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Die vergessene Besatzung

Hintergrund. Die Lebensbedingungen im Irak werden nach wie vor vom Westen bestimmt – und sie sind weiterhin miserabel. In dem Land wächst der Widerstand gegen die Regierung von Ministerpräsident Nuri Al-Maliki

Von Joachim Guilliard *

Während westliche Politiker und Medien urplötzlich der üblen Repression in Ägypten und Tunesien gewahr wurden und zu begeisterten Anhängern der Protestbewegung mutierten, bleibt das irakische Regime weiterhin von kritischen Blicken gänzlich verschont. Nachdem im vergangenen Jahr nach neuem Urnengang schließlich auch eine andere Regierung zustande kam, scheint allen der Irak auf dem besten Weg zu sein.

Das US-Wirtschaftsblatt The Economist setzte das Land in seinem »Demokratie-Index 2010« hinter Israel, Libanon und Palästina auf Rang vier der Region. Die erfolgreiche Regierungsbildung in Bagdad sei seit Kriegsbeginn im März 2003, so taz-Journalist Andreas Zumach, nach der Meldung über den Sturz von Saddam Hussein die zweite gute Nachricht aus dem Irak. Nur wenige Iraker werden ihnen beipflichten. Das Land steht nach wie vor unter der Herrschaft eines brutalen Militärregimes sowie ziviler und militärischer Besatzungskräfte. Auch knapp acht Jahre nach der Invasion liegt es noch immer in Trümmern und ist der fürchterliche Absturz der irakischen Gesellschaft nicht gestoppt.

Es sei naiv zu glauben, man müsse nur Wahlen abhalten, und schon bekomme man Demokratie, stellte der britische Premier David Cameron auf der zurückliegenden Münchner »Sicherheitskonferenz« in einem plötzlichen Anflug von Weitsicht fest. Gemeint waren jedoch nicht Irak oder Afghanistan, sondern Ägypten, wo voreilige Wahlen die falschen Ergebnisse brächten.

»Demokratie« auf Gräbern

Nur wenige Stunden nachdem Anfang Februar das irakische Parlament eine Resolution verabschiedet hatte, die die Anwendung von Gewalt gegen die Protestbewegung in Ägypten verurteilte, schoß die Polizei in der südirakischen Kleinstadt Al-Hamza in eine der zahlreichen Protestkundgebungen gegen die miserablen Verhältnisse im Land, tötete mindestens einen Demonstranten und verwundete vier weitere. – Geschehen solche Ereignisse im Irak, machen sie keine Schlagzeilen. Willkürliche Festnahmen, Verschleppung und Morde gehören hier zum Alltag. Am selben Tag nahmen Sicherheitskräfte in mehreren Städten willkürlich 126 Männer gefangen. Eine Woche zuvor waren bei einer großangelegten Operation in der Provinz Dijala über 100 Intellektuelle festgenommen worden, darunter auch vier leitende Professoren der medizinischen Fakultät an der Universität der Provinz im Nordosten Bagdads, die eine Hochburg des zivilen wie militärischen Widerstands ist.

Insgesamt gab die Menschenrechtsabteilung der »Vereinigung moslemischer Gelehrter im Irak« im Januar die Zahl von 1788 willkürlichen, politisch motivierte Verhaftungen bekannt, das Gros in Dijala, Mosul, Kirkuk und den anderen Provinzen mit mehrheitlich sunnitischer Bevölkerung. Im Monat davor lag die Zahl nur geringfügig darunter. Diese Bilanzen beruhen allein auf den offiziellen Angaben der irakischen Ministerien für Inneres und Militär und berücksichtigen daher nicht die Festnahmen durch die berüchtigten Sondereinheiten von Ministerpräsident Nuri Al-Maliki, der kurdischen Peschmergas und anderer regierungsnaher Milizen. Vor allem die Gefangenen der Sondereinheiten und der Milizen verschwinden häufig in Geheimgefängnissen – oft für immer und spurlos.

