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Das Nach-Saddam-Problem

Mit der "Irakischen Opposition" ist kein Staat zu machen

Von Dilip Hiro*

Am 14./15. Dezember fand in London, nachdem es zuvor mehrmals verschoben worden war, ein von den USA gesponsertes Treffen irakischer Oppositionsgruppen und Einzelpersonen statt. Die von den rund 330 Delegierten angenommenen Hauptentschließungen dieser "Irakischen Offenen Oppositions-Konferenz" bekräftigten die schon oft bekundete Entschlossenheit, Saddam Hussein zu stürzen und im Irak die Demokratie einzuführen.
"Nicht die oppositionellen Iraker, sondern die Amerikaner brauchten dieses Meeting, sie wollten unbedingt zeigen, dass sie breiten Rückhalt bei verschiedenen Oppositionsgruppen haben", meint Dr. Mustafa Alani vom Londoner Royal United Services Institute. "Die Einheitsshow, die die Oppositionsführer produzierten, wird eine kurzlebige Angelegenheit bleiben. Sie werden in ihren Veröffentlichungen auch künftig wieder den Angriffen gegeneinander mehr Platz einräumen als dem auf Saddam."

Vor Konferenzbeginn räumte selbst Kanan Makiya ein (er ist der Vorsitzende des vom US-amerikanischen Außenministerium ausgehaltenen Komitees, das das Dokument "Der Übergang zur Demokratie im Irak" herausgeben hat), dass "von keiner der arabisch-irakischen Organisationen der Szene erwiesen ist und gesagt werden kann, das sie wirklich repräsentativ sei". Die meisten unparteiischen Irakis in London bewerteten diese US-finanzierte Übung als einen nur schwach verhüllten Versuch des Weißen Hauses, sich ein politisches Mäntelchen für eine Irak-Invasion zu verschaffen.

Eine Konferenz ohne Sunniten

Wie Alani feststellt, "nahm an der Konferenz, außer Sharif Ali bin al Hussein [von der Bewegung für eine Konstitutionelle Monarchie], nicht ein einziger Politiker der arabischen Sunniten teil, obwohl die Sunniten ein Drittel der arabischen Bevölkerung stellen." Die Abwesenheit von Sunniten, die den Irak seit 1638 regiert haben - zuerst als Teil des (sunnitischen) Osmanischen Reiches, dann, von 1932 bis heute, als unabhängigen Staat - lässt Unruhen in der Zeit nach Saddam bereits vorausahnen, wenn ein gestärkte schiitische Mehrheit versuchen dürfte, alte Rechnungen mit den Sunniten zu begleichen. Und mehr noch, wie andere herrschende Klassen und ethnische Gruppen in der Geschichte werden die Sunniten die Macht wohl kaum kampflos aufgeben - und sind deshalb eine Kraft, mit der in jedem Nach-Saddam-Irak gerechnet werden muss.

In Wirklichkeit war ein Großteil der Oppositionsdebatten - ob nun eine provisorische Regierung gebildet werden soll oder nicht, und ob für die Auswahl der Führung Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit oder Verdienste ausschlaggebend sein sollen - nichts als heiße Luft. Diese Optionen basieren auf dem Schicksal Saddams. Über das entscheidet das Pentagon. Und Zusammenkünfte wie die von London werden an dessen Plänen nicht ein Jota ändern.

Das optimistische Drehbuch

Das optimistische Drehbuch des Pentagon sieht so aus: Saddams Militär ergibt sich nach zwei oder drei Wochen ununterbrochener Bombardements oder desertiert massenhaft, die Operation kostet 1,5 bis 3 Mrd. Dollar pro Woche, und die Bevölkerung heißt die amerikanischen Soldaten als "Befreier" willkommen. Die Kürze des Konflikts sorgt für Einigkeit in den Rängen der Opposition. Der Ausfall des irakischen Öls - heute 2 bis 2,5 Prozent der Weltförderung - wird durch Saudi-Arabien reichlich kompensiert, dessen Ersatzkapazität 6 Prozent der Weltmenge ausmacht, und die irakischen Ölfelder bleiben unbeschädigt.

