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Iraker befrieden Iraker

Militärs und Politiker aus der Baath-Partei Saddam Husseins dürfen wieder Verantwortung übernehmen

Von Ferhad Ibrahim*

William Quandt, in den späten siebziger Jahren Berater des Präsidenten James Earl Carter und in jener Zeit einer der Architekten des israelisch-ägyptischen Friedensvertrages von 1979, kritisierte jüngst in auffallend harscher Weise die Irak- und Nahost-Politik von George Bush. Der Präsident, so Quandt, habe Visionen über die rasche Demokratisierung eines arabischen Staates mit der Realität verwechselt. Er habe geglaubt, man könne die UNO bei einem solch fundamentalen Wandel getrost vernachlässigen - ein fataler Irrtum, etwas mehr Realitätssinn im Weißen Haus sei wünschenswert. Quandt übersah, dass Paul Bremer, Bushs Mann in Bagdad, nicht nur der Ruf vorauseilt, ein professioneller Diplomat zu sein, sondern auch als Realpolitiker zu handeln. Bremer hat inzwischen einen beachtlichen Anteil an den ständigen Korrekturen der Irak-Politik seines Präsidenten, wie sie seit Wochen zu beobachten sind.

Bremer war noch nicht im Amt, als sofort nach dem Ende des Irak-Krieges am 10. April 2003 die Entscheidung fiel, die irakische Armee, Polizei und Verwaltung aufzulösen. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich spätestens im Sommer 2003 zeigen sollte, als es zu solch verheerenden Anschläge wie am 19. August auf das UN-Hauptquartier in Bagdad oder zu ersten ernst zu nehmenden Gefechten zwischen der Guerilla und den Besatzungstruppen kam. Was später alle Beobachter feststellten, ließ sich schon zu diesem Zeitpunkt mühelos erkennen: im Irak war nicht nur die Regierung, sondern der ganze Staat zerfallen.

Vor dem Feldzug hatte es in Washington viel Gerede über ein "Modell Japan" gegeben, das man auf den Irak zu übertragen gedenke. Man erinnerte sich der Demokratisierung totalitärer Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg, und man scheute sich nicht, in verblüffender Weise schematisch zu denken. Heute will niemand mehr auch nur ansatzweise Parallelen zwischen Japan 1945 und dem Irak 2004 erkennen. Auch Osteuropa wurde als Raster bemüht, wenn darüber spekuliert wurde, wie sich die Iraker nach dem Ende der Diktatur einen demokratischen Musterstaat geben könnten.

Nation-Building - mit welcher Armee?

Irakische Politiker selbst waren nicht frei von Illusionen. Als die größten Exilparteien Ende 2002 in London zum letzten Mal vor dem Sturz Saddams zusammen kamen, wurden ethnisch-konfessionelle Animositäten ausgeklammert. Auch der Islamismus schien keine Gefahr zu sein. Gruppierungen wie der Supreme Council of Islamic Revolution (SCIRI), die irakischen Muslimbrüder oder die Hizb al-Dawa al-Islamiya (Dawa-Partei) galten als Parteigänger eines moderaten Islam und als stark genug, militante Prediger abzuwehren - es sollte gerade in dieser Hinsicht anders kommen.

Der formierte Widerstand gegen die Besatzungsmacht wird heute durch eine lockere Allianz getragen, die von Kräften des alten Systems, besonders im sunnitischen Dreieck, bis zu internationalen "Jihadisten" reicht, die sich aus der gesamten arabisch-islamischen Welt rekrutieren. Für die Besatzungsmacht ist es derzeit nahezu ausgeschlossen, diese amorphe Koalition zu besiegen. Es verbietet sich - allein schon aus politischen Gründen -, zum vernichtenden Militärschlag gegen die Widerständler auszuholen. Paul Bremer blieb in dieser Situation keine andere Wahl, als die Notbremse zu ziehen und eine zunächst verblüffende Entscheidung zu treffen: ehemalige Angehörige der Baath-Partei Saddams, vorzugsweise Militärs, werden am "Stabilisierungsprozess" beteiligt.