Die von Wikileaks veröffentlichten Irak-Protokolle belegen überaus deutlich die Anwendung systematischer Folter in den irakischen Kerkern – mit Wissen und Unterstützung der Besatzer. Es gab explizite Anweisungen der Armeeführung an die US-Truppen im Irak, sich auf keinen Fall einzumischen, wenn die irakischen Verbündeten foltern und morden. Häufig übergaben sie Gefangene, die sie selbst gemacht hatten, direkt an folternde irakische Einheiten. Die Protokolle zeigen auch, daß die US-Amerikaner maßgeblich an der Ausrüstung und Ausbildung von Spezialeinheiten beteiligt waren, die letztlich als Todesschwadronen fungierten.

All dies endete selbstverständlich nicht 2009 mit den letzten veröffentlichten Protokollen, wie die zufälligen Entdeckungen von zwei Geheimgefängnissen in der »Grünen Zone« in Bagdad im April 2010 und im Januar dieses Jahres zeigen. In beiden Kerkern wiesen Gefangene Spuren schwerer Folter auf. Beide wurden von Malikis Bagdad- Brigaden geführt. Diese gehören zu den Iraq Special Operations Forces, die der Premier Al-Maliki in den letzten Jahren mit US-Hilfe aufgestellt hat. Sie gelten mittlerweile als die effektivsten irakischen Spezialeinheiten.

Laut einem Bericht von Amnesty International waren im September des vergangenen Jahres mindestens 30000 Iraker willkürlich, d.h. ohne Anklage, in den offiziellen Gefängnissen inhaftiert. 23000 weitere befanden sich in US-Gefangenschaft und werden seither sukzessive in irakische Anstalten überführt. Zur Zahl der Verschleppten, die in geheimen Anlagen gefangengehalten und in der Regel gefoltert werden, gibt es nicht einmal Schätzungen.

Gemäß der »Internationalen Kommission für vermißte Personen« (ICMP) gelten im Irak zwischen 250000 und eine Million Menschen als vermißt. Von Entführungen ist die gesamte Bevölkerung betroffen, so Asma Al-Haidari, ein von Amman aus arbeitender irakischer Menschenrechtsexperte.

Auf Basis einer Studie des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) von 2009 schätzt Dirk Adriansens vom »Brussels Tribunal«, dem belgischen Ableger der Irak-Tribunalbewegung, die Zahl verschwundener Angehöriger von Binnenflüchtlingen auf 260000. Die meisten wurden den Angaben der Flüchtlinge zufolge von Sicherheitskräften und von den Regierungsparteien nahestehenden Milizen verschleppt. Rechnet man dies vorsichtig auf die gesamte Bevölkerung hoch, so liegt die Zahl der Verschwundenen vermutlich bei über einer halben Million. Andere, wie Al-Haidari, gehen von bis zu einer Million aus. »Es gibt keinen sicheren Ort in Irak. Leute können verschwinden und in geheime, illegale Gefangenenlager irgendwo im Land verfrachtet werden, ohne Kenntnis ihrer Familie oder ihres Anwalts.«

Die meisten namhaften Persönlichkeiten, die nicht zur Kollaboration bereit waren – von ehemaligen Bürgermeistern über unabhängige Wissenschaftler bis hin zu Künstlern – sind daher, sofern sie nicht ermordet oder verschleppt wurden, längst ins Ausland geflohen. Bedroht und verfolgt sind aber nicht nur Angehörige der gegen die Besatzung und die Maliki-Regierung gerichteten Opposition, sondern in hohem Maß auch Journalisten. Sie erleiden nach kritischen Recherchen häufig körperliche Mißhandlungen, willkürliche Verhaftungen oder gar den Tod. Die Medien sind strengen Regeln unterworfen, regierungskritische Zeitungen und Sender werden regelmäßig geschlossen. So wurden im Januar 2011 z.B. der Fernsehsender Baghdadiya und die Einrichtungen von Al-Dschasira im Land dichtgemacht. Iraker müssen, so die Washington Post, auch auf der Hut sein, was sie wo sagen. »Wenn sie dich nicht töten, so können sie dir auf andere Weise Leid zufügen«, erläuterte ein Menschenrechtsaktivist gegenüber dem Blatt.