Die militärische Logik hinter diesem Szenarium, das die kriegswütigen zivilen Bosse des Pentagon in unterschiedlicher Aufmachung zur Beruhigung der amerikanische Öffentlichkeit verbreiten, basiert in erster Linie auf Aussagen irakischer Überläufer. Auf derartige Quellen ist bekanntlich kein Verlass; was die USA angeht, ist das glänzendste Beispiel dafür das Schweinebucht-Fiasko in Kuba 1961, bei dem sich die CIA auf Fehlinformationen von Überläufern stützte. Gerade im Fall des Irak spielen solche Falschinformationen eine große Rolle, wie ein britischer Anwalt irakischer Herkunft darlegte, in London, wo mehr Exil-Iraker leben als in allen andern Städten und Staaten zusammen. "Wenn diese Iraker auf einem westlichen Flughafen ankommen, wollen sie politisches Asyl", meint er. "Deshalb müssen sie ihre Wichtigkeit nachweisen, und dass sie sich so ernsthaft gegen das Saddam-Regime betätigt haben, dass sie im Fall ihrer Rückkehr eingekerkert, gefoltert und exekutiert würden. Deshalb lügen diese Kerle. Und mit der Zeit werden sie regelrechte Experten in der Erfindung von Geschichten." Auf diesem Fundament hat die US-amerikanisch-britische Allianz in den letzten 12 Jahren das Gebäude der "Erkenntnisse" errichtet, auf das sich das sonnige Drehbuch des Pentagon stützt.

Dieses Drehbuch ignoriert auch zwei wichtige Tatsachen der jüngsten irakischen Geschichte. Erstens ist da der ausgeprägten Nationalismus der Iraker, der während des achtjährigen Kriegs gegen den Iran noch vergrößert wurde. Zweitens machen die Iraker für die Sanktionen, die sie zur Armut verurteilt haben, fast ausnahmslos Washington verantwortlich. Gehe ich von den Äußerungen einfacher Leute aus, die ich während meines Besuchs im Irak im Jahr 2000 zu hören bekam, sitzen der Groll und die Feindschaft gegenüber Amerika und den Amerikanern so tief, dass sich die Masse der Iraker schlechthin nicht vorstellen kann, aus Washington könnte irgendetwas für sie Gutes kommen - und schon gar nicht nach einer massiven Bombardierung ihres geschwächten Landes und ihrer geschwächten Gesellschaft durch die USA. Sie werden deshalb die erobernden US-Soldaten kaum mit der Wärme empfangen, die das Pentagon erwartet.

Am 19. November erlitt das "Irakisches Militär desertiert massenhaft"-Drehbuch einen empfindlichen Rückschlag. An diesem Tag nahmen die dänischen Behörden den in Soroe lebenden Nizar al Khazaraji fest, den früheren (sunnitischen) Stabschef der irakischen Armee. Ihm werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angelastet, die er 1988 während des Anfal-Feldzugs gegen die Kurden begangen haben soll: Massenexekutionen, völlige Zerstörung zahlloser Dörfer und Einsatz chemischer Waffen, mit rund 100.000 Toten. Ehe er 1996 überlief, war Khazaraji ein Sonderberater Saddams, nachdem er ihm von 1987-1990 als Stabschef des Heeres gedient hatte. "Seine Festnahme wird es wesentlich schwerer machen, andere [irakische] Offiziere zum Überlaufen zu bewegen, wenn sie befürchten müssen, ebenfalls belastet zu werden", sagte ein Oppositionspolitiker. Khazaraji wurde zwar gegen Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt, doch mit der Auflage, in Dänemark zu bleiben, bis die Sonderermittlerin Brigitte Vestberg ihre Untersuchungen abgeschlossen hat. Sie zeigt sich von Khazarajis Behauptung, er sei ein Opfer falscher Beschuldigungen durch Agenten Saddams, ebenso unbeeindruckt wie davon, dass sie anglo-amerikanischen geopolitischen Pläne, in denen Khazaraji als neuer Führer des Irak figurieren könnte, wahrscheinlich durcheinander bringt. Ihre einzige Aufgabe sei, sagt sie, herauszufinden, ob er die behaupteten Verbrechen begangen hat, und das könne ein Jahr oder länger dauern.

