt/abonniert werden bei:
Friedens- und Zukunftswerkstatt Frankfurt, c/o Gewerkschaftshaus, Wilhelm-Leuschner-Str. 69-77, 60329 Frankfurt a.M.; Tel: 069/24249950. Per e-mail: Frieden-und-Zukunft@t-online.de.



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