Frauen im Abseits

Über eine Million Irakerinnen und Iraker wurden seit 2003 von Besatzungs- und irakischen Regierungstruppen getötet oder fielen der sektiererischen Gewalt zum Opfer, die von Washington und seinen Verbündeten angeheizt wurde. Mehr als zwei Millionen sind ins Ausland geflohen, die gleiche Zahl wurde zu Binnenflüchtlingen. In einem Land, in dem ein großer Teil der Vertreter der politischen Opposition und des Widerstands gegen die ausländische Besatzung eingesperrt, verschleppt, getötet oder vertrieben wurde und in dem nach wie vor 50000 Besatzungssoldaten operieren, von Demokratie zu reden ist absurd.

»Frauen mögen nun 25 Prozent der Sitze im irakischen Parlament halten«, so die »Inter-Agency Information and Analysis Unit« der UNO, sie erlitten insgesamt jedoch in den letzten Jahren eine »massive gesellschaftliche Entmachtung«. Viel von ihrer früheren, relativ starken Stellung in der Gesellschaft ging, so die irakische Journalistin Eman Khammas gegenüber der UN-Nachrichtenagentur IRIN, in einem »politischen Klima der Intoleranz« verloren, das für Frauen »immer giftiger« wurde. Nach der Invasion 2003 begann die islamisch-fundamentalistische Ideologie der Parteien zu dominieren, die von den USA an die Macht gebracht wurden und deren Milizen immer aggressiver die Einhaltung religiöser Vorschriften zu erzwingen suchen.

Die Beschäftigung von Frauen, deren Anteil im öffentlichen Dienst vor der Invasion bei 40 Prozent lag, ging stark zurück. Der Zusammenbruch von öffentlichen sozialen Dienstleistungen schränkt für Frauen und Mädchen den Zugang zu Bildung, Gesundheit und Jobs massiv ein. Die Unsicherheit in den Straßen und die allgemeine Atmosphäre straflos bleibender Gewalt verbannte Frauen aus dem öffentlichen Leben in die Abgeschiedenheit ihrer Wohnungen. Tausende Frauen wurden in den letzten Jahren entführt und zur Prostitution verkauft.

Dieser Trend wurde, laut einer Studie des internationalen Frauenhilfe-Netzwerks MADRE, von der irakischen Regierung aktiv gefördert. Das Innenministerium gab eine ganze Serie von Verlautbarungen heraus, die Frauen davor warnten, ihre Wohnungen unbegleitet zu verlassen und in denen die Anordnungen religiöser Führer an die Männer weitergegeben wurden, weibliche Familienmitglieder von der Annahme von Jobs abzuhalten.

Der Anteil weiblicher Schulanfänger liegt laut einer UNICEF-Studie vom September 2010 unter 44 Prozent, die Einschulung von Mädchen geht immer weiter zurück, während bei ihnen die Rate des vorzeitigen Ausbildungsabbruchs immer stärker steigt.

EU sieht keine Probleme

Für die Europäische Union ist die Welt im Irak jedoch weitgehend in Ordnung. Das »Europäische Amt für humanitäre Hilfe« (ECHO) sieht laut seinem »Humanitarian Implementation Plan« für 2011 keine »ausgedehnte humanitäre Krise im Irak«. Offenbar will man sie in der EU nicht wahrhaben: Eine aktuelle umfassende Abschätzung der humanitären Bedürfnisse wurde, wie es im Papier heißt, nicht erstellt.

Dabei zeichnen die Berichte von Hilfsorganisationen ein deutliches Bild von der unverändert miserablen Versorgungslage. So haben einem Bericht des Internationalen Roten Kreuzes vom März 2010 zufolge 55 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und nur noch 20 Prozent leben in Wohnungen oder Unterkünften, die an das Abwassersystem angeschlossen sind. Auch Strom gibt es nach wie vor nur stundenweise, die einst vorbildlichen Gesundheits- und Bildungssysteme liegen am Boden.