Es gibt weitere Probleme. General Najib al Salhi, Führer der US-gesponserten Irakischen Militär-Allianz, sagte, die Drohung des Pentagon, die konventionellen Waffen des Irak zu zerstören, würde Militärs, die anders einem von den USA erzwungenen Regimewechsel aufgeschlossen gegenüber stehen könnten, möglicherweise abschrecken. Andere Generale warnten vor einer Säuberung der Armee von Anhängern Saddams und prophezeiten einen Rückschlag für den Fall, dass höhere irakische Offiziere willkürlich verhaftet würden.

Das pessimistische Szenarium

Am anderen Ende des Pentagon-Spektrums liegt sein pessimistisches Szenarium. Es geht davon aus, dass es zu heftigen Kämpfen in den Städten des Irak kommt, wo jeder Haushalt ein Gewehr hat, und dass der Krieg mehrere Monate dauert. Während der Kämpfe werden die Ölquellen des Irak in Brand gesetzt und andere in der Region von saddamistischen Saboteuren beschädigt; im ganzen Mittleren Osten kommt es zu Unruhen, und die Leichensäcke mit US-Soldaten nähren die Antikriegsbewegung in Amerika.

George W. Bush seinerseits lässt sich davon nicht beunruhigen, getreu seiner Erklärung neulich gegenüber Bob Woodward, dass er als Präsident "das Kalzium im Rückgrat" Amerikas sei. Seine Administration stellt sich auf eine langanhaltende Besetzung des Irak und dessen Wiederaufbau ein, zu Kosten in Höhe von 160 Milliarden Dollar jährlich, laut dem Yale-Ökonomen William Nordhaus.

Selbst wenn das Worst-case-Szenarium nicht eintritt, bleibt eine militärische Besetzung des Irak eine ernsthafte Option, wobei hohe Regierungsbeamte häufig auf die US-Besetzung Japans unter General Douglas MacArthur in den Jahren 1945-52 anspielen. Sie übersehen dabei leichtfertig die zahlreichen Unterschiede zwischen dem Nachkriegs-Japan von 1945 und einem Nachkriegs-Irak 2003. Japan hatte unter Kaiser Hirohito, der traditionellerweise mit der Sonne in Verbindung gebracht und deshalb als Halbgott verehrt wurde, bedingungslos kapituliert, und der Kaiser hatte die Sieger persönlich bestätigt und es damit MacArthur ermöglicht, auf dem Verordnungswege eine sorgfältig entworfene politische Strategie umzusetzen. Es gibt weder Anzeichen dafür, dass Saddam Hirohitos Beispiel folgen wird, noch dass das Weiße Haus unter Bush sich viel Gedanken über eine solche Strategie gemacht hat. Außerdem konnte MacArthur die gesamte administrative Infrastruktur Kaiser Hirohitos übernehmen, die Reform des politischen, ökonomischen und Bildungssystems ging daher ohne Reibungen voran. Niemand erwartet, dass die Institutionen des Baath-Regimes im Irak Saddams Niederlage überleben würden. Deshalb wird jegliche Reform schwer durchzusetzen sein.