Als im Herbst 2003 ein UN-Emissär in Bagdad - der aus dem Libanon stammende Sorbonne-Professor Ghassan Salamé - in ähnlicher Weise zur Einbindung der entmachteten Eliten geraten hatte, hörte er aus dem Provisorischen Regierungsrat erbitterte Kritik. Man verdächtigte ihn gar der geistigen Verwandtschaft mit dem gestürzten Diktator. Nun also - kurz vor dem 30. Juni - hat Paul Bremer diesen Trumpf selbst gespielt. Es ist noch zu früh, um die Frage beantworten zu können, ob der Beschluss richtig war. Nur, was sollte Bremer anderes tun, als vor der geplanten "Machtübergabe" mit Blick auf die Sunniten in Falludscha und die schiitischen Kampfgruppen des Muqtada al-Sadr in al-Najaf zu deeskalieren und einem Ex-General Saddams ein Befriedungsmandat zu erteilen?

Irakische Politiker in Bagdad bestreiten die Notwendigkeit, just in diesem Augenblick ehemalige Baathisten in den neuen Staat zu integrieren. Doch auch den Kritikern Paul Bremers müsste bekannt sein, dass die "neue" irakische Armee weit davon entfernt ist, eine effektive Streitmacht zu sein. Als die US-Besatzungsmacht einige Einheiten zur Intervention in Falludscha aufforderte, weigerten sich Soldaten und Offiziere, dies zu tun. Auch künftig dürfte es bei dieser Haltung bleiben. Nur ein Indiz dafür, dass am 30. Juni mit der formalen Übergabe der Macht an irakische Politiker die Agonie des irakischen Staates längst nicht beendet oder gar ein erfolgreiches Nation-Building in Sicht ist.

Lakhdar Brahimi - Retter in Not?

Anders als im Westen gelegentlich suggeriert, ist Lakhdar Brahimi als Sondergesandter des UN-Generalsekretär bei seinen irakischen Gesprächspartnern in Bagdad nicht durchweg akzeptiert. Das Misstrauen gilt sowohl der Person als auch um deren Auffassungen über die Rolle der politischen Kräfte des Irak nach dem 30. Juni.

Es sind besonders Schiiten, die Brahimi vorwerfen, als ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der Arabischen Liga enge Kontakte mit dem Baath-Regime unterhalten zu haben. Muhammad Bahr al-Ulum, der für die Schiiten im Regierungsrat sitzt und dafür bekannt ist, die Meinung der etablierten Geistlichkeit zu vertreten, bestritt vor kurzem grundsätzlich, dass Brahimi legitimiert sei, in Bagdad zu verhandeln. Die Debatte um die Integrität des UN-Diplomaten schien zusätzlich entfacht, als durch eine Indiskretion bekannt wurde, dass Ahmad Chalabi - als Chef des Iraqi National Congress (INC) bis April 2003 einer der maßgebenden irakischen Politiker im Exil - in der neuen Regierung, an deren Nominierung Brahimi beteiligt ist, nicht vertreten sein wird.

Sowohl in den schiitischen wie auch den kurdischen Parteien kursiert die Befürchtung, Kofi Annans Sonderemissär wolle den alten arabisch-nationalistischen und sunnitischen Staat wieder aufleben lassen. Andererseits sind die Vereinten Nationen für die US-Zivilverwaltung in der Phase des Übergangs zwischen Juni 2004 und Januar 2005, wenn es Wahlen geben soll, ein ungemein wichtiger Partner. Brahimi gilt als Hoffnungsträger, der wieder für mehr Stabilität sorgen könnte. Fast so etwas wie ein Retter in der Not, der nicht zuletzt auch weiß, dass die Formierung der neuen Irak-Regierung für die UNO eine Feuertaufe ist, mit der sich für die künftige Präsenz der Weltorganisation im Epizentrum einer Krisenregion viel entscheiden wird.

* Ferhad Ibrahim ist Professor für Politik und Zeitgeschichte des Vorderen Orients an der FU Berlin und arbeitet zur Zeit im Irak.

Aus: Freitag 21, 14. Mai 2004



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