Millionen Iraker hungern, und der Nahrungsmangel weitet sich sogar noch aus. Obwohl die hohen Ölpreise ein Mehrfaches der Summen, die unter dem Embargo zur Verfügung standen, in die Staatskassen spülen, lebt mittlerweile – nach Angaben der irakischen Zentralen Organisation für Statistik und Information – die Hälfte der knapp 30 Millionen Einwohner in äußerster Armut. Sieben Millionen Menschen kämpfen unterhalb des Existenzminimums von zwei US-Dollar pro Tag ums Überleben.

Gründe sind vor allem Inflation, hohe Arbeitslosigkeit und das Zusammenbrechen der Nahrungsmittelverteilung, von der 60 Prozent der Bevölkerung völlig abhängig sind. Dieses 1995 im Rahmen des Öl-für-Nahrung-Programms aufgebaute System galt vor 2003 als vorbildlich, wenn auch unterfinanziert. Obwohl die rasant gestiegenen Weltmarktpreise etliche Milliarden an zusätzlichen Öleinnahmen in die Kassen spülten, wurde die Versorgung aufgrund des Drucks von Internationalem Währungsfonds, Besatzungspolitik, Krieg und Korruption immer schlechter. Verteilt werden statt des früheren guten Dutzends bloß noch fünf Grundnahrungsmittel, und dies in vielen Gebieten nur während acht bis zehn Monaten im Jahr.

Eine wesentliche Ursache für den Lebensmittelmangel ist der drastische Niedergang der heimischen Landwirtschaft – nicht zuletzt aufgrund der 2003 erzwungenen völligen Öffnung des Landes für zollfreie Importe. Vor der Invasion habe trotz des Embargos noch »eine gewisse Stabilität bei der Nahrungsmittelversorgung« existiert, weil es »eine Kontrolle der Nahrungsimporte und staatliche Unterstützung für die Landwirtschaft gab«, so Muna Turki Al-Musawi, Chefin des staatlichen irakischen Zentrums für Marktforschung und Verbraucherschutz, gegenüber IRIN. Mit Beginn der Besatzung war es damit vorbei.

Das UN-Programm für menschliche Siedlungen, UN-HABITAT, berichtete Ende 2009, daß dem Land 1,3 Millionen Wohnungen fehlen, über die Hälfte der Bevölkerung unter »Slum-ähnlichen Bedingungen« lebt und sich die Situation in den kommenden Jahren noch verschlimmern wird.

Die Krankenhäuser kämpfen immer noch mit dem Mangel an Personal, Betten und Ausrüstung, und es fehlen den Angaben von HABITAT zufolge auch 4000 Schulen. Dafür hat die Regierung damit begonnen, Mädchen und Jungen in den Lehranstalten zu trennen.

Damit geht der vor 20 Jahren mit dem zweiten Golfkrieg eingeleitete Verfall der irakischen Gesellschaft immer weiter – materiell, sozial und kulturell. Nicht nur die technische Infrastruktur, die zuvor ein vergleichsweise hohes Versorgungsniveau ermöglichte, liegt immer noch weitgehend am Boden, sondern auch die einst vorbildlichen Gesundheits-, Sozial- und Bildungssysteme. Während in Marokko auch heute noch 50 Prozent der Bevölkerung Analphabeten sind, hatte der Irak bis Mitte der 1980er Jahre den Analphabetismus nahezu eliminiert. Die UNESCO würdigte den Irak 1987 ausdrücklich für sein Bildungswesen, das Frauen und Mädchen gleichberechtigt mit einschloß. Nach zwanzig Jahren Krieg und Besatzung ist der Irak wieder auf das Niveau Marokkos gesunken. – Auch diese kulturelle Zerstörung war nach Ansicht vieler Iraker und internationaler Experten gewollt.

Zentralisierung der Macht

Das neue Parlament und die neue Regierung werden an der Misere nichts ändern, auch wenn bei den Wahlen im März 2010 trotz vielfältiger Manipulationen die Kräfte, die für nationale Interessen eintreten, zulegen konnten – auf Kosten der religiösen. Letztlich blieb der bisherige starke Mann Nuri Al-Maliki aber im Amt.