Obwohl die Überwachung der politischen Beschlüsse Aufgabe der japanischen Behörden war, stationierte Washington 100.000 Mann, um die Reformen in Japan umzusetzen. Die US-Planer fassen jetzt die Stationierung von 75.000 bis 100.000 Mann bei Kosten von 16 Milliarden Dollar pro Jahr ins Auge. Das ist unrealistisch. In Nordirland, mit einer Bevölkerungszahl von 1,7 Millionen, stationierte die britische Regierung 20.000 Soldaten; hinzu kamen loyale bewaffnete Polizeieinheiten und eine Armeereserve in gleicher Stärke, so dass also insgesamt 60.000 Mann aufgeboten wurden, um etwa 1.000 Mitglieder der IRA in Schach zu halten von denen jeweils die Mehrzahl im Gefängnis saß. Zudem überwog die loyalistische protestantische Mehrheit die rebellische katholische Bevölkerung im Verhältnis von 2 zu 1.

Anders als das hochgradig homogene Japan ist der Irak eine heterogene Gesellschaft. Die traditionellen religiösen, ethnischen und Stammesfeindschaften werden im Nachkriegs-Irak ausbrechen, sobald die eiserne Faust Saddams entfernt ist, und entlang der ethnischen und religiösen Trennlinien wird es zu bürgerkriegsähnlichen Konflikten kommen, am schlimmsten wohl in der mesopotamischen Ebene, wo sowohl Sunniten als auch Schiiten leben.

Schließlich verfügt Japan über keine [vergleichbaren] Bodenschätze und hat keine Landgrenzen. Der Irak dagegen besitzt die zweitgrößten Ölvorkommen der Welt, ist umgeben von sechs zudringlichen Nachbarn, deren jeder seine eigenen Pläne verfolgt, und liegt in der seit dem zweiten Weltkrieg unbeständigsten und gewalttätigsten Region der Erde.

Die Türkei hat ihr Auge auf die Ölregion von Kirkuk im Nordirak geworfen. Das saudische Königshaus will verhindern, dass die Infektion der "Demokratie nach Art des Westens" im Irak Fuß fasst und dann auf ihr Königreich überspringt. Der Iran möchte, dass seine schiitischen Glaubensgenossen sich auf Kosten der sunnitischen Minderheit durchsetzen. Syrien wird alles in seiner Macht Stehende tun, damit die neuen Herrscher in Bagdad nicht zu Vasallen Washingtons werden.

Ein Zwischenszenarium

Schließlich gibt es ein Zwischen-Szenarium, wonach die Kämpfe bis zu drei Monaten andauern. Das wird die fragile Einheit unter den Oppositionsgruppen stark belasten; und wenn auf den arabischen und muslimischen Fernsehkanälen der Tod und die Zerstörung irakischer Muslime zu sehen ist, wird eine weitere Mitgliedschaft des in Teheran ansässigen Obersten Rats der Islamischen Revolution im Irak (SCIRI) in der US-gesponserten Opposition unmöglich werden. Die Beobachter sind sich darin einig, dass die SCIRI-Kleriker lediglich sicher gehen wollen, ihren Anteil an der Macht zu bekommen, falls Saddam gestürzt wird. Alani meint: "Diese opportunistische Allianz - eine von den USA ausgehaltene Allianz unter Einschluss einer Organisation, die ‹Islamische Revolution› in ihrem Namen führt - macht den Vereinigten Staaten wohl mehr Probleme als dem Iran oder SCIRI."

Freilich wissen Leute mit Zugang zur Administration von Bush Jr. sehr gut, dass letztlich der Puppenspieler zählt, und nicht die Puppe. Oder, wie ein gut platzierter Beobachter bei der Londoner Konferenz sagte: "Achtzig Prozent der Leute hier werden in einer Nach-Hussein-Regierung nicht die geringste Rolle spielen." Zu dieser Zahl sollte man wahrscheinlich weitere 19 Prozent hinzuaddieren.

* Publizist. Autor der Wichenzeitung "The Nation".

Aus der US-amerikanischen Zeitschrift "The Nation" vom 6. Januar 2003. Übersetzt von Hermann Kopp.

Die deutsche Übersetzung erschien in der Zeitschrift "Marxistische Blätter", "Special": Irak-Krieg. Das angekündigte Verbrechen, (Februar) 2003, S. 28-31


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