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Stunde der Heuchler

Von Karin Leukefeld *

Als Richard Engel vom US-TV-Netzwerk NBC im Mai 2006 seine Reportage über ein Waisenhaus für Mädchen in Allwiya/Bagdad schrieb, hatte er in der NBC-Öffentlichkeit fulminanten Erfolg. Eine Flut von Leserbriefen überschwemmte die Redaktion, die Leute wollten helfen. Engel war so gerührt, daß ihm beim Lesen der Briefe die Tränen kamen, schrieb er wenig später in seinem NBC-Blog »Baghdad Blogging«. Die Anteilnahme habe ihn stolz gemacht und an die »grundlegende Freundlichkeit der Amerikaner« erinnert.

Offenbar hat die Presseabteilung der US-Armee im Irak die Lektion gelernt. Als kürzlich US-Soldaten und ihre irakischen Kollegen bei einer Razzia in einem Waisenhaus auf eine Gruppe von Jungen stießen, war die Stunde der Propagandisten gekommen. Endlich eine gute Nachricht! Geistesgegenwärtig machte der für Dokumentation zuständige Soldat mit seiner Diggicam Aufnahmen vom »Tatort«, die Bilder gingen um die Welt. Und die Bilder waren erschütternd. Da lagen magere Kinderkörper auf einem Bettgestell und auf dem Steinboden in einem verdreckten Zimmer. Die Jungen waren nackt und teilweise geistig behindert, wie es in der beigefügten Presseerklärung hieß. Die Fotostrecke war grandios: Ein Soldat gibt einem Kind aus einer Wasserflasche zu trinken, das Präzisionsgewehr lässig über dem Knie. Ein irakischer Soldat und eine US-Soldatin – gut erkennbar an den Flaggen auf der Uniform – ziehen einem Knirps mit ihren hygienehandschuhgeschützten Händen ein neues T-Shirt an, ein anderer wird in einen bunten Kittel gesteckt. Und hallo, Kuckuck! Immer schön in die Kamera schauen! Der Trupp schaffte es auf Anhieb in die Schlagzeilen der Weltpresse.

Die irakische Regierung zeigte sich empört, der Ministerpräsident ordnete eine Untersuchung an. Die Verantwortlichten würden bestraft, ja vermutlich sogar eingesperrt werden, hieß es aus dem für Waisenhäuser zuständigen Arbeits- und Sozialministerium. Empört war man auch über die Schamlosigkeit der Soldaten, die die Bilder des Elends veröffentlicht hatten, was einen dunklen Schatten auf die sonst so strahlende irakische Regierungsarbeit warf. Die Gutmenschen in den Kinderhilfswerken aller Welt äußerten sich gewohnt »besorgt über die Lebensbedingungen von Waisen und schutzbedürftigen Kindern im Irak« und forderten »mehr Engagement«.

Der eigentliche Skandal ist nicht dieses besondere Waisenhaus in Bagdad, der Skandal ist die Besatzung im Irak, die solche Verhältnisse erst möglich macht. Der Skandal ist, daß die Verantwortlichen für das Chaos – US-Armee, irakische Regierung, der UN-Sicherheitsrat, der das Mandat erteilte und alle, die nicht dagegen sprechen – ungestraft das Elend der Kinder für die jeweils eigenen Zwecke instrumentalisieren. Und die Medien machen mit, Fragen werden nicht gestellt. Woher kamen die Kinder, warum waren sie dort? Wie verloren sie ihre Eltern und Angehörigen? Wie verloren sie ihr Zuhause? Kein Platz, keine Zeit, nicht interessant für die Redaktionen, das ist doch alles längst Geschichte. Und schon explodiert die nächste Bombe, die es zu kommentieren gilt. Ladies and Gentlemen, and the winner is ...

* Aus: junge Welt, 27. Juni 2007


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