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Hilferuf aus Irak nach Brüssel

Not der Bevölkerung soll mit EU-Unterstützung gelindert werden

Von Karin Leukefeld *

In Irak tätige Nichtregierungsorganisationen schlagen Alarm: Die Europäische Union müsse sich wieder mit humanitärer Hilfe in Irak engagieren, fordern sie.

Das Hilfsprogramm ECHO (European Commission Humanitarian Organisation), das bis 2005 humanitäre Unterstützung in Irak geleistet hat, müsse seine Hilfe wieder aufnehmen. »Die humanitäre Not der Iraker ist so akut wie nie, doch die Finanzierung von humanitärer Hilfe in Irak nimmt weiter ab«, heißt es in einer Presseerklärung des Koordinierungszentrums für Nichtregierungsorganisationen in Irak, NCCI.

Das Zentrum spricht im Namen von 50 Organisationen, die in Irak arbeiten, sowie von weiteren europäischen Organisationen, darunter Médecins du Monde, Handicap International und Architekten für Menschen in Not (APN). »54 Prozent der Iraker leben unter der Armutsgrenze (ein Dollar pro Tag), 15 Prozent davon haben täglich nicht mehr as 50 Cent zur Verfügung«, heißt es in der Erklärung. Die Arbeitslosigkeit liege bei mindestens 60 Prozent, 68 Prozent der Iraker seien ohne Zugang zu sauberem Wasser. Unterernährung nehme zu, mehr als 40 Prozent der Bevölkerung seien auf die staatliche Lebensmittelverteilung angewiesen, die oft nicht funktioniere. Die Gesundheitsversorgung sei unzureichend, die Zahl der psychisch Kranken nehme zu, fast alle Kinder hätten Lernstörungen.

Europäische Organisationen in Irak müssten ihre Arbeit einschränken, weil ECHO mit der offiziellen Verkündung des Wiederaufbauprogramms für Irak seine humanitäre Hilfe eingestellt habe, erläuterte NCCI-Sprecher Cedric Turlan im ND-Gespräch. Es gebe genügend »verlässliche Zahlen, die zeigen, dass sich die alltäglichen Lebensbedingungen ständig verschlechtern, trotz aller Wiederaufbaubemühungen«. ECHO müsse seine Bewertung der Lage in Irak überprüfen und wieder »neutrale« Gelder für Nothilfeprogramme freigeben. Turlan verwies auf das ECHO-Strategiepapier 2006, in dem es heißt: »Die Durchführung der europäischen humanitären Hilfe basiert auf den Prinzipien der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit.« Wer sich diesen fundamentalen Prinzipien verschrieben habe, könne mit Unterstützung seiner Arbeit rechnen. Die »Gewährung humanitärer Hilfe basiert ausschließlich auf der Einschätzung, ob die Bevölkerung Not leidend ist, und nicht auf politischer Zweckdienlichkeit.« Die Iraker litten Not, so Turlan. »Sie sterben zu Tausenden, Millionen haben das Land verlassen, sie brauchen schnelle, unparteiische und flexible Hilfe.«

Bei ECHO in Brüssel sieht man das anders. »Irak gehört nicht zu den wichtigsten humanitären Krisengebieten«, sagt Amadeu Altafaj, Sprecher des zuständigen EU-Kommissars Louis Michel, gegenüber ND. Es gebe keinen Hunger in Irak, der Markt funktioniere, ist Altafaj überzeugt. Von einer Notlage könne nicht gesprochen werden. Im Übrigen habe ECHO in Libanon geholfen und gehöre zu den größten Gebern in den Palästinensergebieten. 90 Prozent des entsprechenden Haushalts seien damit ausgeschöpft. Die irakische Regierung verfüge über eigene Ressourcen für humanitäre Hilfsprogramme, die Nichtregierungsorganisationen sollten sich an diese halten. Außerdem sei es Aufgabe der in Irak »involvierten« Staaten, ihre Hilfsprogramme dort zu aktivieren. Auch dorthin könnten sich die Organisationen wenden. Auch wenn es Altafaj nicht offen aussprach, meinte er damit die USA und Großbritannien. Die USA-Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) ist in Irak zwar tätig, für unabhängige Hilfsorganisationen aber kein Ansprechpartner, erklärt Cedric Turlan: »Sie arbeiten unter bewaffnetem Schutz und sind Teil des Konflikts.«

Das Mindeste sei eine Unterstützung »aus der Ferne«, wobei irakische Organisationen durch europäische Partner »von einem sicheren Ort« aus unterstützt werden könnten, erläutert Cedric Turlan. Die Aufforderung von ECHO-Sprecher Altafaj, sich an die irakische Regierung zu wenden, hält Turlan für wenig hilfreich. »Die Regierung in Bagdad weigert sich, den humanitären Ausnahmezustand zu erklären, weil sie damit ihre politische Schwäche zugeben und international ihre Glaubwürdigkeit verlieren würde.«

* Aus: Neues Deutschland, 13. November 2006


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