Es dauerte jedoch volle neun Monate, bis die neue Regierung stand. Nicht nur diese Dauer ist rekordverdächtig, sondern mit über 40 Ministern auch ihr Umfang. Nominell handelt es sich bei ihr wieder um eine »Regierung der nationalen Einheit«. Tatsächlich ist sie Ausdruck innerer Zersplitterung und äußerer Einmischung. Sie beruht auf einem Kuhhandel der maßgeblichen Akteure, vor allem der Besatzungsmacht und dem Iran, bei dem die USA schlechter wegkamen. Zahlenmäßig haben im Kabinett die proiranischen Kräfte ein Übergewicht, und US-Erzfeind Muktada Al-Sadr spielt eine gewichtige Rolle. Washington wollte den Ex-CIA-Mann Ijad Allawi als Gegengewicht zu Al-Maliki auf einen gewichtigen Posten im Kabinett setzen. Allawi, der als Führer der bei den Wahlen siegreichen säkularen »Nationalen Bewegung«, Iraqiyya, an sich Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten hatte, bekam jedoch nur den Vorsitz eines Nationalen Sicherheitsrats in Aussicht gestellt, der erst noch gegründet werden muß und dessen zukünftige Machtbefugnisse völlig offen sind.

Doch wird aufgrund der starken Position Malikis die genaue Zusammensetzung des Kabinetts von untergeordneter Bedeutung sein. Da dieser wiederum militärisch von den USA abhängig bleibt, war das wichtigste, ihn zunächst wieder verfassungsgemäß ins Amt zu bringen. Auch in den neun Monaten, in denen Maliki nur noch kommissarisch regierte, funktionierte seine Administration aus US-Sicht sehr zufriedenstellend. Ungeachtet breiter Proteste – von Gewerkschaften bis zu den Provinzregierungen und dem Parlament – wurden Serviceverträge für drei Gasfelder an ausländische Konsortien versteigert und ausländischen Unternehmen der Einstieg in zehn Staatskonzerne offeriert. US-Konzerne konnten im Gespann mit US-Botschaft und Wirtschaftsministerium Verhandlungen über neue milliardenschwere Geschäfte im Infrastrukturbereich aufnehmen, während Malikis Vertrauter Hussein Al-Schahristani als kommissarischer Öl- und Elektrizitätsminister gegen die Kräfte vorging, die dabei stören würden – die unabhängigen Gewerkschaften (siehe jW v. 26.11.2010).

Im April 2006 als Kompromißkandidat ohne Hausmacht ins Amt gekommen, hat der Premier sich mit Hilfe der Besatzer mittlerweile eine sehr starke Position geschaffen. Er besetzte sukzessive Schlüsselstellen in Regierung, Verwaltung, Polizei, Geheimdiensten und Militär mit seinen Leuten. Green Berets, ein Sonderkommando der US-Streitkräfte, bildeten ihm direkt unterstellte, schlagkräftige Spezialeinheiten aus, die heute weithin gefürchtet sind.

Sieben Posten im neuen Kabinett konnte er nun mit seinen Getreuen besetzen. Indem er für einen seiner engsten Vertrauten, den bisherigen Ölminister Al-Schahristani, das neue Amt eines Vizepremiers für Energieangelegenheiten schuf und das Ölministerium dessen, ihm gleichfalls verbundenen Vizeminister zuschanzen konnte, hat er auch seinen Einfluß auf den mit Abstand wichtigsten Wirtschaftsbereich des Landes verstärkt. Der Oberste Gerichtshof wird bereits als von Maliki kontrolliert angesehen. Nach dessen vor kurzem erlassenen Urteil untersteht nun auch die Wahlkommission ganz offiziell dem Regierungschef und gibt ihm direkten Einfluß auf kommende Urnengänge.

Die drei machtpolitisch wichtigsten Ministerien, Militär, Inneres und Nationale Sicherheit, sowie den Geheimdienst leitet er vorerst selbst und kann die Zeit zur weiteren Konsolidierung seiner Macht nutzen. Nichts deutet darauf hin, daß sich dies bald ändern wird. An sich wurden die Ressorts anderen Parteien seines Bündnisses zugesagt, doch lehnte er bisher deren Besetzungsvorschläge alle ab. Einer von vielen Gründen, warum die Regierungskoalition aus gegensätzlichen und verfeindeten Parteien wohl kaum lange halten wird.

Aufgrund der diktatorischen Züge seiner Amtsführung hatten die meisten potentiellen Koalitionspartner sich monatelang massiv gegen eine zweite Amtszeit Malikis gesträubt. Erst massiver Druck aus dem Iran, den USA und Saudi-Arabien sowie die Befriedung persönlicher Ambitionen wichtiger Parteiführer ebneten ihm den Weg. Letztere mußten nun alle mit Kabinettsposten versorgt werden, die im Irak, der in Sachen Korruption eine Spitzenposition in der Welt einnimmt, als Pfründe der Amtsinhaber und ihrer Parteien dienen. Die XXL-Regierung wird die Iraker daher auf mehrfache Weise teuer zu stehen kommen: Sie werden weiterhin mit einem brutalen, von der Besatzungsmacht gestützten Regime konfrontiert bleiben, regiert von einer nur auf politischem und konfessionellem Proporz aufgebauten Administration, die ebenso wenig fähig sein wird, die dringenden Probleme des Landes in den Griff zu bekommen wie ihre Vorgängerin – die angeblich erste frei gewählte.

Mission unvollendet

Mit Maliki an der Spitze der Regierung können die USA die Besatzung aufrechterhalten und den Einfluß des Iran begrenzen. Wichtige Pläne, wie die Verabschiedung eines neuen Ölgesetzes, das erst eine umfassende Privatisierung der Branche ermöglichen würde, werden jedoch noch schwerer zu verwirklichen sein als zuvor. Auch die Verlängerung des Stationierungsabkommens, das seit 2008 formal legal den Rahmen für die Präsenz der Besatzungstruppen liefert und den Abzug der aktuell noch verbliebenen 50000 Soldaten bis Ende des Jahres vorsieht, wird parlamentarisch kaum durchsetzbar sein. Eine solche Verlängerung bis 2020 und darüber hinaus war Gegenstand der Gespräche während des jüngsten Irak-Aufenthaltes von US-Vizepräsident Joe Biden. Das von Allawi geführte, nationalistische Wahlbündnis Iraqiya, das die meisten Sitze gewann, wird sich mehrheitlich einer längeren US-Präsenz genauso widersetzen wie die Fraktion des einflußreichen Klerikers Muktada Al-Sadr. Dieser forderte bereits von Maliki eine eindeutige Bestätigung der Deadline im Dezember und drohte erneut mit militärischem Widerstand seiner Bewegung, sollten die Besatzer länger bleiben. Nur mit den Sadristen, die die größte Fraktion im Regierungsbündnis stellen, hat der Premier eine sichere Mehrheit. Öffentlich war auch für Maliki während der Koalitionsverhandlung die Diskussion über eine fortgesetzte US-Präsenz tabu. Abgeordnete aus seinem Umfeld gehen jedoch davon aus, daß die Truppen auch in den nächsten Jahren im Land sein werden.

Solange die Kontrolle über den Irak nicht dauerhaft gesichert und wesentliche Ziele, wie der Zugriff auf das Öl, nicht erreicht sind, werden die USA ihre Truppen nicht freiwillig abziehen und einem durch den Irak-Krieg gestärkten Iran das Feld im Zweistromland und der Region überlassen.

Zur Not bietet auch das Stationierungsabkommen genügend Schlupflöcher zur Legitimierung einer weiteren Okkupation. Schon die Feststellung einer inneren Bedrohung des »demokratischen Systems« Iraks oder »seiner gewählten Institutionen« würde nach Artikel 27 als Rechtfertigung ausreichen. Bei einem offenen Bruch der Abzugsvereinbarungen wäre die Geduld der meisten Iraker jedoch endgültig am Ende, und die Besatzungsmacht müßte mit einem noch breiteren Widerstand auf allen Ebenen rechnen als zuvor.

»Setzen wir uns selbst in Brand«

Der Widerstand gegen die Besatzung und das von ihr geschaffene Regime ist längst nicht besiegt. Die militärische Gegenwehr wurde im letzten Jahr wieder stärker. Das Portal der Vereinigung der islamischen Gelehrten listet fast täglich neue Angriffe der »Front für Dschihad und Wandel« auf Besatzungstruppen auf, dasselbe gilt für die Website der Islamischen Armee, der größten Guerillaorganisation im Irak.

Weit stärker wächst jedoch der zivile Widerstand. Im Sommer gab es zahlreiche heftige Demonstrationen gegen die mangelnde Versorgung mit Nahrung, Strom und Wasser sowie die ungeheuerliche Korruption. Zigtausende Demonstranten belagerten Provinzregierungen, stürmten Rathäuser und Regierungsgebäude. Die Polizei ging mit äußerster Härte gegen sie vor, mehrere wurden erschossen. Schließlich trat der Elektrizitätsminister zurück. Demonstrationen wurden faktisch verboten (siehe jW v. 26.11.2010).

Die Aufstände in Tunesien und Ägypten feuern nun auch die Iraker zu neuen Protesten an. In Bagdad, Basra, Mosul, Nadschaf, Kerbala, Kut, Ramadi, Amara und zahlreichen weiteren Städten im ganzen Land gingen seither viele Tausende auf die Straße. Auch die Öl- und Hafenarbeitergewerkschaften sind mit von der Partie. Am Wochenende nach dem Abgang Mubaraks stürmten in einigen Orten wütende Demonstranten Regierungsgebäude und Polizeiwachen und forderten die Absetzung der lokalen Autoritäten oder der Provinzregierung. Proteste richteten sich auch gegen willkürliche Festnahmen und die Mißhandlung von Inhaftierten, verbunden mit der Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen und Zugang zu den Geheimgefängnissen. In Kerbala war auf einem Plakat zu lesen »Wir haben nichts. Wir brauchen alles. Lösung: Setzen wir uns selbst in Brand.« – Eine Anspielung auf die Selbstverbrennung des jungen Mannes, die die Proteste in Tunesien auslöste.

Maliki sieht die Entwicklung offenbar mit Sorge. Er kündigte rasch an, keine dritte Amtszeit anzustreben und sein Salär, das auf bis zu 700000 Dollar jährlich geschätzt wird, zu halbieren. Die monatlichen Nahrungsmittelhilfen kamen für Februar pünktlich, zusätzlich erhält jeder Haushalt umgerechnet zwölf Dollar als Entschädigung für die Kürzung der Rationen. Die ersten 1000 Kilowattstunden Strom in jedem Monat sollen künftig für alle Haushalte gratis sein.

Ungeachtet dessen kursieren auf vielen Webseiten und Mailinglisten Aufrufe zu einer »Revolution des irakischen Zorns«. Sie richten sich vor allem an die Millionen Witwen, Waisen und Erwerbslosen und rufen dazu auf, sich am 25. Februar auf dem Bagdader Tahrir-Platz, unweit der »Grünen Zone«, zu versammeln und eine Verbesserung der Lebensbedingungen sowie eine echte Demokratie einzufordern. Hunderttausende werden erwartet. Als Hauptlosung soll auf den Transparenten stehen: »Genug des Schweigens« »Genug der Geduld« und »Trotz Öleinnahmen von 100 Milliarden Dollar haben wir noch nicht einmal etwas zu essen«.

Sollte sich diese von der Not und der Wut über unmittelbare Mißstände gespeiste Protestbewegung ausweiten, wird die Lage auch für die Politiker in der »Grünen Zone« und die US-amerikanischen Drahtzieher im gigantischen Botschaftskomplex in Bagdad rasch ungemütlich werden. Die demokratische Fassade wird nicht lange zu halten sein. Tatsächlich hat sich nun eine Demokratiebewegung im gesamten arabischen Raum ausgebreitet. Doch so haben sich die Falken in Wash­ington ihre »Greater Middle East Initiative« nicht vorgestellt, für die der Irak-Krieg den Auftakt bilden sollte.

* Aus: junge Welt, 18. Februar 2011


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